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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.

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Die kulturelle Bedeutung IViens

bei Ämtern und Privaten. Der Wiener ist eine passive Natur. Unternehmungs¬
geist, Wagemut fehlt ihm vollständig. In wieweit hier der tiefe Unterschied in
der Erfassung der Lebensziele durch die katholische und evangelische Religion mit¬
spielt, sei hier nicht weiter untersucht. Jedenfalls aber leidet das ganze wirtschaft¬
liche Leben unter dem Mangel an - UnternehnMNgsgcist. Handel und Verkehr
bewegen sich in kleinbürgerlichen Buhnen, Naturkräfte wurden nicht ausgenützt,
günstige Konjunkturen nicht berücksichtigt. Dazu fehlt auch die Freude an der
Verantwortlichkeit. Osterreich ist nicht arm.an schöpferischen .Kräften, auf künst¬
lerischem wie wissenschaftlichem Gebiete. Aber das Vorwärtsstreben dieser
Kräfte bann der Junenösterreicher nicht vorstehen und so müssen all diese Kräfte,
wollen sie nicht untergehen, die Heimat verlassen; sie flüchten nach Deutschland,
wo die aktive Natur des Reichsdeutschen ihnen Möglichkeit zur Entfaltung ihres
Könnens bietet. Nur das kann in Wien durchgeführt werden, dessen günstiges
Endergebnis unwandelbar feststeht. Bei allem und jedem, das Unruhe, Arbeit
mit sich bringt, vertröstet sich der Wiener damit, daß es bis dahin auch so ging.
So ist Wien ein großes Dorf, kleinlich in seiner Arbeit, beschränkt in seinem
Wollen; der Kaufmann ebenso wie der Kleinbürger, der Beamte wie der Arbeiter.
Dieser kulturhemmende Zug seines Wesens wird nur durch tiefgreifende
Ereignisse durchbrochen; doch auch dann währt die Bewegung nicht lange, fondern
läßt sich durch kleine Zugeständnisse leicht besänftigen oder verflacht nach den
ersten Anfangserfolgen. In dieser geistigen Trägheit liegt nun auch der Grund,
warum Wie" nie die Führung auf kulturpolitischem Gebiete erringen konnte,
warum die Deutschen der Provinz ihre kulturellen Bedürfnisse außerhalb der
Grenzen des Staates zu befriedigen suchten. - Man halte mir nicht die Bauten der
Ringstraße, die Wiener Werkstätten, die Hofbühnen, das Musikleben in Wien vor.
Sie sind alle einsame Blüten, hoch und edel, die ober nie im Volke selbst süßen.
Die Wiener Werkstätten sind nicht das Produkt Wiener Charaktere, sondern die
Schöpfungen einiger wenigen, die mit der Zeit schablonenhaft wurden und nie
im Volke wurzelten. Wer die Raum- und Wohnungskultur eines Volkes kennen
lernen will, muß in die Wohnungen des Mittelstandes gehen. Aus einem
Gemisch von Altwiener Art, "altdeutschen" Möbeln, unechten Mahagoni,
schlechten Farbendrucken und einer besonderen Vorliebe für unechten Tand spricht
nicht das bewußte Kulturbedürfnis der Bewohner. Es war mehr Kultur in den
führenden Kreisen zu jener Zeit, da die Bauten der Ringstraße entstanden, als
in dem letzten Jahrzehnt, als das Gebäude des Kriegsministeriums entstand.
Wien war/einmal eine Pflegestätte der Musik trotz des Schicksals eines Beethovens
und Bruckners. Heute aber ist es die Heimat der Operette, die sechshundert- bis
tausendmal hintereinander vor vollen Häusern gegeben wird, und die selbst
Schuberts und Beethovens Motive zu Operettenmelodien herabzieht. Wer Wien
als .Kulturstätte kennen lernen will, der besehe sich die Auslagen in den ver¬
schiedensten Stadtteilen. Aus dem Angebotenen kann er auf die Bedürfnisse
schlußen. Er forsche nach einem österreichischen Buchhandel, nach dein öster¬
reichischen Kunstgewerbe, vergleiche die Tageszeitungen mit ihrem Interessen-
gebiete, besuche Geschäfte jeder Art. Ich bin überzeugt, er wird überall Teil¬
nahmlosigkeit finden für das, was jenseits eines augenblicklichen Sinnengenusses
liegt. Der Wiener ist ein oft genial veranlagter Willeusschwächling. Wer aber
leichte, lebhafte Anregung, Befreiung der Seele von den Sorgen der Arbeit sucht,
wer lebhaften Meinungsaustausch wünscht und göttliche Sorglosigkeit, auch feinen
Lebensgenuß, der gehe nach Wien. Hier kann man leben; arbeiten aber nicht.
Wer Arbeit sucht, 'die vorbauend für die Zukunft der Gegenwart nutzt, und das
Erdachte in Wirklichkeit umsetzt, der wird in Wien keine Befriedigung finden.
Und selbst das sonnige Familien- und Gesellschaftsleben früherer Zeiten ist im
Aussterben. Das Wohnungselend und die allgemeine Teuerung hat den Wiener
ins Kaffeehaus gedrängt. Dort feiert er seine Gesellschaften. Mit der Verarmung
des häuslichen Lebens -- welche Feinheit liegt in den Biedermeiermöbeln --
erstarb ein gut Teil seiner Gastfreundschaft, seiner Hausmusik, seiner persönlichen


Die kulturelle Bedeutung IViens

bei Ämtern und Privaten. Der Wiener ist eine passive Natur. Unternehmungs¬
geist, Wagemut fehlt ihm vollständig. In wieweit hier der tiefe Unterschied in
der Erfassung der Lebensziele durch die katholische und evangelische Religion mit¬
spielt, sei hier nicht weiter untersucht. Jedenfalls aber leidet das ganze wirtschaft¬
liche Leben unter dem Mangel an - UnternehnMNgsgcist. Handel und Verkehr
bewegen sich in kleinbürgerlichen Buhnen, Naturkräfte wurden nicht ausgenützt,
günstige Konjunkturen nicht berücksichtigt. Dazu fehlt auch die Freude an der
Verantwortlichkeit. Osterreich ist nicht arm.an schöpferischen .Kräften, auf künst¬
lerischem wie wissenschaftlichem Gebiete. Aber das Vorwärtsstreben dieser
Kräfte bann der Junenösterreicher nicht vorstehen und so müssen all diese Kräfte,
wollen sie nicht untergehen, die Heimat verlassen; sie flüchten nach Deutschland,
wo die aktive Natur des Reichsdeutschen ihnen Möglichkeit zur Entfaltung ihres
Könnens bietet. Nur das kann in Wien durchgeführt werden, dessen günstiges
Endergebnis unwandelbar feststeht. Bei allem und jedem, das Unruhe, Arbeit
mit sich bringt, vertröstet sich der Wiener damit, daß es bis dahin auch so ging.
So ist Wien ein großes Dorf, kleinlich in seiner Arbeit, beschränkt in seinem
Wollen; der Kaufmann ebenso wie der Kleinbürger, der Beamte wie der Arbeiter.
Dieser kulturhemmende Zug seines Wesens wird nur durch tiefgreifende
Ereignisse durchbrochen; doch auch dann währt die Bewegung nicht lange, fondern
läßt sich durch kleine Zugeständnisse leicht besänftigen oder verflacht nach den
ersten Anfangserfolgen. In dieser geistigen Trägheit liegt nun auch der Grund,
warum Wie« nie die Führung auf kulturpolitischem Gebiete erringen konnte,
warum die Deutschen der Provinz ihre kulturellen Bedürfnisse außerhalb der
Grenzen des Staates zu befriedigen suchten. - Man halte mir nicht die Bauten der
Ringstraße, die Wiener Werkstätten, die Hofbühnen, das Musikleben in Wien vor.
Sie sind alle einsame Blüten, hoch und edel, die ober nie im Volke selbst süßen.
Die Wiener Werkstätten sind nicht das Produkt Wiener Charaktere, sondern die
Schöpfungen einiger wenigen, die mit der Zeit schablonenhaft wurden und nie
im Volke wurzelten. Wer die Raum- und Wohnungskultur eines Volkes kennen
lernen will, muß in die Wohnungen des Mittelstandes gehen. Aus einem
Gemisch von Altwiener Art, „altdeutschen" Möbeln, unechten Mahagoni,
schlechten Farbendrucken und einer besonderen Vorliebe für unechten Tand spricht
nicht das bewußte Kulturbedürfnis der Bewohner. Es war mehr Kultur in den
führenden Kreisen zu jener Zeit, da die Bauten der Ringstraße entstanden, als
in dem letzten Jahrzehnt, als das Gebäude des Kriegsministeriums entstand.
Wien war/einmal eine Pflegestätte der Musik trotz des Schicksals eines Beethovens
und Bruckners. Heute aber ist es die Heimat der Operette, die sechshundert- bis
tausendmal hintereinander vor vollen Häusern gegeben wird, und die selbst
Schuberts und Beethovens Motive zu Operettenmelodien herabzieht. Wer Wien
als .Kulturstätte kennen lernen will, der besehe sich die Auslagen in den ver¬
schiedensten Stadtteilen. Aus dem Angebotenen kann er auf die Bedürfnisse
schlußen. Er forsche nach einem österreichischen Buchhandel, nach dein öster¬
reichischen Kunstgewerbe, vergleiche die Tageszeitungen mit ihrem Interessen-
gebiete, besuche Geschäfte jeder Art. Ich bin überzeugt, er wird überall Teil¬
nahmlosigkeit finden für das, was jenseits eines augenblicklichen Sinnengenusses
liegt. Der Wiener ist ein oft genial veranlagter Willeusschwächling. Wer aber
leichte, lebhafte Anregung, Befreiung der Seele von den Sorgen der Arbeit sucht,
wer lebhaften Meinungsaustausch wünscht und göttliche Sorglosigkeit, auch feinen
Lebensgenuß, der gehe nach Wien. Hier kann man leben; arbeiten aber nicht.
Wer Arbeit sucht, 'die vorbauend für die Zukunft der Gegenwart nutzt, und das
Erdachte in Wirklichkeit umsetzt, der wird in Wien keine Befriedigung finden.
Und selbst das sonnige Familien- und Gesellschaftsleben früherer Zeiten ist im
Aussterben. Das Wohnungselend und die allgemeine Teuerung hat den Wiener
ins Kaffeehaus gedrängt. Dort feiert er seine Gesellschaften. Mit der Verarmung
des häuslichen Lebens — welche Feinheit liegt in den Biedermeiermöbeln —
erstarb ein gut Teil seiner Gastfreundschaft, seiner Hausmusik, seiner persönlichen


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[0113] Die kulturelle Bedeutung IViens bei Ämtern und Privaten. Der Wiener ist eine passive Natur. Unternehmungs¬ geist, Wagemut fehlt ihm vollständig. In wieweit hier der tiefe Unterschied in der Erfassung der Lebensziele durch die katholische und evangelische Religion mit¬ spielt, sei hier nicht weiter untersucht. Jedenfalls aber leidet das ganze wirtschaft¬ liche Leben unter dem Mangel an - UnternehnMNgsgcist. Handel und Verkehr bewegen sich in kleinbürgerlichen Buhnen, Naturkräfte wurden nicht ausgenützt, günstige Konjunkturen nicht berücksichtigt. Dazu fehlt auch die Freude an der Verantwortlichkeit. Osterreich ist nicht arm.an schöpferischen .Kräften, auf künst¬ lerischem wie wissenschaftlichem Gebiete. Aber das Vorwärtsstreben dieser Kräfte bann der Junenösterreicher nicht vorstehen und so müssen all diese Kräfte, wollen sie nicht untergehen, die Heimat verlassen; sie flüchten nach Deutschland, wo die aktive Natur des Reichsdeutschen ihnen Möglichkeit zur Entfaltung ihres Könnens bietet. Nur das kann in Wien durchgeführt werden, dessen günstiges Endergebnis unwandelbar feststeht. Bei allem und jedem, das Unruhe, Arbeit mit sich bringt, vertröstet sich der Wiener damit, daß es bis dahin auch so ging. So ist Wien ein großes Dorf, kleinlich in seiner Arbeit, beschränkt in seinem Wollen; der Kaufmann ebenso wie der Kleinbürger, der Beamte wie der Arbeiter. Dieser kulturhemmende Zug seines Wesens wird nur durch tiefgreifende Ereignisse durchbrochen; doch auch dann währt die Bewegung nicht lange, fondern läßt sich durch kleine Zugeständnisse leicht besänftigen oder verflacht nach den ersten Anfangserfolgen. In dieser geistigen Trägheit liegt nun auch der Grund, warum Wie« nie die Führung auf kulturpolitischem Gebiete erringen konnte, warum die Deutschen der Provinz ihre kulturellen Bedürfnisse außerhalb der Grenzen des Staates zu befriedigen suchten. - Man halte mir nicht die Bauten der Ringstraße, die Wiener Werkstätten, die Hofbühnen, das Musikleben in Wien vor. Sie sind alle einsame Blüten, hoch und edel, die ober nie im Volke selbst süßen. Die Wiener Werkstätten sind nicht das Produkt Wiener Charaktere, sondern die Schöpfungen einiger wenigen, die mit der Zeit schablonenhaft wurden und nie im Volke wurzelten. Wer die Raum- und Wohnungskultur eines Volkes kennen lernen will, muß in die Wohnungen des Mittelstandes gehen. Aus einem Gemisch von Altwiener Art, „altdeutschen" Möbeln, unechten Mahagoni, schlechten Farbendrucken und einer besonderen Vorliebe für unechten Tand spricht nicht das bewußte Kulturbedürfnis der Bewohner. Es war mehr Kultur in den führenden Kreisen zu jener Zeit, da die Bauten der Ringstraße entstanden, als in dem letzten Jahrzehnt, als das Gebäude des Kriegsministeriums entstand. Wien war/einmal eine Pflegestätte der Musik trotz des Schicksals eines Beethovens und Bruckners. Heute aber ist es die Heimat der Operette, die sechshundert- bis tausendmal hintereinander vor vollen Häusern gegeben wird, und die selbst Schuberts und Beethovens Motive zu Operettenmelodien herabzieht. Wer Wien als .Kulturstätte kennen lernen will, der besehe sich die Auslagen in den ver¬ schiedensten Stadtteilen. Aus dem Angebotenen kann er auf die Bedürfnisse schlußen. Er forsche nach einem österreichischen Buchhandel, nach dein öster¬ reichischen Kunstgewerbe, vergleiche die Tageszeitungen mit ihrem Interessen- gebiete, besuche Geschäfte jeder Art. Ich bin überzeugt, er wird überall Teil¬ nahmlosigkeit finden für das, was jenseits eines augenblicklichen Sinnengenusses liegt. Der Wiener ist ein oft genial veranlagter Willeusschwächling. Wer aber leichte, lebhafte Anregung, Befreiung der Seele von den Sorgen der Arbeit sucht, wer lebhaften Meinungsaustausch wünscht und göttliche Sorglosigkeit, auch feinen Lebensgenuß, der gehe nach Wien. Hier kann man leben; arbeiten aber nicht. Wer Arbeit sucht, 'die vorbauend für die Zukunft der Gegenwart nutzt, und das Erdachte in Wirklichkeit umsetzt, der wird in Wien keine Befriedigung finden. Und selbst das sonnige Familien- und Gesellschaftsleben früherer Zeiten ist im Aussterben. Das Wohnungselend und die allgemeine Teuerung hat den Wiener ins Kaffeehaus gedrängt. Dort feiert er seine Gesellschaften. Mit der Verarmung des häuslichen Lebens — welche Feinheit liegt in den Biedermeiermöbeln — erstarb ein gut Teil seiner Gastfreundschaft, seiner Hausmusik, seiner persönlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335181/113>, abgerufen am 06.02.2025.