Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.Christentum und Sozialismus zurückführt, dann ist die Frage unbedingt zu bejahen. Hier ist Beugung unter Aber eine andere Frage ist, ob in dieser Religion auch das Beste und Tiefste, Die Sozialdemokratie ist mit Nietzsche stolz darauf, daß sie im Gegensatz Erst recht zeigt sich die Einseitigkeit des sozialdemokratischen Weltbilds in "Wissenschaftlich" laßt sich dies freilich nicht beweisen, so wenig als sich Für wen das Gewissen das Grundlegende in seinem Bewußtsein, das Christentum und Sozialismus zurückführt, dann ist die Frage unbedingt zu bejahen. Hier ist Beugung unter Aber eine andere Frage ist, ob in dieser Religion auch das Beste und Tiefste, Die Sozialdemokratie ist mit Nietzsche stolz darauf, daß sie im Gegensatz Erst recht zeigt sich die Einseitigkeit des sozialdemokratischen Weltbilds in „Wissenschaftlich" laßt sich dies freilich nicht beweisen, so wenig als sich Für wen das Gewissen das Grundlegende in seinem Bewußtsein, das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0189" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/335599"/> <fw type="header" place="top"> Christentum und Sozialismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_787" prev="#ID_786"> zurückführt, dann ist die Frage unbedingt zu bejahen. Hier ist Beugung unter<lb/> ein Übergreifendes und Vertrauen zu einer in den Dingen selbst wirkenden gerechten<lb/> Notwendigkeit.</p><lb/> <p xml:id="ID_788"> Aber eine andere Frage ist, ob in dieser Religion auch das Beste und Tiefste,<lb/> was die Religion dem Menschen zu geben hat, zu seinen: Recht gelangt.</p><lb/> <p xml:id="ID_789"> Die Sozialdemokratie ist mit Nietzsche stolz darauf, daß sie im Gegensatz<lb/> zur christlichen Religion ganz auf dem Boden der Wirklichkeit steht. In Wahrheit<lb/> ist auch ihre Weltanschauung, wie jede andere, nicht eine einfache Nachzeichnung,<lb/> sondern schon eine Deutung des Seienden. Und zwar bei ihr in dein Sinn, daß<lb/> eine Seite der Wirklichkeit zurückgeschoben, ja unterschlagen wird. Das Geistige<lb/> wird als selbständige, schöpferische Macht überall mit Bewußtsein ausgeschaltet.<lb/> Das fängt bereits an bei den wirtschaftlichen Grundbegriffen. Dort tritt es<lb/> vielleicht am grellsten hervor in der Marxistischen Lehre vom Mehrwert, die ja<lb/> das vorzüglichste Werbemittel der Sozialdemokratie bildet. Von Rechts wegen<lb/> hätte der Arbeiter den Anspruch auf das ganze Erzeugnis seiner Arbeit: denn er<lb/> erzeugt es durch seine Arbeit. Aber der Kapitalist betrügt ihn, indem er ihm<lb/> statt des ihm gebührenden Ganzen nur den kärglichen Lohn gewährt, der höchstens<lb/> zur Fristung des Lebens hinreicht. Aber „erzeugt" denn der Arbeiter wirklich das,<lb/> was er herstellt? Gewiß nicht. Er hat nicht einmal den Gedanken gehabt, daß<lb/> man ein solches Ding, wie er es verfertigt, überhaupt machen könnte. Geschweige,<lb/> daß er die Werkzeuge und die Maschinen ersonnen, die Arbeitsteilung und Arbeits-<lb/> Verbindung geplant und alles, was sonst noch nötig ist, geordnet hätte. Der<lb/> wahre Erzeuger ist nicht der Arbeiter — der führt nur aus —, sondern derjenige,<lb/> in dessen Kopf der Gedanke hierzu entsprungen ist. Denn schöpferisch ist auch<lb/> auf dein Gebiet des Wirtschaftlichen einzig und allein der Gedanke, und es gehört<lb/> für mich zum Unverständlichen, daß unsere Volkswirtschaftslehrer dies gegenüber<lb/> Marx nicht kräftiger betonen. Aber allerdings, dann wäre der Begriff des Wertes<lb/> nicht mehr so einfach aufzulösen, wie dies bei Marx der Fall ist. Jedenfalls, was<lb/> Marx im Namen der Gerechtigkeit fordert, ist in Wahrheit die schreiendste Un¬<lb/> gerechtigkeit gegen den geistigen Urheber und Leiter.</p><lb/> <p xml:id="ID_790"> Erst recht zeigt sich die Einseitigkeit des sozialdemokratischen Weltbilds in<lb/> ihrer Auffassung der Geschichte. Daß die wirtschaftlichen Vorgänge auch das<lb/> höhere, geistige Bewußtsein der Menschen beeinflussen, wird heute wohl von<lb/> niemand bestritten werden; aber daraus folgt nicht, daß sie die alleinbestimmenden<lb/> oder auch nur die zuletztbestimmenden in der Geschichte wären. Schon das bleibt<lb/> für Marx ein Rätsel, wie die Menschheit überhaupt daraus kommt, einen „Oberbau"<lb/> von Rechts-, Sittlichkeits- und Religionsbegriffen zu errichten, der sie doch in<lb/> ihrem wirtschaftlichen Streben ebensoviel hindert wie fördert. Nur der Vorein¬<lb/> genommene kann nicht sehen, daß das Gewissen der Menschheit neben und über dem<lb/> wirtschaftlichen Schaffen die entscheidende Rolle in der Geschichte spielt. Das<lb/> Gewissen mag entstanden sein, wann und wie es will, es mag seinen Inhalt noch<lb/> so viel gewechselt haben, es mag noch so oft verleugnet und mit Füßen getreten<lb/> worden sein — nachdem es einmal da ist, ist es doch ein Block, an dem sich die<lb/> Wogen brechen. Auch die stärkste wirtschaftliche Bewegung vermöchte sich nicht<lb/> durchzusetzen, wenn nicht das Gewissen der Menschheit dem von ihr Gewollten<lb/> zustimmtet Unfreiwillig räumt das die Sozialdemokratie selbst ein, indem sie<lb/> ihren Sieg zugleich als einen Sieg der Gerechtigkeit feiert.</p><lb/> <p xml:id="ID_791"> „Wissenschaftlich" laßt sich dies freilich nicht beweisen, so wenig als sich<lb/> wissenschaftlich feststellen läßt, was im höchsten Sinn „wirklich" ist. Es handelt<lb/> sich hier vielmehr um eine persönliche Entscheidung. An der Frage, wie man die<lb/> Gewissenstatsache bewertet, trennen sich die Weltanschauungen und die Auffassungen<lb/> der Religion.</p><lb/> <p xml:id="ID_792" next="#ID_793"> Für wen das Gewissen das Grundlegende in seinem Bewußtsein, das<lb/> Wirklichste des Wirklichen ist, der wird nie anders können, als Gott persönlich<lb/> denken. Kautsky hat in seinem Büchlein „Ethik und materialistische Weltan¬<lb/> schauung" es versucht, durch eine Verbindung darwinistischer und Marxistischer</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0189]
Christentum und Sozialismus
zurückführt, dann ist die Frage unbedingt zu bejahen. Hier ist Beugung unter
ein Übergreifendes und Vertrauen zu einer in den Dingen selbst wirkenden gerechten
Notwendigkeit.
Aber eine andere Frage ist, ob in dieser Religion auch das Beste und Tiefste,
was die Religion dem Menschen zu geben hat, zu seinen: Recht gelangt.
Die Sozialdemokratie ist mit Nietzsche stolz darauf, daß sie im Gegensatz
zur christlichen Religion ganz auf dem Boden der Wirklichkeit steht. In Wahrheit
ist auch ihre Weltanschauung, wie jede andere, nicht eine einfache Nachzeichnung,
sondern schon eine Deutung des Seienden. Und zwar bei ihr in dein Sinn, daß
eine Seite der Wirklichkeit zurückgeschoben, ja unterschlagen wird. Das Geistige
wird als selbständige, schöpferische Macht überall mit Bewußtsein ausgeschaltet.
Das fängt bereits an bei den wirtschaftlichen Grundbegriffen. Dort tritt es
vielleicht am grellsten hervor in der Marxistischen Lehre vom Mehrwert, die ja
das vorzüglichste Werbemittel der Sozialdemokratie bildet. Von Rechts wegen
hätte der Arbeiter den Anspruch auf das ganze Erzeugnis seiner Arbeit: denn er
erzeugt es durch seine Arbeit. Aber der Kapitalist betrügt ihn, indem er ihm
statt des ihm gebührenden Ganzen nur den kärglichen Lohn gewährt, der höchstens
zur Fristung des Lebens hinreicht. Aber „erzeugt" denn der Arbeiter wirklich das,
was er herstellt? Gewiß nicht. Er hat nicht einmal den Gedanken gehabt, daß
man ein solches Ding, wie er es verfertigt, überhaupt machen könnte. Geschweige,
daß er die Werkzeuge und die Maschinen ersonnen, die Arbeitsteilung und Arbeits-
Verbindung geplant und alles, was sonst noch nötig ist, geordnet hätte. Der
wahre Erzeuger ist nicht der Arbeiter — der führt nur aus —, sondern derjenige,
in dessen Kopf der Gedanke hierzu entsprungen ist. Denn schöpferisch ist auch
auf dein Gebiet des Wirtschaftlichen einzig und allein der Gedanke, und es gehört
für mich zum Unverständlichen, daß unsere Volkswirtschaftslehrer dies gegenüber
Marx nicht kräftiger betonen. Aber allerdings, dann wäre der Begriff des Wertes
nicht mehr so einfach aufzulösen, wie dies bei Marx der Fall ist. Jedenfalls, was
Marx im Namen der Gerechtigkeit fordert, ist in Wahrheit die schreiendste Un¬
gerechtigkeit gegen den geistigen Urheber und Leiter.
Erst recht zeigt sich die Einseitigkeit des sozialdemokratischen Weltbilds in
ihrer Auffassung der Geschichte. Daß die wirtschaftlichen Vorgänge auch das
höhere, geistige Bewußtsein der Menschen beeinflussen, wird heute wohl von
niemand bestritten werden; aber daraus folgt nicht, daß sie die alleinbestimmenden
oder auch nur die zuletztbestimmenden in der Geschichte wären. Schon das bleibt
für Marx ein Rätsel, wie die Menschheit überhaupt daraus kommt, einen „Oberbau"
von Rechts-, Sittlichkeits- und Religionsbegriffen zu errichten, der sie doch in
ihrem wirtschaftlichen Streben ebensoviel hindert wie fördert. Nur der Vorein¬
genommene kann nicht sehen, daß das Gewissen der Menschheit neben und über dem
wirtschaftlichen Schaffen die entscheidende Rolle in der Geschichte spielt. Das
Gewissen mag entstanden sein, wann und wie es will, es mag seinen Inhalt noch
so viel gewechselt haben, es mag noch so oft verleugnet und mit Füßen getreten
worden sein — nachdem es einmal da ist, ist es doch ein Block, an dem sich die
Wogen brechen. Auch die stärkste wirtschaftliche Bewegung vermöchte sich nicht
durchzusetzen, wenn nicht das Gewissen der Menschheit dem von ihr Gewollten
zustimmtet Unfreiwillig räumt das die Sozialdemokratie selbst ein, indem sie
ihren Sieg zugleich als einen Sieg der Gerechtigkeit feiert.
„Wissenschaftlich" laßt sich dies freilich nicht beweisen, so wenig als sich
wissenschaftlich feststellen läßt, was im höchsten Sinn „wirklich" ist. Es handelt
sich hier vielmehr um eine persönliche Entscheidung. An der Frage, wie man die
Gewissenstatsache bewertet, trennen sich die Weltanschauungen und die Auffassungen
der Religion.
Für wen das Gewissen das Grundlegende in seinem Bewußtsein, das
Wirklichste des Wirklichen ist, der wird nie anders können, als Gott persönlich
denken. Kautsky hat in seinem Büchlein „Ethik und materialistische Weltan¬
schauung" es versucht, durch eine Verbindung darwinistischer und Marxistischer
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