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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Die drohende Atomisieruiig der Großmächte

Resigniert klagte "Manchester Guardian" am 8. November, also mock vor der
Berliner Revolution:

"Der Krieg hat für die meisten Beteiligten gar zu lange gedauert. Die
Revolution Hot bereits halb Europa und Sibirien erfaßt', noch ist sie nicht er¬
schöpft. Die russische Influenza ist sehr ansteckend. . . . Revolution liegt in der
Luft, man hört den dumpfen Donner der Kräfte in der Tiefe. Wir sind gewarnt!"

Soweit dürfte man erkennen, daß auch in England eine weitgehende Um¬
wälzung in nicht gar zu ferner Zeit durchaus im Bereich der Möglichkeit liegt.
Die Gefahr ist dabei für England weit größer als für Deutschland. Wir sehen
ja, daß die sozialistische Diktatur in Berlin die Gefahr eines Zerfalls des deutschen
Reiches bedenklich nahe gerückt hat. Man darf freilich als gewiß annehmen, daß
ein solcher Zerfall, wenn er wirklich infolge nicht rechtzeitiger Wahl einer National-
Versammlung noch eintreten sollte, nur vorübergehender Art sein würde, aber wenn
der soziale Umsturz selbst bei einem Äolk mit gleicher Sprache und von durchweg
starker Anhänglichkeit ans Reich Zerfallserscheinungen auslöst, so mag man dacaii
ermessen, welche Rückwirkungen ein gleicher Vorgang in dem ans hundert dis>
kordcmten Bestandteilen zusammengesetzten und zum Teil von stark zentrifugalen
Tendenzen (Irland. Burenstaaten.' Ägypten, Indien I) erfüllten britischen Welt¬
reiche haben muß.

Diese Auffassung wird auch in neutralen Ländern schon hier und da ge-
teilt/ dürfte also der wahren Sachlage gut entsprechen. Sehr bezeichnend war
vor allem eine Auslassung der 5kopenhagener "Finanstidende" vom l3. November:

"England wurde durch Hunger reich. Noch vor 1914 hieß es, daß jeder
dritte Mensch in England hungerte. Nach diesem Kriege läßt sich derartiges nicht
wiederholen. Es scheint im Gegenteil eine sehr kräftige soziale Umwälzung im
Gorge zu sein, die auch vor 1914 schon Besorgnis erregte. . . . Auf alle Fälle
ist es ein sozialer Prozeß, der Englands Kräfte in einer Reihe innerer Aufgaben,
z. B. der Bodenfrage und der Staatskontrolle über die Industrie, zersplittern wird.
Die Vernichtung des preußischen Imperialismus, die England bewirkte, kann des"
halb die des englischen Imperialismus nach sich ziehen, während fernere und
jüngere Militärmächte, Amerika, die Kolonien und Japan der Ansteckung weniger
ausgesetzt sind."

Sollte die von Vielen gehegte und im Grunde nicht unwahrscheinliche Er¬
wartung sich erfüllen, daß der soziale Umsturz mehr oder weniger gewaltsam all¬
mählich die ganze Kulturwelt erobern wird, so scheint ein Zerfall aller großen
Weltmächte auf die Dauer unvermeidlich zu sein. Das Zeitalter der Großmächte
würde dann nahe vor seinem Abschluß suchen, und die aus imperialistischen Ge¬
lüsten erwachsenen Kriege würden bis auf weiteres von sozialen Kämpfen inner¬
halb desselben Volkes und von unzähligen, bewaffneten oder friedlichen Konflikten
der vielen neuen Staatlein und Natiönchen 'miteinander abgelöst werden. Statt
des erträumten Völkerbundes und dem Zeitalter des ewigen Friedens wäre uns
dann eine Balkanisierung und Atomisierung des größeren Teiles Europas und
ein Rückfall in den Zustand fortgesetzter mittelalterlicher Kleinkriege beschert, zu
dem die prompt einsetzenden Bandenkriege zwischen Polen und Ukrainern, Russen
und Finnen. Tschechen und Magyaren, Süöslaven und Italienern bereits den er¬
baulichen Auftakt liefern.

Kapitalismus und Imperialismus haben die großen Einkreisungskriege
gegen Deutschland entwickelt und haben vorläufig mit einer Vernichtung des
deutschen Imperialismus und einer schweren Bedrohung des deutschen Kapitalis¬
mus geendet. Aber der Prozeß ist noch nicht beendet und kann leicht mit einem
Zusammenbruch jeglichen Imperialismus und Großkapitalismns enden. Schon
am Tage der Berliner Revolution gab der "Nieuwe Rotterdamsche Courant" dieser
Auffassung drastischen Ausdruck:

"Der große Krieg hat alle Aussicht, in einer Weltrevolution zu enden. Die
Regierenden 'in England beginnen dies bereits einzusehen, wie sich aus Churchills
Anordnungen ergibt. Er dersügte nämlich, daß die Herstellung von Munition


Die drohende Atomisieruiig der Großmächte

Resigniert klagte „Manchester Guardian" am 8. November, also mock vor der
Berliner Revolution:

„Der Krieg hat für die meisten Beteiligten gar zu lange gedauert. Die
Revolution Hot bereits halb Europa und Sibirien erfaßt', noch ist sie nicht er¬
schöpft. Die russische Influenza ist sehr ansteckend. . . . Revolution liegt in der
Luft, man hört den dumpfen Donner der Kräfte in der Tiefe. Wir sind gewarnt!"

Soweit dürfte man erkennen, daß auch in England eine weitgehende Um¬
wälzung in nicht gar zu ferner Zeit durchaus im Bereich der Möglichkeit liegt.
Die Gefahr ist dabei für England weit größer als für Deutschland. Wir sehen
ja, daß die sozialistische Diktatur in Berlin die Gefahr eines Zerfalls des deutschen
Reiches bedenklich nahe gerückt hat. Man darf freilich als gewiß annehmen, daß
ein solcher Zerfall, wenn er wirklich infolge nicht rechtzeitiger Wahl einer National-
Versammlung noch eintreten sollte, nur vorübergehender Art sein würde, aber wenn
der soziale Umsturz selbst bei einem Äolk mit gleicher Sprache und von durchweg
starker Anhänglichkeit ans Reich Zerfallserscheinungen auslöst, so mag man dacaii
ermessen, welche Rückwirkungen ein gleicher Vorgang in dem ans hundert dis>
kordcmten Bestandteilen zusammengesetzten und zum Teil von stark zentrifugalen
Tendenzen (Irland. Burenstaaten.' Ägypten, Indien I) erfüllten britischen Welt¬
reiche haben muß.

Diese Auffassung wird auch in neutralen Ländern schon hier und da ge-
teilt/ dürfte also der wahren Sachlage gut entsprechen. Sehr bezeichnend war
vor allem eine Auslassung der 5kopenhagener „Finanstidende" vom l3. November:

„England wurde durch Hunger reich. Noch vor 1914 hieß es, daß jeder
dritte Mensch in England hungerte. Nach diesem Kriege läßt sich derartiges nicht
wiederholen. Es scheint im Gegenteil eine sehr kräftige soziale Umwälzung im
Gorge zu sein, die auch vor 1914 schon Besorgnis erregte. . . . Auf alle Fälle
ist es ein sozialer Prozeß, der Englands Kräfte in einer Reihe innerer Aufgaben,
z. B. der Bodenfrage und der Staatskontrolle über die Industrie, zersplittern wird.
Die Vernichtung des preußischen Imperialismus, die England bewirkte, kann des"
halb die des englischen Imperialismus nach sich ziehen, während fernere und
jüngere Militärmächte, Amerika, die Kolonien und Japan der Ansteckung weniger
ausgesetzt sind."

Sollte die von Vielen gehegte und im Grunde nicht unwahrscheinliche Er¬
wartung sich erfüllen, daß der soziale Umsturz mehr oder weniger gewaltsam all¬
mählich die ganze Kulturwelt erobern wird, so scheint ein Zerfall aller großen
Weltmächte auf die Dauer unvermeidlich zu sein. Das Zeitalter der Großmächte
würde dann nahe vor seinem Abschluß suchen, und die aus imperialistischen Ge¬
lüsten erwachsenen Kriege würden bis auf weiteres von sozialen Kämpfen inner¬
halb desselben Volkes und von unzähligen, bewaffneten oder friedlichen Konflikten
der vielen neuen Staatlein und Natiönchen 'miteinander abgelöst werden. Statt
des erträumten Völkerbundes und dem Zeitalter des ewigen Friedens wäre uns
dann eine Balkanisierung und Atomisierung des größeren Teiles Europas und
ein Rückfall in den Zustand fortgesetzter mittelalterlicher Kleinkriege beschert, zu
dem die prompt einsetzenden Bandenkriege zwischen Polen und Ukrainern, Russen
und Finnen. Tschechen und Magyaren, Süöslaven und Italienern bereits den er¬
baulichen Auftakt liefern.

Kapitalismus und Imperialismus haben die großen Einkreisungskriege
gegen Deutschland entwickelt und haben vorläufig mit einer Vernichtung des
deutschen Imperialismus und einer schweren Bedrohung des deutschen Kapitalis¬
mus geendet. Aber der Prozeß ist noch nicht beendet und kann leicht mit einem
Zusammenbruch jeglichen Imperialismus und Großkapitalismns enden. Schon
am Tage der Berliner Revolution gab der „Nieuwe Rotterdamsche Courant" dieser
Auffassung drastischen Ausdruck:

„Der große Krieg hat alle Aussicht, in einer Weltrevolution zu enden. Die
Regierenden 'in England beginnen dies bereits einzusehen, wie sich aus Churchills
Anordnungen ergibt. Er dersügte nämlich, daß die Herstellung von Munition


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[0240] Die drohende Atomisieruiig der Großmächte Resigniert klagte „Manchester Guardian" am 8. November, also mock vor der Berliner Revolution: „Der Krieg hat für die meisten Beteiligten gar zu lange gedauert. Die Revolution Hot bereits halb Europa und Sibirien erfaßt', noch ist sie nicht er¬ schöpft. Die russische Influenza ist sehr ansteckend. . . . Revolution liegt in der Luft, man hört den dumpfen Donner der Kräfte in der Tiefe. Wir sind gewarnt!" Soweit dürfte man erkennen, daß auch in England eine weitgehende Um¬ wälzung in nicht gar zu ferner Zeit durchaus im Bereich der Möglichkeit liegt. Die Gefahr ist dabei für England weit größer als für Deutschland. Wir sehen ja, daß die sozialistische Diktatur in Berlin die Gefahr eines Zerfalls des deutschen Reiches bedenklich nahe gerückt hat. Man darf freilich als gewiß annehmen, daß ein solcher Zerfall, wenn er wirklich infolge nicht rechtzeitiger Wahl einer National- Versammlung noch eintreten sollte, nur vorübergehender Art sein würde, aber wenn der soziale Umsturz selbst bei einem Äolk mit gleicher Sprache und von durchweg starker Anhänglichkeit ans Reich Zerfallserscheinungen auslöst, so mag man dacaii ermessen, welche Rückwirkungen ein gleicher Vorgang in dem ans hundert dis> kordcmten Bestandteilen zusammengesetzten und zum Teil von stark zentrifugalen Tendenzen (Irland. Burenstaaten.' Ägypten, Indien I) erfüllten britischen Welt¬ reiche haben muß. Diese Auffassung wird auch in neutralen Ländern schon hier und da ge- teilt/ dürfte also der wahren Sachlage gut entsprechen. Sehr bezeichnend war vor allem eine Auslassung der 5kopenhagener „Finanstidende" vom l3. November: „England wurde durch Hunger reich. Noch vor 1914 hieß es, daß jeder dritte Mensch in England hungerte. Nach diesem Kriege läßt sich derartiges nicht wiederholen. Es scheint im Gegenteil eine sehr kräftige soziale Umwälzung im Gorge zu sein, die auch vor 1914 schon Besorgnis erregte. . . . Auf alle Fälle ist es ein sozialer Prozeß, der Englands Kräfte in einer Reihe innerer Aufgaben, z. B. der Bodenfrage und der Staatskontrolle über die Industrie, zersplittern wird. Die Vernichtung des preußischen Imperialismus, die England bewirkte, kann des" halb die des englischen Imperialismus nach sich ziehen, während fernere und jüngere Militärmächte, Amerika, die Kolonien und Japan der Ansteckung weniger ausgesetzt sind." Sollte die von Vielen gehegte und im Grunde nicht unwahrscheinliche Er¬ wartung sich erfüllen, daß der soziale Umsturz mehr oder weniger gewaltsam all¬ mählich die ganze Kulturwelt erobern wird, so scheint ein Zerfall aller großen Weltmächte auf die Dauer unvermeidlich zu sein. Das Zeitalter der Großmächte würde dann nahe vor seinem Abschluß suchen, und die aus imperialistischen Ge¬ lüsten erwachsenen Kriege würden bis auf weiteres von sozialen Kämpfen inner¬ halb desselben Volkes und von unzähligen, bewaffneten oder friedlichen Konflikten der vielen neuen Staatlein und Natiönchen 'miteinander abgelöst werden. Statt des erträumten Völkerbundes und dem Zeitalter des ewigen Friedens wäre uns dann eine Balkanisierung und Atomisierung des größeren Teiles Europas und ein Rückfall in den Zustand fortgesetzter mittelalterlicher Kleinkriege beschert, zu dem die prompt einsetzenden Bandenkriege zwischen Polen und Ukrainern, Russen und Finnen. Tschechen und Magyaren, Süöslaven und Italienern bereits den er¬ baulichen Auftakt liefern. Kapitalismus und Imperialismus haben die großen Einkreisungskriege gegen Deutschland entwickelt und haben vorläufig mit einer Vernichtung des deutschen Imperialismus und einer schweren Bedrohung des deutschen Kapitalis¬ mus geendet. Aber der Prozeß ist noch nicht beendet und kann leicht mit einem Zusammenbruch jeglichen Imperialismus und Großkapitalismns enden. Schon am Tage der Berliner Revolution gab der „Nieuwe Rotterdamsche Courant" dieser Auffassung drastischen Ausdruck: „Der große Krieg hat alle Aussicht, in einer Weltrevolution zu enden. Die Regierenden 'in England beginnen dies bereits einzusehen, wie sich aus Churchills Anordnungen ergibt. Er dersügte nämlich, daß die Herstellung von Munition

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/240>, abgerufen am 24.11.2024.