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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Fra^

Kaiser die Staatsgewalt aus. Die kaiserliche Ernennung und Entlassung des
Statthalters muß vom Reichskanzler gegengezeichnet werden. Vor allem ist das
Verfassungsgesetz für Elsaß-Lothringen ein Reichsgesetz und kann nicht durch
einen Akt der Landesgesetzgebung geändert werden.

Wie wenig jedoch diese äußeren Sicherungen den inneren, nationalen Zu¬
sammenhang Elsaß und Lothringens mit dem Reiche zu gewährleisten vermögen,
hat noch die letzte Friedenszeit unter der Wirkung des neuen Gesetzes gezeigt.
Vor allem aber konnte das^Opfer. das das Reich mit dieser Reform brachte, den
westlichen Nachbar in keiner Weise versöhnen. Im Gegenteil: wenn England
gegenüber auch dank dem Entgegenkommen des Reichskanzlers in den nächsten
Monaten eine Entspannung eintrat, so wurde auf der anderen Seite der russische
Panslawismus der rüstige "Fortsetzer der Einkreisungspolitik" des siebenten Eduard.
Hinter ihm aber stand mit der Hetzpeitsche der Revanchepolitik Frankreich. Schon
die Beratung der elsaß-lothringischen Verfassungsreform im Reichstag hatte es
am 26. April 1911 mit dem Vormarsch nach Fez beantwortet. Und Schlag auf
Schlag folgten jetzt unter der Präsidentschaft des Lothringers Poincare die Ver¬
sicherungen, daß Elsaß und Lothringen nicht aufgegeben seien: "Mit dem Ma¬
rokkofieber verband sich das Nevanchefieber". Es ist bekannt, wie auch friedens¬
freundliche Politiker in Paris in der Kette der Zugeständnisse, die Deutschland
in der Marokkofrage brachte, nur ein Zeichen immer wachsender Schwäche sehen
konnten,. Aber viel zu wenig wird beachtet, wie daneben gerade die Entwicklung
der reichsländischen Frage in der letzten Friedenszeit, insbesondere die Aufnahme
des "Falles Zabern" in der öffentlichen Meinung des Reiches die Begehrlichkeit
Frankreichs ins Maßlose gesteigert hat. Immer deutlicher und offener schien
Deutschland -- Regierung und Volk -- zu erkennen zu geben, daß es nicht die
Fähigkeit besitze, Elsaß und Lothringen auf die Dauer festzuhalten, geschweige denn
sich innerlich anzueignen. Die Reden der Wetterls und Blumenthal, der Heimer,
Weilt und Collin, die ungescheut ihre Agitation nach Frankreich hinübertragen
durften, bestärkten in Paris selbst wie in den französischen Ostprovinzen den
Glauben, daß die Entwicklung vom "Reichsland" zum Pufferstaat und schließlich
zur Rückkehr in das angestammte Mutterland der westlichen Kultur "auf dem
Marsche" sei. Die Zwischenstufe dieses "autonomen Bundesstaates", so durften
sie mit Fug und Recht versichern, werde bald überwunden sein. "Die Ab¬
geordneten Elsaß-Lothringens", schrieb damals Maurice Barröy im "Gaulois",
"sind Heuchler; sie stellen sich im Reichstage zahm und hüten doch den heiligen
Deutschenhaß im Herzen. Ehre diesen klugen MännernI" Und selbst Jean
Jaurös, dessen Versöhnungspolitik in Deutschland so übermäßig gepriesen wird,
betonte unter dem Eindruck dieser Nachrichten: Eine hohe Mauer durchzieht den
französischen Wald; aber Wurzeln und Kronen der Bäume verschlingen sich darüber
und darunter: "Der Wald hat nur eine Seckel" Während das Deutsche Reich
auf die Lösung der nationalen elsaß-lothringischen Frage freiwillig verzichtete,
wurde die Zugehörigkeit des "Neichslandes" zu Deutschland schon vor dem Kriege
zum Gegenstand internationaler Erörterung.

Wohl schien dann das große Erlebnis der Augusttage von 1914 anfangs
auch im Reichsland wie im Reich die Luft zu reinigen von all der dumpfen
Schwüle, die sich atembeklemmend über Land und Volk gelegt hatte. In der allzu-
langer Kriegszeit ist diese Hoffnung zunichte geworden. Die immer noch wachsenden
Ausbürgerungen, die heute über siebentausend Namen umfassen, -- trotzdem noch
nicht einmal die Hälfte der schwebenden Fälle erledigt ist, -- beweisen deutlich
die Ausdehnung des Giftstoffes, der vor dem Weltkriege fast ungestört am Mark
des Reichslandes zehren durfte. Aber noch sind unendlich viel Reichsfeinde und
Reichsnörgler im Lande, ganz abgesehen von dem gewaltigen Heer, das die Gleich¬
gültigen und die staatlich und national Geschlechtslosen stellen. Unter dem schweren
wirtschaftlichen und politischen Druck, den Elsaß und Lothringen als Grenzland
und als Kriegsgebiet auszuhalten haben, gewinnen sie fast täglich neue Anhänger


Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Fra^

Kaiser die Staatsgewalt aus. Die kaiserliche Ernennung und Entlassung des
Statthalters muß vom Reichskanzler gegengezeichnet werden. Vor allem ist das
Verfassungsgesetz für Elsaß-Lothringen ein Reichsgesetz und kann nicht durch
einen Akt der Landesgesetzgebung geändert werden.

Wie wenig jedoch diese äußeren Sicherungen den inneren, nationalen Zu¬
sammenhang Elsaß und Lothringens mit dem Reiche zu gewährleisten vermögen,
hat noch die letzte Friedenszeit unter der Wirkung des neuen Gesetzes gezeigt.
Vor allem aber konnte das^Opfer. das das Reich mit dieser Reform brachte, den
westlichen Nachbar in keiner Weise versöhnen. Im Gegenteil: wenn England
gegenüber auch dank dem Entgegenkommen des Reichskanzlers in den nächsten
Monaten eine Entspannung eintrat, so wurde auf der anderen Seite der russische
Panslawismus der rüstige „Fortsetzer der Einkreisungspolitik" des siebenten Eduard.
Hinter ihm aber stand mit der Hetzpeitsche der Revanchepolitik Frankreich. Schon
die Beratung der elsaß-lothringischen Verfassungsreform im Reichstag hatte es
am 26. April 1911 mit dem Vormarsch nach Fez beantwortet. Und Schlag auf
Schlag folgten jetzt unter der Präsidentschaft des Lothringers Poincare die Ver¬
sicherungen, daß Elsaß und Lothringen nicht aufgegeben seien: „Mit dem Ma¬
rokkofieber verband sich das Nevanchefieber". Es ist bekannt, wie auch friedens¬
freundliche Politiker in Paris in der Kette der Zugeständnisse, die Deutschland
in der Marokkofrage brachte, nur ein Zeichen immer wachsender Schwäche sehen
konnten,. Aber viel zu wenig wird beachtet, wie daneben gerade die Entwicklung
der reichsländischen Frage in der letzten Friedenszeit, insbesondere die Aufnahme
des „Falles Zabern" in der öffentlichen Meinung des Reiches die Begehrlichkeit
Frankreichs ins Maßlose gesteigert hat. Immer deutlicher und offener schien
Deutschland — Regierung und Volk — zu erkennen zu geben, daß es nicht die
Fähigkeit besitze, Elsaß und Lothringen auf die Dauer festzuhalten, geschweige denn
sich innerlich anzueignen. Die Reden der Wetterls und Blumenthal, der Heimer,
Weilt und Collin, die ungescheut ihre Agitation nach Frankreich hinübertragen
durften, bestärkten in Paris selbst wie in den französischen Ostprovinzen den
Glauben, daß die Entwicklung vom „Reichsland" zum Pufferstaat und schließlich
zur Rückkehr in das angestammte Mutterland der westlichen Kultur „auf dem
Marsche" sei. Die Zwischenstufe dieses „autonomen Bundesstaates", so durften
sie mit Fug und Recht versichern, werde bald überwunden sein. „Die Ab¬
geordneten Elsaß-Lothringens", schrieb damals Maurice Barröy im „Gaulois",
»sind Heuchler; sie stellen sich im Reichstage zahm und hüten doch den heiligen
Deutschenhaß im Herzen. Ehre diesen klugen MännernI" Und selbst Jean
Jaurös, dessen Versöhnungspolitik in Deutschland so übermäßig gepriesen wird,
betonte unter dem Eindruck dieser Nachrichten: Eine hohe Mauer durchzieht den
französischen Wald; aber Wurzeln und Kronen der Bäume verschlingen sich darüber
und darunter: „Der Wald hat nur eine Seckel" Während das Deutsche Reich
auf die Lösung der nationalen elsaß-lothringischen Frage freiwillig verzichtete,
wurde die Zugehörigkeit des „Neichslandes" zu Deutschland schon vor dem Kriege
zum Gegenstand internationaler Erörterung.

Wohl schien dann das große Erlebnis der Augusttage von 1914 anfangs
auch im Reichsland wie im Reich die Luft zu reinigen von all der dumpfen
Schwüle, die sich atembeklemmend über Land und Volk gelegt hatte. In der allzu-
langer Kriegszeit ist diese Hoffnung zunichte geworden. Die immer noch wachsenden
Ausbürgerungen, die heute über siebentausend Namen umfassen, — trotzdem noch
nicht einmal die Hälfte der schwebenden Fälle erledigt ist, — beweisen deutlich
die Ausdehnung des Giftstoffes, der vor dem Weltkriege fast ungestört am Mark
des Reichslandes zehren durfte. Aber noch sind unendlich viel Reichsfeinde und
Reichsnörgler im Lande, ganz abgesehen von dem gewaltigen Heer, das die Gleich¬
gültigen und die staatlich und national Geschlechtslosen stellen. Unter dem schweren
wirtschaftlichen und politischen Druck, den Elsaß und Lothringen als Grenzland
und als Kriegsgebiet auszuhalten haben, gewinnen sie fast täglich neue Anhänger


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[0075] Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Fra^ Kaiser die Staatsgewalt aus. Die kaiserliche Ernennung und Entlassung des Statthalters muß vom Reichskanzler gegengezeichnet werden. Vor allem ist das Verfassungsgesetz für Elsaß-Lothringen ein Reichsgesetz und kann nicht durch einen Akt der Landesgesetzgebung geändert werden. Wie wenig jedoch diese äußeren Sicherungen den inneren, nationalen Zu¬ sammenhang Elsaß und Lothringens mit dem Reiche zu gewährleisten vermögen, hat noch die letzte Friedenszeit unter der Wirkung des neuen Gesetzes gezeigt. Vor allem aber konnte das^Opfer. das das Reich mit dieser Reform brachte, den westlichen Nachbar in keiner Weise versöhnen. Im Gegenteil: wenn England gegenüber auch dank dem Entgegenkommen des Reichskanzlers in den nächsten Monaten eine Entspannung eintrat, so wurde auf der anderen Seite der russische Panslawismus der rüstige „Fortsetzer der Einkreisungspolitik" des siebenten Eduard. Hinter ihm aber stand mit der Hetzpeitsche der Revanchepolitik Frankreich. Schon die Beratung der elsaß-lothringischen Verfassungsreform im Reichstag hatte es am 26. April 1911 mit dem Vormarsch nach Fez beantwortet. Und Schlag auf Schlag folgten jetzt unter der Präsidentschaft des Lothringers Poincare die Ver¬ sicherungen, daß Elsaß und Lothringen nicht aufgegeben seien: „Mit dem Ma¬ rokkofieber verband sich das Nevanchefieber". Es ist bekannt, wie auch friedens¬ freundliche Politiker in Paris in der Kette der Zugeständnisse, die Deutschland in der Marokkofrage brachte, nur ein Zeichen immer wachsender Schwäche sehen konnten,. Aber viel zu wenig wird beachtet, wie daneben gerade die Entwicklung der reichsländischen Frage in der letzten Friedenszeit, insbesondere die Aufnahme des „Falles Zabern" in der öffentlichen Meinung des Reiches die Begehrlichkeit Frankreichs ins Maßlose gesteigert hat. Immer deutlicher und offener schien Deutschland — Regierung und Volk — zu erkennen zu geben, daß es nicht die Fähigkeit besitze, Elsaß und Lothringen auf die Dauer festzuhalten, geschweige denn sich innerlich anzueignen. Die Reden der Wetterls und Blumenthal, der Heimer, Weilt und Collin, die ungescheut ihre Agitation nach Frankreich hinübertragen durften, bestärkten in Paris selbst wie in den französischen Ostprovinzen den Glauben, daß die Entwicklung vom „Reichsland" zum Pufferstaat und schließlich zur Rückkehr in das angestammte Mutterland der westlichen Kultur „auf dem Marsche" sei. Die Zwischenstufe dieses „autonomen Bundesstaates", so durften sie mit Fug und Recht versichern, werde bald überwunden sein. „Die Ab¬ geordneten Elsaß-Lothringens", schrieb damals Maurice Barröy im „Gaulois", »sind Heuchler; sie stellen sich im Reichstage zahm und hüten doch den heiligen Deutschenhaß im Herzen. Ehre diesen klugen MännernI" Und selbst Jean Jaurös, dessen Versöhnungspolitik in Deutschland so übermäßig gepriesen wird, betonte unter dem Eindruck dieser Nachrichten: Eine hohe Mauer durchzieht den französischen Wald; aber Wurzeln und Kronen der Bäume verschlingen sich darüber und darunter: „Der Wald hat nur eine Seckel" Während das Deutsche Reich auf die Lösung der nationalen elsaß-lothringischen Frage freiwillig verzichtete, wurde die Zugehörigkeit des „Neichslandes" zu Deutschland schon vor dem Kriege zum Gegenstand internationaler Erörterung. Wohl schien dann das große Erlebnis der Augusttage von 1914 anfangs auch im Reichsland wie im Reich die Luft zu reinigen von all der dumpfen Schwüle, die sich atembeklemmend über Land und Volk gelegt hatte. In der allzu- langer Kriegszeit ist diese Hoffnung zunichte geworden. Die immer noch wachsenden Ausbürgerungen, die heute über siebentausend Namen umfassen, — trotzdem noch nicht einmal die Hälfte der schwebenden Fälle erledigt ist, — beweisen deutlich die Ausdehnung des Giftstoffes, der vor dem Weltkriege fast ungestört am Mark des Reichslandes zehren durfte. Aber noch sind unendlich viel Reichsfeinde und Reichsnörgler im Lande, ganz abgesehen von dem gewaltigen Heer, das die Gleich¬ gültigen und die staatlich und national Geschlechtslosen stellen. Unter dem schweren wirtschaftlichen und politischen Druck, den Elsaß und Lothringen als Grenzland und als Kriegsgebiet auszuhalten haben, gewinnen sie fast täglich neue Anhänger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/75>, abgerufen am 22.07.2024.