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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Art. 9 Abs. 2 R.V. erhobenist es gelungen, diese Zitadelle des bisherige"
Systems vorderhand noch zu erhalten. Wie wir schon vor einer Woche an¬
deuteten, hat man einen Weg zur Umgehung der daraus sich ergebenden
Schwierigkeiten gesunden. Eine Aufhebung des Art. 9 Abs. 2 -- so heißt es in
der Begründung' zum Gesetzentwurf des Bundesrath vom 8. Oktober -- kommt
nicht in Frage, weil dadurch ein für den Aufbau des Reichs wesentlicher Grund¬
satz . . . verwischt werden würde, wonach Bundesrat und Reichstag sich als die
gesetzgebenden Körperschaften des Reichs unabhängig voneinander und gleich¬
berechtigt gegenüberstehen. Da nun aber nach der Verfassung (Art. 9 Abs. 1)
Kanzler und Staatssekretäre nur als Mitglieder des Bundesrath vor dem
Reichstage erscheinen können, so wäre den parlamentarischen Ministern bei
Aufrechterhaltung der bekannten Sperrbestimmung (Art. 9 Abs. 2) die Möglich¬
keit eines parlamentarischen Auftretens benommen, >d. h. sie wären gleichsam
von ihrem Lebensboten abgeschnitten. Diese Ungeheuerlichkeit beseitigt ein
Zusatz zum Gesetz über die Stellvertretung des Reichskanzlers vom 17. März 1878,
wie ihn Z 2 des oben erwähnten Entwurfs Vorsicht, der besagt, daß die Ver¬
treter des Reichskanzlers, zu denen von nun an -- nicht nur die Vor¬
stände der obersten Reichsbehörden, sondern -- auch jene ressortlosen Staats¬
sekretäre bestellt werden können, im Reichstage auf Verlangen jederzeit gehört
werden müssen -- auch wenn sie nicht Mitglieder des Bundesrates sind.")

Eine weitere Gefahr, die den neuen Männern in der Regierung drohte,
ist durch Aufhebung von Art. 21 Abs. 2 der R.V. beschworen, der bestimmte,
daß Mitglieder des Reichstags ihren Sitz verlieren, wenn sie ein besoldetes
Reichs- oder Staatsamt annehmen.

So wäre alles in schönster Ordnung? Äußerlich gewiß, innerlich ist das
Problem aber keineswegs gelöst. Die Staatssekretäre ohne Portefeuille, so hat
man nicht mit Unrecht'gesagt, werden zwar Sprechminister, haben aber keinen
unmittelbaren Einfluß auf die Entscheidungen des Bundesrath. Diesen könnten
sie nur dadurch erlangen, daß man sie gleichzeitig zu preußische" Staatsministern
ernennt, wie das bei bureaukratischen Staatssekretären seit jeher, zuletzt bei
von Roedern und Wallraf, Übung war. Dann hätten sie Gelegenheit, die
Instruktion der preußischen Bundesratsbevollmächtigten, und dadurch die
Beschlüsse dieser Behörde selbst praktisch mit zu beeinflussen.

So wie die Dinge jetzt liegen, ist ein Kompromiß geschaffen mit allen
Folgen eines solchen. Rand wie vor gibt es, um es ganz kraß auszudrücken, zwei
"Regierungen" oder jetzt eigentlich drei, nämlich 1. die Staatssekretäre ohne
Portefeuille, 2. die bisherige'"Reichsleituug" (.Kanzler und Ressortminister) und
3. das Plenum des Bundesrath, aber der Bundesrat ist die größeste unter ihnen.
Unter den vielen Farben dieses verfassungsrechtlichen Chamäleons leuchtet doch
am stärksten diejenige, bei der es als "gemeinschaftliches Ministerium" (Bismarck)
der Verbündeten Regierungen, als Träger ihrer obrigkeitlich gebildeten und
gerichteten Herrschgewalt erscheint, neben der die später ausgewachsenen und
zugewachsenen beamtlichen Organe (Kanzler und Staatssekretäre) eben nur die
bescheidene Rolle einer "Reichsleitung" spielen sollten, neben der für ein
parlamentarisches Reichsministerkollegülin, das nach dem Gedanken des Einheits¬
staats gravitiert, nun schon gar kein Raum ist. So sehen wir an der entscheiden¬
den Stelle des Reichsorganismus, wo vor allem klare Verhältnisse herrschen
sollen, eine organische Überladung, die auf die Dauer mit Notwendigkeit eine
einseitige Losung heischt, was ohne Sieg auf der einen, Niederlage auf der
anderen Seite eben acht zu erreichen ist.




') Vgl. Heft 42. S. 71. Die "Nordd. Allg. Zeitung" stellt zwar einen offiziellen Schritt im Schoße des
Bundesrath in Abrede. Doch war die Stimmung namentlich Sachsens und Bayern"
-- wo man >um die Reservatrechte bangte -- ganz deutlich zu erkennen.
-) Dieser Zusatz, der wunderlicherweise im Entwurf vom 8. Oktober, so wie er
der Presse zuging, fehlt, enthält den Kernpunkt der Angelegenheit.
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Art. 9 Abs. 2 R.V. erhobenist es gelungen, diese Zitadelle des bisherige«
Systems vorderhand noch zu erhalten. Wie wir schon vor einer Woche an¬
deuteten, hat man einen Weg zur Umgehung der daraus sich ergebenden
Schwierigkeiten gesunden. Eine Aufhebung des Art. 9 Abs. 2 — so heißt es in
der Begründung' zum Gesetzentwurf des Bundesrath vom 8. Oktober — kommt
nicht in Frage, weil dadurch ein für den Aufbau des Reichs wesentlicher Grund¬
satz . . . verwischt werden würde, wonach Bundesrat und Reichstag sich als die
gesetzgebenden Körperschaften des Reichs unabhängig voneinander und gleich¬
berechtigt gegenüberstehen. Da nun aber nach der Verfassung (Art. 9 Abs. 1)
Kanzler und Staatssekretäre nur als Mitglieder des Bundesrath vor dem
Reichstage erscheinen können, so wäre den parlamentarischen Ministern bei
Aufrechterhaltung der bekannten Sperrbestimmung (Art. 9 Abs. 2) die Möglich¬
keit eines parlamentarischen Auftretens benommen, >d. h. sie wären gleichsam
von ihrem Lebensboten abgeschnitten. Diese Ungeheuerlichkeit beseitigt ein
Zusatz zum Gesetz über die Stellvertretung des Reichskanzlers vom 17. März 1878,
wie ihn Z 2 des oben erwähnten Entwurfs Vorsicht, der besagt, daß die Ver¬
treter des Reichskanzlers, zu denen von nun an — nicht nur die Vor¬
stände der obersten Reichsbehörden, sondern — auch jene ressortlosen Staats¬
sekretäre bestellt werden können, im Reichstage auf Verlangen jederzeit gehört
werden müssen — auch wenn sie nicht Mitglieder des Bundesrates sind.")

Eine weitere Gefahr, die den neuen Männern in der Regierung drohte,
ist durch Aufhebung von Art. 21 Abs. 2 der R.V. beschworen, der bestimmte,
daß Mitglieder des Reichstags ihren Sitz verlieren, wenn sie ein besoldetes
Reichs- oder Staatsamt annehmen.

So wäre alles in schönster Ordnung? Äußerlich gewiß, innerlich ist das
Problem aber keineswegs gelöst. Die Staatssekretäre ohne Portefeuille, so hat
man nicht mit Unrecht'gesagt, werden zwar Sprechminister, haben aber keinen
unmittelbaren Einfluß auf die Entscheidungen des Bundesrath. Diesen könnten
sie nur dadurch erlangen, daß man sie gleichzeitig zu preußische« Staatsministern
ernennt, wie das bei bureaukratischen Staatssekretären seit jeher, zuletzt bei
von Roedern und Wallraf, Übung war. Dann hätten sie Gelegenheit, die
Instruktion der preußischen Bundesratsbevollmächtigten, und dadurch die
Beschlüsse dieser Behörde selbst praktisch mit zu beeinflussen.

So wie die Dinge jetzt liegen, ist ein Kompromiß geschaffen mit allen
Folgen eines solchen. Rand wie vor gibt es, um es ganz kraß auszudrücken, zwei
„Regierungen" oder jetzt eigentlich drei, nämlich 1. die Staatssekretäre ohne
Portefeuille, 2. die bisherige'„Reichsleituug" (.Kanzler und Ressortminister) und
3. das Plenum des Bundesrath, aber der Bundesrat ist die größeste unter ihnen.
Unter den vielen Farben dieses verfassungsrechtlichen Chamäleons leuchtet doch
am stärksten diejenige, bei der es als „gemeinschaftliches Ministerium" (Bismarck)
der Verbündeten Regierungen, als Träger ihrer obrigkeitlich gebildeten und
gerichteten Herrschgewalt erscheint, neben der die später ausgewachsenen und
zugewachsenen beamtlichen Organe (Kanzler und Staatssekretäre) eben nur die
bescheidene Rolle einer „Reichsleitung" spielen sollten, neben der für ein
parlamentarisches Reichsministerkollegülin, das nach dem Gedanken des Einheits¬
staats gravitiert, nun schon gar kein Raum ist. So sehen wir an der entscheiden¬
den Stelle des Reichsorganismus, wo vor allem klare Verhältnisse herrschen
sollen, eine organische Überladung, die auf die Dauer mit Notwendigkeit eine
einseitige Losung heischt, was ohne Sieg auf der einen, Niederlage auf der
anderen Seite eben acht zu erreichen ist.




') Vgl. Heft 42. S. 71. Die „Nordd. Allg. Zeitung" stellt zwar einen offiziellen Schritt im Schoße des
Bundesrath in Abrede. Doch war die Stimmung namentlich Sachsens und Bayern»
— wo man >um die Reservatrechte bangte — ganz deutlich zu erkennen.
-) Dieser Zusatz, der wunderlicherweise im Entwurf vom 8. Oktober, so wie er
der Presse zuging, fehlt, enthält den Kernpunkt der Angelegenheit.
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[0106] Wandlungen Art. 9 Abs. 2 R.V. erhobenist es gelungen, diese Zitadelle des bisherige« Systems vorderhand noch zu erhalten. Wie wir schon vor einer Woche an¬ deuteten, hat man einen Weg zur Umgehung der daraus sich ergebenden Schwierigkeiten gesunden. Eine Aufhebung des Art. 9 Abs. 2 — so heißt es in der Begründung' zum Gesetzentwurf des Bundesrath vom 8. Oktober — kommt nicht in Frage, weil dadurch ein für den Aufbau des Reichs wesentlicher Grund¬ satz . . . verwischt werden würde, wonach Bundesrat und Reichstag sich als die gesetzgebenden Körperschaften des Reichs unabhängig voneinander und gleich¬ berechtigt gegenüberstehen. Da nun aber nach der Verfassung (Art. 9 Abs. 1) Kanzler und Staatssekretäre nur als Mitglieder des Bundesrath vor dem Reichstage erscheinen können, so wäre den parlamentarischen Ministern bei Aufrechterhaltung der bekannten Sperrbestimmung (Art. 9 Abs. 2) die Möglich¬ keit eines parlamentarischen Auftretens benommen, >d. h. sie wären gleichsam von ihrem Lebensboten abgeschnitten. Diese Ungeheuerlichkeit beseitigt ein Zusatz zum Gesetz über die Stellvertretung des Reichskanzlers vom 17. März 1878, wie ihn Z 2 des oben erwähnten Entwurfs Vorsicht, der besagt, daß die Ver¬ treter des Reichskanzlers, zu denen von nun an — nicht nur die Vor¬ stände der obersten Reichsbehörden, sondern — auch jene ressortlosen Staats¬ sekretäre bestellt werden können, im Reichstage auf Verlangen jederzeit gehört werden müssen — auch wenn sie nicht Mitglieder des Bundesrates sind.") Eine weitere Gefahr, die den neuen Männern in der Regierung drohte, ist durch Aufhebung von Art. 21 Abs. 2 der R.V. beschworen, der bestimmte, daß Mitglieder des Reichstags ihren Sitz verlieren, wenn sie ein besoldetes Reichs- oder Staatsamt annehmen. So wäre alles in schönster Ordnung? Äußerlich gewiß, innerlich ist das Problem aber keineswegs gelöst. Die Staatssekretäre ohne Portefeuille, so hat man nicht mit Unrecht'gesagt, werden zwar Sprechminister, haben aber keinen unmittelbaren Einfluß auf die Entscheidungen des Bundesrath. Diesen könnten sie nur dadurch erlangen, daß man sie gleichzeitig zu preußische« Staatsministern ernennt, wie das bei bureaukratischen Staatssekretären seit jeher, zuletzt bei von Roedern und Wallraf, Übung war. Dann hätten sie Gelegenheit, die Instruktion der preußischen Bundesratsbevollmächtigten, und dadurch die Beschlüsse dieser Behörde selbst praktisch mit zu beeinflussen. So wie die Dinge jetzt liegen, ist ein Kompromiß geschaffen mit allen Folgen eines solchen. Rand wie vor gibt es, um es ganz kraß auszudrücken, zwei „Regierungen" oder jetzt eigentlich drei, nämlich 1. die Staatssekretäre ohne Portefeuille, 2. die bisherige'„Reichsleituug" (.Kanzler und Ressortminister) und 3. das Plenum des Bundesrath, aber der Bundesrat ist die größeste unter ihnen. Unter den vielen Farben dieses verfassungsrechtlichen Chamäleons leuchtet doch am stärksten diejenige, bei der es als „gemeinschaftliches Ministerium" (Bismarck) der Verbündeten Regierungen, als Träger ihrer obrigkeitlich gebildeten und gerichteten Herrschgewalt erscheint, neben der die später ausgewachsenen und zugewachsenen beamtlichen Organe (Kanzler und Staatssekretäre) eben nur die bescheidene Rolle einer „Reichsleitung" spielen sollten, neben der für ein parlamentarisches Reichsministerkollegülin, das nach dem Gedanken des Einheits¬ staats gravitiert, nun schon gar kein Raum ist. So sehen wir an der entscheiden¬ den Stelle des Reichsorganismus, wo vor allem klare Verhältnisse herrschen sollen, eine organische Überladung, die auf die Dauer mit Notwendigkeit eine einseitige Losung heischt, was ohne Sieg auf der einen, Niederlage auf der anderen Seite eben acht zu erreichen ist. ') Vgl. Heft 42. S. 71. Die „Nordd. Allg. Zeitung" stellt zwar einen offiziellen Schritt im Schoße des Bundesrath in Abrede. Doch war die Stimmung namentlich Sachsens und Bayern» — wo man >um die Reservatrechte bangte — ganz deutlich zu erkennen. -) Dieser Zusatz, der wunderlicherweise im Entwurf vom 8. Oktober, so wie er der Presse zuging, fehlt, enthält den Kernpunkt der Angelegenheit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/106>, abgerufen am 24.11.2024.