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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Zst Bismarck durch den Weltkrieg widerlegt worden?

Veith 1895 dem ^Deutschen Kaiser eine Teilung der Türkei angeboten.Hätte"
wir durch eine viel großzügigere innere Kolonisation die Abwanderung nach den
Städten eingedämmt und die treibhausartige Entwicklung der Exportindustrie
verlangsamt, so wäre das für unser Volk durchaus kein Unglück gewesen.

Wenn endlich gegen das deutsch-englische Bündnis die Volksstimmung an¬
geführt wird, so ^t darauf zu erwidern, daß diese Volksstimmung durch das
Krüger-Telegramm genährt worden ist, und das; die Regierung, weil sie eine eng¬
landfeindliche Stimmung für die Durchsetzung ihrer Flottenpiäne gut gebrauchen
konnte, diese nicht mit der nötigen Entschiedenheit' bekämpft hat. Unter Be¬
nutzung der alten liberalen Sympathien für England hätte es sonst nicht schwer
fallen können, die Volksstimmung umzuwerfen. Leider haben wir nicht bloß die
englischen Bündnisangebme abgelehnt, mir haben sogar dreimal eine Verständigung
mit England über Marokko zurückgewiesen. (1893, Januar und August 1901)

Erstrebten wir umgekehrt eine Anlehnung an Nußland, so mußten wir
darauf verzichten, als Schutzherren der Türkei aufzutreten.^) Wir mußten eiuen
Ausgleich zwischen den russischen und österreichischen Balkaninteressen anstreben,
vielleicht in der Weise, daß Osterreich den maßgebenden Einfluß im Westen mit
Saloniki. Rußland den im Osten mit Konstantinopel erhielt. Hat nicht Bismarck
gesagt, Deutschland habe geradezu eine Interesse daran, daß sich Rußland in
Konstantinopel festsetze?^) Nachdem die mit der Thronbesteigung Nikolaus des Zweiten
0894) einsetzende ostasiatische Politik Rußlands, die übrigens niemals populär
gewesen ist, 1905 zusammengebrochen war, mußten wir damit rechnen, daß Ru߬
land sich den Balkanfragen wieder mit erhöhter Tatkraft zuwenden werde, und
wenn wir dann unsere Hand über die Türkei hielten, so trieben wir Rußland
geradezu in die Arme Englands, das nach der entscheidenden Wendung der Jahre
1902/1903 die Türkei dem Gedanken einer deutsch-feindlichen Koalition zu opfern
bereit war. siegte in der russischen Regierung der auf die Zertrümmerung
Österreich-Ungarns gerichtete Panslavismus. so konnte allerdings auch die vor¬
sichtigste Politik Deutschland nicht vor dem Zusammenstoße mit dem Osten be¬
wahren. Um so sorgiältiger hätten wir daher unsere Beziehungen zu England
Wegen müssen. In Wirklichkeit taten wir das verkehrteste, was überhaupt mög¬
lich war. Wir schufen gleichzeitig gegen England und Rußland neue Reibungs¬
flüchen. Aus der Politik der "zwei Eisen im Feuer" wurde eine Politik "zwischen
Äwei Stühlen."

Aber nicht nur die Ziele unserer auswärtigen Politik waren zum Teil falsch,
unsere Politik war auch zu inkonsequent. Nachdem wir durch NichtVerlängerung
"es RückVersicherungsvertrages, den Umschwung in der Polenpolitik und den
Helgoland-Sansibar-Vertrag eine scharfe Wendung von Rußland nach England
gemacht hatten, verscherztcn wir die neu gewonnene Freundschaft wieder durch
unseren Einspruch gegen den Versuch Englands, mittelst eines Stückes des Kongo-
Uaates eine Verbindung zwischen seinen Kolonien im Nord-Osten und Süden
Afrikas herzustellen, durch unser Zusammengehen mit Rußland und Frankreich
gegen England und Japan in Osiosien. durch den törichten Bluff des Krüger-
"'ii'grammes, durch den Bau der Schlachtflottte und die Zurückweisung englischer
^nnäherringsversuche. Die dauernde Freundschaft Rußlands gewannen wir aber
trotzdem nicht wieder zurück. So halfen wir selbst die feindliche Koalition zu-
ilwttnenschmieden.

Vergleicht man unsere Politik vor und nach 1890 miteinander, so erkennt
wem" wieviel vorsichtiger Bismarck war, als die Politiker des Zeitalters Wilhelms
Zweiten. Die Vorstellung von dem Kürassier, der mit brutaler Gewalt






'") Vgl, Eckardstein, a> a. O. S. 18.
Vgl. Hammann a. a. O. S. 140.
Vgl. Meineke. "Probleme des Weltkrieges". S. 79 ff.
"
°, "Gedanken und Erinnerungen, Volksausgabe, Stuttgart und Berlin 1911,
Band. S. 291. 292.
Zst Bismarck durch den Weltkrieg widerlegt worden?

Veith 1895 dem ^Deutschen Kaiser eine Teilung der Türkei angeboten.Hätte»
wir durch eine viel großzügigere innere Kolonisation die Abwanderung nach den
Städten eingedämmt und die treibhausartige Entwicklung der Exportindustrie
verlangsamt, so wäre das für unser Volk durchaus kein Unglück gewesen.

Wenn endlich gegen das deutsch-englische Bündnis die Volksstimmung an¬
geführt wird, so ^t darauf zu erwidern, daß diese Volksstimmung durch das
Krüger-Telegramm genährt worden ist, und das; die Regierung, weil sie eine eng¬
landfeindliche Stimmung für die Durchsetzung ihrer Flottenpiäne gut gebrauchen
konnte, diese nicht mit der nötigen Entschiedenheit' bekämpft hat. Unter Be¬
nutzung der alten liberalen Sympathien für England hätte es sonst nicht schwer
fallen können, die Volksstimmung umzuwerfen. Leider haben wir nicht bloß die
englischen Bündnisangebme abgelehnt, mir haben sogar dreimal eine Verständigung
mit England über Marokko zurückgewiesen. (1893, Januar und August 1901)

Erstrebten wir umgekehrt eine Anlehnung an Nußland, so mußten wir
darauf verzichten, als Schutzherren der Türkei aufzutreten.^) Wir mußten eiuen
Ausgleich zwischen den russischen und österreichischen Balkaninteressen anstreben,
vielleicht in der Weise, daß Osterreich den maßgebenden Einfluß im Westen mit
Saloniki. Rußland den im Osten mit Konstantinopel erhielt. Hat nicht Bismarck
gesagt, Deutschland habe geradezu eine Interesse daran, daß sich Rußland in
Konstantinopel festsetze?^) Nachdem die mit der Thronbesteigung Nikolaus des Zweiten
0894) einsetzende ostasiatische Politik Rußlands, die übrigens niemals populär
gewesen ist, 1905 zusammengebrochen war, mußten wir damit rechnen, daß Ru߬
land sich den Balkanfragen wieder mit erhöhter Tatkraft zuwenden werde, und
wenn wir dann unsere Hand über die Türkei hielten, so trieben wir Rußland
geradezu in die Arme Englands, das nach der entscheidenden Wendung der Jahre
1902/1903 die Türkei dem Gedanken einer deutsch-feindlichen Koalition zu opfern
bereit war. siegte in der russischen Regierung der auf die Zertrümmerung
Österreich-Ungarns gerichtete Panslavismus. so konnte allerdings auch die vor¬
sichtigste Politik Deutschland nicht vor dem Zusammenstoße mit dem Osten be¬
wahren. Um so sorgiältiger hätten wir daher unsere Beziehungen zu England
Wegen müssen. In Wirklichkeit taten wir das verkehrteste, was überhaupt mög¬
lich war. Wir schufen gleichzeitig gegen England und Rußland neue Reibungs¬
flüchen. Aus der Politik der „zwei Eisen im Feuer" wurde eine Politik „zwischen
Äwei Stühlen."

Aber nicht nur die Ziele unserer auswärtigen Politik waren zum Teil falsch,
unsere Politik war auch zu inkonsequent. Nachdem wir durch NichtVerlängerung
»es RückVersicherungsvertrages, den Umschwung in der Polenpolitik und den
Helgoland-Sansibar-Vertrag eine scharfe Wendung von Rußland nach England
gemacht hatten, verscherztcn wir die neu gewonnene Freundschaft wieder durch
unseren Einspruch gegen den Versuch Englands, mittelst eines Stückes des Kongo-
Uaates eine Verbindung zwischen seinen Kolonien im Nord-Osten und Süden
Afrikas herzustellen, durch unser Zusammengehen mit Rußland und Frankreich
gegen England und Japan in Osiosien. durch den törichten Bluff des Krüger-
«'ii'grammes, durch den Bau der Schlachtflottte und die Zurückweisung englischer
^nnäherringsversuche. Die dauernde Freundschaft Rußlands gewannen wir aber
trotzdem nicht wieder zurück. So halfen wir selbst die feindliche Koalition zu-
ilwttnenschmieden.

Vergleicht man unsere Politik vor und nach 1890 miteinander, so erkennt
wem„ wieviel vorsichtiger Bismarck war, als die Politiker des Zeitalters Wilhelms
Zweiten. Die Vorstellung von dem Kürassier, der mit brutaler Gewalt






'») Vgl, Eckardstein, a> a. O. S. 18.
Vgl. Hammann a. a. O. S. 140.
Vgl. Meineke. „Probleme des Weltkrieges". S. 79 ff.
"
°, „Gedanken und Erinnerungen, Volksausgabe, Stuttgart und Berlin 1911,
Band. S. 291. 292.
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[0041] Zst Bismarck durch den Weltkrieg widerlegt worden? Veith 1895 dem ^Deutschen Kaiser eine Teilung der Türkei angeboten.Hätte» wir durch eine viel großzügigere innere Kolonisation die Abwanderung nach den Städten eingedämmt und die treibhausartige Entwicklung der Exportindustrie verlangsamt, so wäre das für unser Volk durchaus kein Unglück gewesen. Wenn endlich gegen das deutsch-englische Bündnis die Volksstimmung an¬ geführt wird, so ^t darauf zu erwidern, daß diese Volksstimmung durch das Krüger-Telegramm genährt worden ist, und das; die Regierung, weil sie eine eng¬ landfeindliche Stimmung für die Durchsetzung ihrer Flottenpiäne gut gebrauchen konnte, diese nicht mit der nötigen Entschiedenheit' bekämpft hat. Unter Be¬ nutzung der alten liberalen Sympathien für England hätte es sonst nicht schwer fallen können, die Volksstimmung umzuwerfen. Leider haben wir nicht bloß die englischen Bündnisangebme abgelehnt, mir haben sogar dreimal eine Verständigung mit England über Marokko zurückgewiesen. (1893, Januar und August 1901) Erstrebten wir umgekehrt eine Anlehnung an Nußland, so mußten wir darauf verzichten, als Schutzherren der Türkei aufzutreten.^) Wir mußten eiuen Ausgleich zwischen den russischen und österreichischen Balkaninteressen anstreben, vielleicht in der Weise, daß Osterreich den maßgebenden Einfluß im Westen mit Saloniki. Rußland den im Osten mit Konstantinopel erhielt. Hat nicht Bismarck gesagt, Deutschland habe geradezu eine Interesse daran, daß sich Rußland in Konstantinopel festsetze?^) Nachdem die mit der Thronbesteigung Nikolaus des Zweiten 0894) einsetzende ostasiatische Politik Rußlands, die übrigens niemals populär gewesen ist, 1905 zusammengebrochen war, mußten wir damit rechnen, daß Ru߬ land sich den Balkanfragen wieder mit erhöhter Tatkraft zuwenden werde, und wenn wir dann unsere Hand über die Türkei hielten, so trieben wir Rußland geradezu in die Arme Englands, das nach der entscheidenden Wendung der Jahre 1902/1903 die Türkei dem Gedanken einer deutsch-feindlichen Koalition zu opfern bereit war. siegte in der russischen Regierung der auf die Zertrümmerung Österreich-Ungarns gerichtete Panslavismus. so konnte allerdings auch die vor¬ sichtigste Politik Deutschland nicht vor dem Zusammenstoße mit dem Osten be¬ wahren. Um so sorgiältiger hätten wir daher unsere Beziehungen zu England Wegen müssen. In Wirklichkeit taten wir das verkehrteste, was überhaupt mög¬ lich war. Wir schufen gleichzeitig gegen England und Rußland neue Reibungs¬ flüchen. Aus der Politik der „zwei Eisen im Feuer" wurde eine Politik „zwischen Äwei Stühlen." Aber nicht nur die Ziele unserer auswärtigen Politik waren zum Teil falsch, unsere Politik war auch zu inkonsequent. Nachdem wir durch NichtVerlängerung »es RückVersicherungsvertrages, den Umschwung in der Polenpolitik und den Helgoland-Sansibar-Vertrag eine scharfe Wendung von Rußland nach England gemacht hatten, verscherztcn wir die neu gewonnene Freundschaft wieder durch unseren Einspruch gegen den Versuch Englands, mittelst eines Stückes des Kongo- Uaates eine Verbindung zwischen seinen Kolonien im Nord-Osten und Süden Afrikas herzustellen, durch unser Zusammengehen mit Rußland und Frankreich gegen England und Japan in Osiosien. durch den törichten Bluff des Krüger- «'ii'grammes, durch den Bau der Schlachtflottte und die Zurückweisung englischer ^nnäherringsversuche. Die dauernde Freundschaft Rußlands gewannen wir aber trotzdem nicht wieder zurück. So halfen wir selbst die feindliche Koalition zu- ilwttnenschmieden. Vergleicht man unsere Politik vor und nach 1890 miteinander, so erkennt wem„ wieviel vorsichtiger Bismarck war, als die Politiker des Zeitalters Wilhelms Zweiten. Die Vorstellung von dem Kürassier, der mit brutaler Gewalt '») Vgl, Eckardstein, a> a. O. S. 18. Vgl. Hammann a. a. O. S. 140. Vgl. Meineke. „Probleme des Weltkrieges". S. 79 ff. " °, „Gedanken und Erinnerungen, Volksausgabe, Stuttgart und Berlin 1911, Band. S. 291. 292.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/41>, abgerufen am 18.12.2024.