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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Bundesgenossen durch einen allgemeinen Angriff an allen Fronten den Todesstoß
zu versetzen. Unter einem Feldherrn von entschiedenen Fähigkeiten, mit Heeres¬
massen, wie sie die Weltgeschichte nicht gesehen hat, mit einem ungeheuren Auf¬
wand technischer Hilfsmittel von modernster Vervollkommnung rennt das Heeres-
aufgebot einer ganzen Welt auf ein Signal hin in einem Riesenansturm gegen
die Festung Mitteleuropa an. Das militärische Drama drängt auf seine Peripetie.

Eines der gefährlichsten Blendworte, mit denen die Ära Bethmann den
politischen Begleitprozeß dieser militärischen Abwandlung irregeführt hat, war die
dogmatische Forderung, Kriegsziele dürften in der Öffentlichkeit nur nach Maßgabe
des jeweils militärisch Erreichten aufgestellt werden. Wir belächelten unsere Feinde, die
die Wiedereroberung Elsaß-Lothringens, die Zerstückelung Österreich-Ungarns, dieLos-
lösung der halb polnischen Ostprovinzen Preußens verkündeten, während gleichzeitig
unsereHeere siegreich in Frankreich, Serbien undNutzland vordrangen. Und doch stählte
dies unermüdliche Fordern eines nicht Erreichten die nationale Willenskraft zu unge¬
heuren Leistungen, während bei uns derZweifel, ob und wie weit wir wohl das wirklich
eroberte Belgien und Französisch-Lothringen, Serbien und Ostrußland behalten sollten,
der Widerstreit zwischen strategischer Offensive und politischer Defensive die nationale
Spannkraft lähmte. Die Entente suggerierte ihren Völkern im Moment der Niederlage
die Zuversicht der Sieghaftigkeit, unsere Regierung und die politische Linke, mit der
sie liebäugelte, nährte im Augenblick des Sieges die Furcht vor einer Niederlage.
Die Entente führte Krieg, wir mußten den Krieg über uns ergehen lassen.

Wir hatten ihn nicht, er hatte uns. So kam es, daß wir in der Tat jenen
allerhöchstens taktisch brauchbaren Leitsatz sachlich ernst nahmen und befolgten.
Rein aus der Tatsache, daß wir gewisse Gebiete besetzt hatten, zogen weite Volks¬
kreise bei uns gefühlsmäßig den Schluß: wir müßten sie behalten. Verlor sich
der Krieg in die Defensive, so erließen wir Friedensresolutionen. Zeigten sich am
Horizont offensive Erfolgsausfichten, so wurden die Verzichtspropheten von gestern
unsicher. Auch die Altdeutschen, die Verkünder eines robusten Eroberungs¬
programmes, deren annexionistischem Heißhunger eine gewisse Stetigkeit nicht ab¬
zusprechen ist, nahmen an diesen Schwankungen Teil. Nach den Mißerfolgen im
Juli wurden auch sie sichtlich kleinlaut, in einem Zeitpunkt also, wo man für die
Wirkung nach außen ihr Säbelrasseln noch am ehesten hätte brauchen können:
ihr Verstummen wird nicht nur den Polen, sondern auch den Bulgaren nicht zum
geringsten als ein ausschlaggebendes Symptom gegolten haben, daß in Deutschland
die Zuversicht zum guten Ausgang zu schwinden beginne. Nicht eine Desavouierung
der Altdeutschen, wie Delbrück und Rohrbach rieten, sondern im Gegenteil eine
geheime Aufreizung wäre um jene Zeit das äußerpolitisch Nichtige gewesen.

Was im Juli verfehlt wurde, läßt sich heute nicht mehr gut machen. Aber
wir können aus den Fehlern von gestern lernen. Der neue Fehler, der heute
gewissermaßen an der Tagesordnung ist, wäre ein offenkundiger Rückzieher im Osten.
Die Randbemerkung, die Payer in seiner Hauptausschußrede an sein Stuttgarter
Programm geheftet hat, ist das äußerste Zugeständnis, das der "östlichen Neu¬
orientierung" und der dräuenden Linken äußerpolitisch gemacht werden darf.
Selbst wenn wir die Absicht hätten, den Osten im Friedensschluß preiszugeben,
so wäre es das denkbar Verfehlteste, das im Augenblick irgendwie zu verlaut-
baren. Vielmehr ist es die Aufgabe unserer Staatsmänner, eS der deutschen
Öffentlichkeit mit allen Mitteln einsichtig zu machen, daß die Aufrechterhaltung
der deutschen Vorherrschaft im Osten im Augenblick absolut zum deutschen Defen¬
sivprogramm gehört. Mit der Preisgabe Finnlands und der baltischen Lande
öffnen wir England ein neues Einfallstor in Europa. Wir verhelfen der enten-
tistischen Orientierung in Rußland zum sicheren Sieg und bauen gegen uns selbst
eine neue Ostfront. Für den immerhin denkbaren Fall, daß wir von der Türkei


Letzt« Stunde

Bundesgenossen durch einen allgemeinen Angriff an allen Fronten den Todesstoß
zu versetzen. Unter einem Feldherrn von entschiedenen Fähigkeiten, mit Heeres¬
massen, wie sie die Weltgeschichte nicht gesehen hat, mit einem ungeheuren Auf¬
wand technischer Hilfsmittel von modernster Vervollkommnung rennt das Heeres-
aufgebot einer ganzen Welt auf ein Signal hin in einem Riesenansturm gegen
die Festung Mitteleuropa an. Das militärische Drama drängt auf seine Peripetie.

Eines der gefährlichsten Blendworte, mit denen die Ära Bethmann den
politischen Begleitprozeß dieser militärischen Abwandlung irregeführt hat, war die
dogmatische Forderung, Kriegsziele dürften in der Öffentlichkeit nur nach Maßgabe
des jeweils militärisch Erreichten aufgestellt werden. Wir belächelten unsere Feinde, die
die Wiedereroberung Elsaß-Lothringens, die Zerstückelung Österreich-Ungarns, dieLos-
lösung der halb polnischen Ostprovinzen Preußens verkündeten, während gleichzeitig
unsereHeere siegreich in Frankreich, Serbien undNutzland vordrangen. Und doch stählte
dies unermüdliche Fordern eines nicht Erreichten die nationale Willenskraft zu unge¬
heuren Leistungen, während bei uns derZweifel, ob und wie weit wir wohl das wirklich
eroberte Belgien und Französisch-Lothringen, Serbien und Ostrußland behalten sollten,
der Widerstreit zwischen strategischer Offensive und politischer Defensive die nationale
Spannkraft lähmte. Die Entente suggerierte ihren Völkern im Moment der Niederlage
die Zuversicht der Sieghaftigkeit, unsere Regierung und die politische Linke, mit der
sie liebäugelte, nährte im Augenblick des Sieges die Furcht vor einer Niederlage.
Die Entente führte Krieg, wir mußten den Krieg über uns ergehen lassen.

Wir hatten ihn nicht, er hatte uns. So kam es, daß wir in der Tat jenen
allerhöchstens taktisch brauchbaren Leitsatz sachlich ernst nahmen und befolgten.
Rein aus der Tatsache, daß wir gewisse Gebiete besetzt hatten, zogen weite Volks¬
kreise bei uns gefühlsmäßig den Schluß: wir müßten sie behalten. Verlor sich
der Krieg in die Defensive, so erließen wir Friedensresolutionen. Zeigten sich am
Horizont offensive Erfolgsausfichten, so wurden die Verzichtspropheten von gestern
unsicher. Auch die Altdeutschen, die Verkünder eines robusten Eroberungs¬
programmes, deren annexionistischem Heißhunger eine gewisse Stetigkeit nicht ab¬
zusprechen ist, nahmen an diesen Schwankungen Teil. Nach den Mißerfolgen im
Juli wurden auch sie sichtlich kleinlaut, in einem Zeitpunkt also, wo man für die
Wirkung nach außen ihr Säbelrasseln noch am ehesten hätte brauchen können:
ihr Verstummen wird nicht nur den Polen, sondern auch den Bulgaren nicht zum
geringsten als ein ausschlaggebendes Symptom gegolten haben, daß in Deutschland
die Zuversicht zum guten Ausgang zu schwinden beginne. Nicht eine Desavouierung
der Altdeutschen, wie Delbrück und Rohrbach rieten, sondern im Gegenteil eine
geheime Aufreizung wäre um jene Zeit das äußerpolitisch Nichtige gewesen.

Was im Juli verfehlt wurde, läßt sich heute nicht mehr gut machen. Aber
wir können aus den Fehlern von gestern lernen. Der neue Fehler, der heute
gewissermaßen an der Tagesordnung ist, wäre ein offenkundiger Rückzieher im Osten.
Die Randbemerkung, die Payer in seiner Hauptausschußrede an sein Stuttgarter
Programm geheftet hat, ist das äußerste Zugeständnis, das der „östlichen Neu¬
orientierung" und der dräuenden Linken äußerpolitisch gemacht werden darf.
Selbst wenn wir die Absicht hätten, den Osten im Friedensschluß preiszugeben,
so wäre es das denkbar Verfehlteste, das im Augenblick irgendwie zu verlaut-
baren. Vielmehr ist es die Aufgabe unserer Staatsmänner, eS der deutschen
Öffentlichkeit mit allen Mitteln einsichtig zu machen, daß die Aufrechterhaltung
der deutschen Vorherrschaft im Osten im Augenblick absolut zum deutschen Defen¬
sivprogramm gehört. Mit der Preisgabe Finnlands und der baltischen Lande
öffnen wir England ein neues Einfallstor in Europa. Wir verhelfen der enten-
tistischen Orientierung in Rußland zum sicheren Sieg und bauen gegen uns selbst
eine neue Ostfront. Für den immerhin denkbaren Fall, daß wir von der Türkei


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[0014] Letzt« Stunde Bundesgenossen durch einen allgemeinen Angriff an allen Fronten den Todesstoß zu versetzen. Unter einem Feldherrn von entschiedenen Fähigkeiten, mit Heeres¬ massen, wie sie die Weltgeschichte nicht gesehen hat, mit einem ungeheuren Auf¬ wand technischer Hilfsmittel von modernster Vervollkommnung rennt das Heeres- aufgebot einer ganzen Welt auf ein Signal hin in einem Riesenansturm gegen die Festung Mitteleuropa an. Das militärische Drama drängt auf seine Peripetie. Eines der gefährlichsten Blendworte, mit denen die Ära Bethmann den politischen Begleitprozeß dieser militärischen Abwandlung irregeführt hat, war die dogmatische Forderung, Kriegsziele dürften in der Öffentlichkeit nur nach Maßgabe des jeweils militärisch Erreichten aufgestellt werden. Wir belächelten unsere Feinde, die die Wiedereroberung Elsaß-Lothringens, die Zerstückelung Österreich-Ungarns, dieLos- lösung der halb polnischen Ostprovinzen Preußens verkündeten, während gleichzeitig unsereHeere siegreich in Frankreich, Serbien undNutzland vordrangen. Und doch stählte dies unermüdliche Fordern eines nicht Erreichten die nationale Willenskraft zu unge¬ heuren Leistungen, während bei uns derZweifel, ob und wie weit wir wohl das wirklich eroberte Belgien und Französisch-Lothringen, Serbien und Ostrußland behalten sollten, der Widerstreit zwischen strategischer Offensive und politischer Defensive die nationale Spannkraft lähmte. Die Entente suggerierte ihren Völkern im Moment der Niederlage die Zuversicht der Sieghaftigkeit, unsere Regierung und die politische Linke, mit der sie liebäugelte, nährte im Augenblick des Sieges die Furcht vor einer Niederlage. Die Entente führte Krieg, wir mußten den Krieg über uns ergehen lassen. Wir hatten ihn nicht, er hatte uns. So kam es, daß wir in der Tat jenen allerhöchstens taktisch brauchbaren Leitsatz sachlich ernst nahmen und befolgten. Rein aus der Tatsache, daß wir gewisse Gebiete besetzt hatten, zogen weite Volks¬ kreise bei uns gefühlsmäßig den Schluß: wir müßten sie behalten. Verlor sich der Krieg in die Defensive, so erließen wir Friedensresolutionen. Zeigten sich am Horizont offensive Erfolgsausfichten, so wurden die Verzichtspropheten von gestern unsicher. Auch die Altdeutschen, die Verkünder eines robusten Eroberungs¬ programmes, deren annexionistischem Heißhunger eine gewisse Stetigkeit nicht ab¬ zusprechen ist, nahmen an diesen Schwankungen Teil. Nach den Mißerfolgen im Juli wurden auch sie sichtlich kleinlaut, in einem Zeitpunkt also, wo man für die Wirkung nach außen ihr Säbelrasseln noch am ehesten hätte brauchen können: ihr Verstummen wird nicht nur den Polen, sondern auch den Bulgaren nicht zum geringsten als ein ausschlaggebendes Symptom gegolten haben, daß in Deutschland die Zuversicht zum guten Ausgang zu schwinden beginne. Nicht eine Desavouierung der Altdeutschen, wie Delbrück und Rohrbach rieten, sondern im Gegenteil eine geheime Aufreizung wäre um jene Zeit das äußerpolitisch Nichtige gewesen. Was im Juli verfehlt wurde, läßt sich heute nicht mehr gut machen. Aber wir können aus den Fehlern von gestern lernen. Der neue Fehler, der heute gewissermaßen an der Tagesordnung ist, wäre ein offenkundiger Rückzieher im Osten. Die Randbemerkung, die Payer in seiner Hauptausschußrede an sein Stuttgarter Programm geheftet hat, ist das äußerste Zugeständnis, das der „östlichen Neu¬ orientierung" und der dräuenden Linken äußerpolitisch gemacht werden darf. Selbst wenn wir die Absicht hätten, den Osten im Friedensschluß preiszugeben, so wäre es das denkbar Verfehlteste, das im Augenblick irgendwie zu verlaut- baren. Vielmehr ist es die Aufgabe unserer Staatsmänner, eS der deutschen Öffentlichkeit mit allen Mitteln einsichtig zu machen, daß die Aufrechterhaltung der deutschen Vorherrschaft im Osten im Augenblick absolut zum deutschen Defen¬ sivprogramm gehört. Mit der Preisgabe Finnlands und der baltischen Lande öffnen wir England ein neues Einfallstor in Europa. Wir verhelfen der enten- tistischen Orientierung in Rußland zum sicheren Sieg und bauen gegen uns selbst eine neue Ostfront. Für den immerhin denkbaren Fall, daß wir von der Türkei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/14>, abgerufen am 24.11.2024.