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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Thukydides); 2) die Klassiker der antiken Staatstheorien (Platon, Aristoteles);
3) das griechische Erbe im republikanischen Rom (Polybios, Cicero); 4) der Helle¬
nismus. Dann das "Mittelalter": 1) Patristische Staatsauffassung (Augustin);
2) scholastische Staatstheorie (Thomas von Aquino); 3) Mittelalterlicher Staats¬
universalismus -- besser wäre wohl: Theorie des Universalstaats -- (Dante);
4) Säkularisierung der Staatsidee (Marsilius von Padua, Machiavelli). Endlich
"Reformation und Gegenreformation" (Luther, Calvin, Jesuiten).

Sehr wesentliche Einwände aber ergeben sich beim zweiten und dritten Heft,
die das 16. bis 18. Jahrhundert, beziehungsweise das 19. Jahrhundert umfassen.
Jenes trennt Rühlmann in drei Teile: die Lehre vom Staatsverträge, die abso¬
lutistische Theorie und die Volkssouveränitätslehre. Schon rein äußerlich ist diese
Zerlegung eine Unmöglichkeit, denn der erste und dritte Abschnitt lassen sich nicht
voneinander scheiden. Oder sind etwa die Milton, Locke, Montesquieu und
Rousseau (I) nicht auch typische Vertreter der Vertragstheorie -- wie übrigens
ebenfalls die Absolutisten Hobbes und Friedrich der Große? Wohl konnte, man
dem großen holländischen Staatslehrer Grotius einen besonderen Platz anweisen,
dann mußte aber nicht das Merkmal des Staatsvertrages, sondern das der Staats¬
souveränität (im Gegensatz zur Fürsten- und Volkssouveränität), wofür Rühlmann
selbst die entscheidende Belegstelle anführt, die Rolle der äikierentm specim'eg,
spielen. Die vom Verfasser vorgenommene Auswahl unter der Publizistik des
16. bis 18. Jahrhunderts gibt übrigens ein schiefes Bild. Im ganzen Abschnitt
erscheint bloß ein deutscher Theoretiker, Friedrich der Große. Wo bleiben die
Althus, Pufendorf, Leibniz, um nur die bekanntesten Namen zu nennen?

Noch böser werden die Schwierigkeiten der stofflichen Gliederung im dritten
Heft. Hier -- also für das 19. Jahrhundert -- unterscheidet Rühlmann vier
Staatsauffassungen: die liberale, die konservative, die sozialistische und die realistische.
Es ist nicht ohne weiteres klar, was unter der letzten zu verstehen ist. Als ihre
Vertreter sprechen das Freundespaar Gentz und Adam Müller, Hegel, Ranke
sowie in skizzierter Fortführung der Entwicklungslinie von den Lebenden Gierke
und Rudolf Kjellen. Die Staatsauffassung des schwedischen Gelehrten ist den
Lesern der "Grenzboten" bekannt. Er sieht in den Staaten vor allem konkrete
Gestalten, tatsächliche Realitäten, "Mächte" im Sinne der äußeren Politik. (Vgl.
meinen Aufsatz: Der Staat als Lebensform. 1917, Heft 43.) Diese "realistische"
Auffassung also eint die oben genannten Männer; Rankes oft zitierte "moralische
Energien", Hegels Staat "als die Wirklichkeit des substanziellen Willens" sind
nur andere Worte für das, was Adam Müller "Individuen" nennt und was sein
Freund Gentz mit dem Blicke des praktischen Staatsmannes als Kräftezentren in
den "Fragmenten aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichts in
Europa" erschaut.

Schon aus dem bisher Gesagten ergibt sich das angekündigte Bedenken.
Ist es denn möglich, die realistische Staatsauffassung gleichgeordnet neben die drei
parteipolitischer Orientierungen zu stellen? Gehört nicht Ranke in denselben
Kreis "konservativer" Staatsbetrachtung wie Friedrich Julius Stahl und sind nicht
ebenso die Gentz und Müller Triarier der Restauration wie Ludwig von Haller?
Aber davon abgesehen, hob Rühlmann die "Realisten" besonders heraus, so durfte
er die juristische und soziale Betrachtungsweise des Staates nicht unter den Tisch
fallen' lassen. Unter seinen Quellen sucht man vergebens nach dem sozialen
und juristischen Staatsbegriff, wie ihn die moderne Staatsrechtswissenschaft for¬
muliert hat. Die Definitionen Kants und selbst Treitschkes sind da kein voll¬
gültiger Ersatz. Gerade aber in dem verwirrenden Musterteppich politisch und.
Philosophisch gefärbter Staatsanschauungen durften die klaren Fäden unserer
modernen spezifisch-juristischen Staatslehre nicht fehlen, sonst verliert gerade der
Lernende den festen Ausgangspunkt. Den Vorwurf eines Torsos muß man
auch in anderer Beziehung gegen die Arbeit des Verfassers erheben. Gerade
wenn sie (nach dem Vorwort) "mithelfen soll zu freudigem Bekenntnis zum Staats-
gedanken", mußte das eigentümlich Deutsche des Problems hervorgehoben werden.
Das konnte nur durch vergleichende Heranziehung der ausländischen Literatur


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Thukydides); 2) die Klassiker der antiken Staatstheorien (Platon, Aristoteles);
3) das griechische Erbe im republikanischen Rom (Polybios, Cicero); 4) der Helle¬
nismus. Dann das „Mittelalter": 1) Patristische Staatsauffassung (Augustin);
2) scholastische Staatstheorie (Thomas von Aquino); 3) Mittelalterlicher Staats¬
universalismus — besser wäre wohl: Theorie des Universalstaats — (Dante);
4) Säkularisierung der Staatsidee (Marsilius von Padua, Machiavelli). Endlich
„Reformation und Gegenreformation" (Luther, Calvin, Jesuiten).

Sehr wesentliche Einwände aber ergeben sich beim zweiten und dritten Heft,
die das 16. bis 18. Jahrhundert, beziehungsweise das 19. Jahrhundert umfassen.
Jenes trennt Rühlmann in drei Teile: die Lehre vom Staatsverträge, die abso¬
lutistische Theorie und die Volkssouveränitätslehre. Schon rein äußerlich ist diese
Zerlegung eine Unmöglichkeit, denn der erste und dritte Abschnitt lassen sich nicht
voneinander scheiden. Oder sind etwa die Milton, Locke, Montesquieu und
Rousseau (I) nicht auch typische Vertreter der Vertragstheorie — wie übrigens
ebenfalls die Absolutisten Hobbes und Friedrich der Große? Wohl konnte, man
dem großen holländischen Staatslehrer Grotius einen besonderen Platz anweisen,
dann mußte aber nicht das Merkmal des Staatsvertrages, sondern das der Staats¬
souveränität (im Gegensatz zur Fürsten- und Volkssouveränität), wofür Rühlmann
selbst die entscheidende Belegstelle anführt, die Rolle der äikierentm specim'eg,
spielen. Die vom Verfasser vorgenommene Auswahl unter der Publizistik des
16. bis 18. Jahrhunderts gibt übrigens ein schiefes Bild. Im ganzen Abschnitt
erscheint bloß ein deutscher Theoretiker, Friedrich der Große. Wo bleiben die
Althus, Pufendorf, Leibniz, um nur die bekanntesten Namen zu nennen?

Noch böser werden die Schwierigkeiten der stofflichen Gliederung im dritten
Heft. Hier — also für das 19. Jahrhundert — unterscheidet Rühlmann vier
Staatsauffassungen: die liberale, die konservative, die sozialistische und die realistische.
Es ist nicht ohne weiteres klar, was unter der letzten zu verstehen ist. Als ihre
Vertreter sprechen das Freundespaar Gentz und Adam Müller, Hegel, Ranke
sowie in skizzierter Fortführung der Entwicklungslinie von den Lebenden Gierke
und Rudolf Kjellen. Die Staatsauffassung des schwedischen Gelehrten ist den
Lesern der „Grenzboten" bekannt. Er sieht in den Staaten vor allem konkrete
Gestalten, tatsächliche Realitäten, „Mächte" im Sinne der äußeren Politik. (Vgl.
meinen Aufsatz: Der Staat als Lebensform. 1917, Heft 43.) Diese „realistische"
Auffassung also eint die oben genannten Männer; Rankes oft zitierte „moralische
Energien", Hegels Staat „als die Wirklichkeit des substanziellen Willens" sind
nur andere Worte für das, was Adam Müller „Individuen" nennt und was sein
Freund Gentz mit dem Blicke des praktischen Staatsmannes als Kräftezentren in
den „Fragmenten aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichts in
Europa" erschaut.

Schon aus dem bisher Gesagten ergibt sich das angekündigte Bedenken.
Ist es denn möglich, die realistische Staatsauffassung gleichgeordnet neben die drei
parteipolitischer Orientierungen zu stellen? Gehört nicht Ranke in denselben
Kreis „konservativer" Staatsbetrachtung wie Friedrich Julius Stahl und sind nicht
ebenso die Gentz und Müller Triarier der Restauration wie Ludwig von Haller?
Aber davon abgesehen, hob Rühlmann die „Realisten" besonders heraus, so durfte
er die juristische und soziale Betrachtungsweise des Staates nicht unter den Tisch
fallen' lassen. Unter seinen Quellen sucht man vergebens nach dem sozialen
und juristischen Staatsbegriff, wie ihn die moderne Staatsrechtswissenschaft for¬
muliert hat. Die Definitionen Kants und selbst Treitschkes sind da kein voll¬
gültiger Ersatz. Gerade aber in dem verwirrenden Musterteppich politisch und.
Philosophisch gefärbter Staatsanschauungen durften die klaren Fäden unserer
modernen spezifisch-juristischen Staatslehre nicht fehlen, sonst verliert gerade der
Lernende den festen Ausgangspunkt. Den Vorwurf eines Torsos muß man
auch in anderer Beziehung gegen die Arbeit des Verfassers erheben. Gerade
wenn sie (nach dem Vorwort) „mithelfen soll zu freudigem Bekenntnis zum Staats-
gedanken", mußte das eigentümlich Deutsche des Problems hervorgehoben werden.
Das konnte nur durch vergleichende Heranziehung der ausländischen Literatur


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[0115] Neue Lücher Thukydides); 2) die Klassiker der antiken Staatstheorien (Platon, Aristoteles); 3) das griechische Erbe im republikanischen Rom (Polybios, Cicero); 4) der Helle¬ nismus. Dann das „Mittelalter": 1) Patristische Staatsauffassung (Augustin); 2) scholastische Staatstheorie (Thomas von Aquino); 3) Mittelalterlicher Staats¬ universalismus — besser wäre wohl: Theorie des Universalstaats — (Dante); 4) Säkularisierung der Staatsidee (Marsilius von Padua, Machiavelli). Endlich „Reformation und Gegenreformation" (Luther, Calvin, Jesuiten). Sehr wesentliche Einwände aber ergeben sich beim zweiten und dritten Heft, die das 16. bis 18. Jahrhundert, beziehungsweise das 19. Jahrhundert umfassen. Jenes trennt Rühlmann in drei Teile: die Lehre vom Staatsverträge, die abso¬ lutistische Theorie und die Volkssouveränitätslehre. Schon rein äußerlich ist diese Zerlegung eine Unmöglichkeit, denn der erste und dritte Abschnitt lassen sich nicht voneinander scheiden. Oder sind etwa die Milton, Locke, Montesquieu und Rousseau (I) nicht auch typische Vertreter der Vertragstheorie — wie übrigens ebenfalls die Absolutisten Hobbes und Friedrich der Große? Wohl konnte, man dem großen holländischen Staatslehrer Grotius einen besonderen Platz anweisen, dann mußte aber nicht das Merkmal des Staatsvertrages, sondern das der Staats¬ souveränität (im Gegensatz zur Fürsten- und Volkssouveränität), wofür Rühlmann selbst die entscheidende Belegstelle anführt, die Rolle der äikierentm specim'eg, spielen. Die vom Verfasser vorgenommene Auswahl unter der Publizistik des 16. bis 18. Jahrhunderts gibt übrigens ein schiefes Bild. Im ganzen Abschnitt erscheint bloß ein deutscher Theoretiker, Friedrich der Große. Wo bleiben die Althus, Pufendorf, Leibniz, um nur die bekanntesten Namen zu nennen? Noch böser werden die Schwierigkeiten der stofflichen Gliederung im dritten Heft. Hier — also für das 19. Jahrhundert — unterscheidet Rühlmann vier Staatsauffassungen: die liberale, die konservative, die sozialistische und die realistische. Es ist nicht ohne weiteres klar, was unter der letzten zu verstehen ist. Als ihre Vertreter sprechen das Freundespaar Gentz und Adam Müller, Hegel, Ranke sowie in skizzierter Fortführung der Entwicklungslinie von den Lebenden Gierke und Rudolf Kjellen. Die Staatsauffassung des schwedischen Gelehrten ist den Lesern der „Grenzboten" bekannt. Er sieht in den Staaten vor allem konkrete Gestalten, tatsächliche Realitäten, „Mächte" im Sinne der äußeren Politik. (Vgl. meinen Aufsatz: Der Staat als Lebensform. 1917, Heft 43.) Diese „realistische" Auffassung also eint die oben genannten Männer; Rankes oft zitierte „moralische Energien", Hegels Staat „als die Wirklichkeit des substanziellen Willens" sind nur andere Worte für das, was Adam Müller „Individuen" nennt und was sein Freund Gentz mit dem Blicke des praktischen Staatsmannes als Kräftezentren in den „Fragmenten aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichts in Europa" erschaut. Schon aus dem bisher Gesagten ergibt sich das angekündigte Bedenken. Ist es denn möglich, die realistische Staatsauffassung gleichgeordnet neben die drei parteipolitischer Orientierungen zu stellen? Gehört nicht Ranke in denselben Kreis „konservativer" Staatsbetrachtung wie Friedrich Julius Stahl und sind nicht ebenso die Gentz und Müller Triarier der Restauration wie Ludwig von Haller? Aber davon abgesehen, hob Rühlmann die „Realisten" besonders heraus, so durfte er die juristische und soziale Betrachtungsweise des Staates nicht unter den Tisch fallen' lassen. Unter seinen Quellen sucht man vergebens nach dem sozialen und juristischen Staatsbegriff, wie ihn die moderne Staatsrechtswissenschaft for¬ muliert hat. Die Definitionen Kants und selbst Treitschkes sind da kein voll¬ gültiger Ersatz. Gerade aber in dem verwirrenden Musterteppich politisch und. Philosophisch gefärbter Staatsanschauungen durften die klaren Fäden unserer modernen spezifisch-juristischen Staatslehre nicht fehlen, sonst verliert gerade der Lernende den festen Ausgangspunkt. Den Vorwurf eines Torsos muß man auch in anderer Beziehung gegen die Arbeit des Verfassers erheben. Gerade wenn sie (nach dem Vorwort) „mithelfen soll zu freudigem Bekenntnis zum Staats- gedanken", mußte das eigentümlich Deutsche des Problems hervorgehoben werden. Das konnte nur durch vergleichende Heranziehung der ausländischen Literatur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/115>, abgerufen am 24.11.2024.