Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.Rußland den Wettbewerber um Indien, Mesopotamien, Persien und Konstantinopel los zu Aus dieser Konstellation nun erklärt sich das Bestreben der Entente, 10*
Rußland den Wettbewerber um Indien, Mesopotamien, Persien und Konstantinopel los zu Aus dieser Konstellation nun erklärt sich das Bestreben der Entente, 10*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0123" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336413"/> <fw type="header" place="top"> Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_414" prev="#ID_413"> den Wettbewerber um Indien, Mesopotamien, Persien und Konstantinopel los zu<lb/> sein, dann aber auch, ein Ziel, das sich erst während des Krieges ergeben hat,<lb/> um die Ostsee beherrschen zu können. Die Franzosen dagegen, denen die dauernde<lb/> Bindung an England mit Recht Beklemmungen verursacht und die eine enge<lb/> Verbindung mit Amerika trotz aller Studien- und Propagandamissionen immer<lb/> mehr ins Unerreichbare schwinden sehen, rechnen durchaus mit einer künftigen<lb/> Wiederaufnahme des Zweibundes, um Deutschland, das noch immer gefürchtet«,<lb/> in Schach halten zu können. Allerdings kann niemand behaupten, daß diese<lb/> Politik in Frankreich gerade mit zielbewußtem Weitblick angebahnt wird. Wohl<lb/> undrstützt man nach Kräften die russischen Komitees in Paris und tritt nach¬<lb/> drücklich, wenn such nach dem unglücklichen Odessaabenteuer meist nur mit Worten,<lb/> für Unterstützung Denikins, Koltschaks und Judenitschs ein. Aber diese Politik<lb/> wird abgeschwächt durch die Verwirklichung der sogenannten Barrierenpolitik,<lb/> des Gedankens von der Ostsee bis zum Balkan einen Damm gegen den Bolsche¬<lb/> wismus zu errichten, dessen Mittelstück ein kräftices Polen und dessen End¬<lb/> bastionen womöglich in Finnland einer- und in Rumänien andrerseits gelegen<lb/> waren. Ganz abgesehen davon, daß dieser Damm in sich wenig Konsistenz zeigt,<lb/> indem nämlich die Lage im Baltikum verworren ist, die Litauer mit den Polen,<lb/> die Polen mit den Tschechen und Ukrainern sich streiten und Ungarn ständig eine<lb/> bedrohliche, unsichere Einbruchsstelle zu bilden scheint, hätte man sich aber in<lb/> Frankreich sagen müssen, daß die Begünstigung eines großen Polens unvereinbar<lb/> ist mit der Wiederherstellung der Macht dis einstigen Bunde?genossen. Es<lb/> zeigt sich hier, daß der Bolschewismus den westlichen Völkern eine Zeitlang ihre<lb/> Konzeption der Weltpolitik völlig verschoben hat, die unmittelbare Gefahr warf<lb/> alle großen bisher eingehaltenen Richtlinien über den Haufen. Daher auch das<lb/> Doppelspiel der englischen Politik, die im Frühling einem Frieden mit den<lb/> Bvlschewisten nicht abgeneigt war und jetzt im Norden eine Politik befolgt, die<lb/> mit der im Süden in unvereinbarem Widerspruch steht. Man kann nicht Nand-<lb/> staatenpolitik und Wiederherstellung Rußlands zugleich anstreben, selbst der unter¬<lb/> stützungsbedürftige Koliscbak ist der Frage nach Anerkennung der Raubstaaten<lb/> vo»sichtig ausgewichen (siehe Grenzboten Heft 31). Dennoch wäre es voreilig zu<lb/> behaupten, die englische Politik wisse in bezug aus das russische Problem nicht,<lb/> was sie eigentlich wolle. Sie geht im Gegenteil ganz zielbewußt darauf aus,<lb/> sich in ganz Rußland möglichst viele Vorteile zu sichern. So wird Estland in<lb/> ein englisches Protektorat umgewandelt, so hat die neugebildete nordwestrussische<lb/> Negierung Lianosows, der man einen Spezialkredit zum Ankauf von natürlich<lb/> englischen Maschinen und Rohstoffen in Aussicht stellte, versprechen müssen, nicht<lb/> nur ein besonders englisches Interesse im Baltikum, sondern auch alle mit Koltschak<lb/> und Denitin getroffenen Abkommen anzuerkennen, sowie nach dem Fall von<lb/> Petersburg völliges russisches Desinteresse an Persien zu erklären, so ist Judeniisch<lb/> völlig geknebelt worden, weshalb offenbar Vermont sich von ihm losgesagt hat,<lb/> während andrerseits auch Denikin die Unterstützung Englands ganz gewiß nicht<lb/> umsonst, sondern nur gegen Einräumung sehr bedeutender wirtschaftlicher Vorteile<lb/> in Kaukasien, am Schwarzen und Kaspischen Meer bekommen und die Revaler<lb/> Konferenz beschlossen hat, keinen Friedensschritt den Bolschewiken gegenüber ohne<lb/> Vorwissen der Entente d. h Englands zu tun. Die englische Politik geht aber<lb/> deutlich darauf hinaus, sich durch Unterstützung der einzelnen russisch n Macht¬<lb/> faktoren möglichst viele Vorteile zu sichern und unter allen Umständen zu<lb/> verhindern, daß diese Abkommen von dem endlich die Oberhand behaltenden<lb/> Einzelfaktor für unverbindlich erklärt werden könnten. Wer sich heute in Nußland<lb/> gegen d>e Bolschewiken durchsetzen will, kann dies nur mit Hilfe Englands tun,<lb/> und wird sich, sowie er Miene machen sollte, sich von der englischen Danaei Hilfe<lb/> zu emanzipieren, sogleich einen neuen Prätendenten um die Macht gegenüber<lb/> gestellt sehen.</p><lb/> <p xml:id="ID_415" next="#ID_416"> Aus dieser Konstellation nun erklärt sich das Bestreben der Entente,<lb/> Deutschland im Kampf gegen die Bolschewisten möglichst auszuschalten, wobei die</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 10*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0123]
Rußland
den Wettbewerber um Indien, Mesopotamien, Persien und Konstantinopel los zu
sein, dann aber auch, ein Ziel, das sich erst während des Krieges ergeben hat,
um die Ostsee beherrschen zu können. Die Franzosen dagegen, denen die dauernde
Bindung an England mit Recht Beklemmungen verursacht und die eine enge
Verbindung mit Amerika trotz aller Studien- und Propagandamissionen immer
mehr ins Unerreichbare schwinden sehen, rechnen durchaus mit einer künftigen
Wiederaufnahme des Zweibundes, um Deutschland, das noch immer gefürchtet«,
in Schach halten zu können. Allerdings kann niemand behaupten, daß diese
Politik in Frankreich gerade mit zielbewußtem Weitblick angebahnt wird. Wohl
undrstützt man nach Kräften die russischen Komitees in Paris und tritt nach¬
drücklich, wenn such nach dem unglücklichen Odessaabenteuer meist nur mit Worten,
für Unterstützung Denikins, Koltschaks und Judenitschs ein. Aber diese Politik
wird abgeschwächt durch die Verwirklichung der sogenannten Barrierenpolitik,
des Gedankens von der Ostsee bis zum Balkan einen Damm gegen den Bolsche¬
wismus zu errichten, dessen Mittelstück ein kräftices Polen und dessen End¬
bastionen womöglich in Finnland einer- und in Rumänien andrerseits gelegen
waren. Ganz abgesehen davon, daß dieser Damm in sich wenig Konsistenz zeigt,
indem nämlich die Lage im Baltikum verworren ist, die Litauer mit den Polen,
die Polen mit den Tschechen und Ukrainern sich streiten und Ungarn ständig eine
bedrohliche, unsichere Einbruchsstelle zu bilden scheint, hätte man sich aber in
Frankreich sagen müssen, daß die Begünstigung eines großen Polens unvereinbar
ist mit der Wiederherstellung der Macht dis einstigen Bunde?genossen. Es
zeigt sich hier, daß der Bolschewismus den westlichen Völkern eine Zeitlang ihre
Konzeption der Weltpolitik völlig verschoben hat, die unmittelbare Gefahr warf
alle großen bisher eingehaltenen Richtlinien über den Haufen. Daher auch das
Doppelspiel der englischen Politik, die im Frühling einem Frieden mit den
Bvlschewisten nicht abgeneigt war und jetzt im Norden eine Politik befolgt, die
mit der im Süden in unvereinbarem Widerspruch steht. Man kann nicht Nand-
staatenpolitik und Wiederherstellung Rußlands zugleich anstreben, selbst der unter¬
stützungsbedürftige Koliscbak ist der Frage nach Anerkennung der Raubstaaten
vo»sichtig ausgewichen (siehe Grenzboten Heft 31). Dennoch wäre es voreilig zu
behaupten, die englische Politik wisse in bezug aus das russische Problem nicht,
was sie eigentlich wolle. Sie geht im Gegenteil ganz zielbewußt darauf aus,
sich in ganz Rußland möglichst viele Vorteile zu sichern. So wird Estland in
ein englisches Protektorat umgewandelt, so hat die neugebildete nordwestrussische
Negierung Lianosows, der man einen Spezialkredit zum Ankauf von natürlich
englischen Maschinen und Rohstoffen in Aussicht stellte, versprechen müssen, nicht
nur ein besonders englisches Interesse im Baltikum, sondern auch alle mit Koltschak
und Denitin getroffenen Abkommen anzuerkennen, sowie nach dem Fall von
Petersburg völliges russisches Desinteresse an Persien zu erklären, so ist Judeniisch
völlig geknebelt worden, weshalb offenbar Vermont sich von ihm losgesagt hat,
während andrerseits auch Denikin die Unterstützung Englands ganz gewiß nicht
umsonst, sondern nur gegen Einräumung sehr bedeutender wirtschaftlicher Vorteile
in Kaukasien, am Schwarzen und Kaspischen Meer bekommen und die Revaler
Konferenz beschlossen hat, keinen Friedensschritt den Bolschewiken gegenüber ohne
Vorwissen der Entente d. h Englands zu tun. Die englische Politik geht aber
deutlich darauf hinaus, sich durch Unterstützung der einzelnen russisch n Macht¬
faktoren möglichst viele Vorteile zu sichern und unter allen Umständen zu
verhindern, daß diese Abkommen von dem endlich die Oberhand behaltenden
Einzelfaktor für unverbindlich erklärt werden könnten. Wer sich heute in Nußland
gegen d>e Bolschewiken durchsetzen will, kann dies nur mit Hilfe Englands tun,
und wird sich, sowie er Miene machen sollte, sich von der englischen Danaei Hilfe
zu emanzipieren, sogleich einen neuen Prätendenten um die Macht gegenüber
gestellt sehen.
Aus dieser Konstellation nun erklärt sich das Bestreben der Entente,
Deutschland im Kampf gegen die Bolschewisten möglichst auszuschalten, wobei die
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