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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Die Behandlung der Letten und Ehlen

Letten besteht. Beide Völker, die eine lebhafte Antipathie gegeneinander
empfinden, haben sprachlich und ethnisch nichts miteinander zu tun, vielmehr
sind die Ehlen mit den Finnen verwandt und gehören zur finnisch-ugrischen
Sprachfamilie. Die Letten stehen den Litauern nahe, sind aber von diesen eben¬
falls durch völkische Abneigung und durch den kulturellen und konfessionellen
Gegensatz scharf geschieden. Wollte sich die Behandlung der Letten und Ehlen
vornehmlich auf ihren urspruugshaften Volkscharakter stützen, so hätte eine
Erörterung dieser Behandlungsfrägen die beiden Volksstämme scharf voneinander
zu unterscheiden, wie auch unsere Okkupationsbehörden mit beiden durchaus
verschiedene Ersahrungen gemacht haben. Für die Deutung und Erfassung
dieses originären Nationalcharakters beider Völker bietet aber das vorgefundene
politische und soziale Lebenssystem wenig Anhalt, weil es nicht den schöpferischen
Kräften dieser Nationalitäten entsprossen, sondern ihnen von außen her auferlegt
ist. Durch jahrhundertelange Gewöhnung an diese Einrichtungen und Zustände
und durch- bestimmte historische Schicksale der letzten Jahrhunderte ist aber die
Sinnesart dieser beiden Völker einheitlich beeinflusst worden. Wenn also auch
nicht für den ursprünglichen Volkscharakter, so doch sür die politische Mentalität
der Ehlen und Letten ist ihr Verhältnis zu diesem politischen Lebenssystem die
unentbehrlichste und wichtigste Verständnisvorausfetzung.

Beim Versuche seiner Ausrottung stoßen wir wiederum auf eine Spannung
zwischen zwei oder wenn man will sogar drei Systemen, die in den letzten Jahr¬
zehnten im Lande um Geltung rangen. Das älteste historisch am festesten ein¬
gewurzelte, aber zugleich auch geschichtlich am stärksten belastete System war das
der feudal-ständischen deutschen Herrschaft. Ihre Einrichtungen und Gefetze
waren geboren aus der Notwendigkeit, durch eine zahlenmäßig geringe, aber
national und kulturell hoch entwickelte und weit überlegene deutsche Oberschicht
eine fremdstämmige breite Masse zu kultivieren und zu beherrschen. Die erstaun¬
liche organisatorische Leistung des Deutschbaltentums, auf die jeder Deutsche als
Deutscher stolz sein darf, heißt es in keiner Weise herabsetzen, wenn man aus
Gründen objektiver Gerechtigkeit anerkennt, daß dies in sich notwendige System
sozialer Bevormundung den emporstrebenden Schichten des lettischen und
chemischen Volkes drückend, ja unleidlich werden mußte. Die baltischen Lande
haben mit den europäischen Mächten, in deren Händen sie feit Jahrhunderten ein
Spielball waren, heldenmütig um das Recht ihrer Selbstverwaltung gerungen.
Diese Selbstverwaltung war auf dem ständischen Prinzip aufgebaut und zog die
bislang fast ausschließlich bäurische Unterschicht zu Verwaltungstätigkeiten heran,
die dem sozialen Horizont dieser Kreise entsprachen. Eine Steigerung des Ein¬
flusses der Letten und Ehlen war in den Reformvorschlägen der Ritterschaften in
den achtziger Jahren vorgesehen, wurde aber durch die Gegenmaßnahmen der
russischen Regierung vereitelt.

Zusammenfassend ist zu sagen,, daß das überkommene deutschbaltische
System für die,Letten ein patriarchalisch und Humanitär gemildertes System der
Fremdherrschaft bedeutete, das der Kritik der aufstrebenden Intelligenz mit ihrem
junglettischen und jungestnischen Nationalismus und Radikalismus noch weit
mehr Angriffsflächen bot, als der viel geschmähte preußische "Obrigkeitsstaat"
uusern deutschen Radikalen. Trotzdem ließ jahrhundertelange Gewöhnung den
breiten Massen der Letten und Ehlen dies System keineswegs so unleidlich
erscheinen, wie unsere doktrinäre Linke das den junglettischen Demagogen so
willig und kritiklos glaubt. Wäre das baltische Land vor etwa 50 Jahren an
Deutschland gefallen, so wäre eine schrittweise Ueberleitung dieses Systems in
das wesentlich liberalere des modernen Deutschen Reiches verhältnismäßig ein¬
fach gewesen. Inzwischen aber ist dem Baltikum ein anderes System ohne den
Willen der Letten und Ehlen und sehr gegen den Willen der Deutschbalten auf¬
gedrängt worden: das System des bureaukratischen Zarismus. Bei der namen¬
losen Unkenntnis, mit der die breite deutsche Öffentlichkeit den russischen
Verhältnissen gegenübersteht, ist dies System bekanntlich als der Hort der Reaktion
verschrien. Daher denn auch das Besreiungsprogramm, das gerade bei unserer


Die Behandlung der Letten und Ehlen

Letten besteht. Beide Völker, die eine lebhafte Antipathie gegeneinander
empfinden, haben sprachlich und ethnisch nichts miteinander zu tun, vielmehr
sind die Ehlen mit den Finnen verwandt und gehören zur finnisch-ugrischen
Sprachfamilie. Die Letten stehen den Litauern nahe, sind aber von diesen eben¬
falls durch völkische Abneigung und durch den kulturellen und konfessionellen
Gegensatz scharf geschieden. Wollte sich die Behandlung der Letten und Ehlen
vornehmlich auf ihren urspruugshaften Volkscharakter stützen, so hätte eine
Erörterung dieser Behandlungsfrägen die beiden Volksstämme scharf voneinander
zu unterscheiden, wie auch unsere Okkupationsbehörden mit beiden durchaus
verschiedene Ersahrungen gemacht haben. Für die Deutung und Erfassung
dieses originären Nationalcharakters beider Völker bietet aber das vorgefundene
politische und soziale Lebenssystem wenig Anhalt, weil es nicht den schöpferischen
Kräften dieser Nationalitäten entsprossen, sondern ihnen von außen her auferlegt
ist. Durch jahrhundertelange Gewöhnung an diese Einrichtungen und Zustände
und durch- bestimmte historische Schicksale der letzten Jahrhunderte ist aber die
Sinnesart dieser beiden Völker einheitlich beeinflusst worden. Wenn also auch
nicht für den ursprünglichen Volkscharakter, so doch sür die politische Mentalität
der Ehlen und Letten ist ihr Verhältnis zu diesem politischen Lebenssystem die
unentbehrlichste und wichtigste Verständnisvorausfetzung.

Beim Versuche seiner Ausrottung stoßen wir wiederum auf eine Spannung
zwischen zwei oder wenn man will sogar drei Systemen, die in den letzten Jahr¬
zehnten im Lande um Geltung rangen. Das älteste historisch am festesten ein¬
gewurzelte, aber zugleich auch geschichtlich am stärksten belastete System war das
der feudal-ständischen deutschen Herrschaft. Ihre Einrichtungen und Gefetze
waren geboren aus der Notwendigkeit, durch eine zahlenmäßig geringe, aber
national und kulturell hoch entwickelte und weit überlegene deutsche Oberschicht
eine fremdstämmige breite Masse zu kultivieren und zu beherrschen. Die erstaun¬
liche organisatorische Leistung des Deutschbaltentums, auf die jeder Deutsche als
Deutscher stolz sein darf, heißt es in keiner Weise herabsetzen, wenn man aus
Gründen objektiver Gerechtigkeit anerkennt, daß dies in sich notwendige System
sozialer Bevormundung den emporstrebenden Schichten des lettischen und
chemischen Volkes drückend, ja unleidlich werden mußte. Die baltischen Lande
haben mit den europäischen Mächten, in deren Händen sie feit Jahrhunderten ein
Spielball waren, heldenmütig um das Recht ihrer Selbstverwaltung gerungen.
Diese Selbstverwaltung war auf dem ständischen Prinzip aufgebaut und zog die
bislang fast ausschließlich bäurische Unterschicht zu Verwaltungstätigkeiten heran,
die dem sozialen Horizont dieser Kreise entsprachen. Eine Steigerung des Ein¬
flusses der Letten und Ehlen war in den Reformvorschlägen der Ritterschaften in
den achtziger Jahren vorgesehen, wurde aber durch die Gegenmaßnahmen der
russischen Regierung vereitelt.

Zusammenfassend ist zu sagen,, daß das überkommene deutschbaltische
System für die,Letten ein patriarchalisch und Humanitär gemildertes System der
Fremdherrschaft bedeutete, das der Kritik der aufstrebenden Intelligenz mit ihrem
junglettischen und jungestnischen Nationalismus und Radikalismus noch weit
mehr Angriffsflächen bot, als der viel geschmähte preußische „Obrigkeitsstaat"
uusern deutschen Radikalen. Trotzdem ließ jahrhundertelange Gewöhnung den
breiten Massen der Letten und Ehlen dies System keineswegs so unleidlich
erscheinen, wie unsere doktrinäre Linke das den junglettischen Demagogen so
willig und kritiklos glaubt. Wäre das baltische Land vor etwa 50 Jahren an
Deutschland gefallen, so wäre eine schrittweise Ueberleitung dieses Systems in
das wesentlich liberalere des modernen Deutschen Reiches verhältnismäßig ein¬
fach gewesen. Inzwischen aber ist dem Baltikum ein anderes System ohne den
Willen der Letten und Ehlen und sehr gegen den Willen der Deutschbalten auf¬
gedrängt worden: das System des bureaukratischen Zarismus. Bei der namen¬
losen Unkenntnis, mit der die breite deutsche Öffentlichkeit den russischen
Verhältnissen gegenübersteht, ist dies System bekanntlich als der Hort der Reaktion
verschrien. Daher denn auch das Besreiungsprogramm, das gerade bei unserer


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[0326] Die Behandlung der Letten und Ehlen Letten besteht. Beide Völker, die eine lebhafte Antipathie gegeneinander empfinden, haben sprachlich und ethnisch nichts miteinander zu tun, vielmehr sind die Ehlen mit den Finnen verwandt und gehören zur finnisch-ugrischen Sprachfamilie. Die Letten stehen den Litauern nahe, sind aber von diesen eben¬ falls durch völkische Abneigung und durch den kulturellen und konfessionellen Gegensatz scharf geschieden. Wollte sich die Behandlung der Letten und Ehlen vornehmlich auf ihren urspruugshaften Volkscharakter stützen, so hätte eine Erörterung dieser Behandlungsfrägen die beiden Volksstämme scharf voneinander zu unterscheiden, wie auch unsere Okkupationsbehörden mit beiden durchaus verschiedene Ersahrungen gemacht haben. Für die Deutung und Erfassung dieses originären Nationalcharakters beider Völker bietet aber das vorgefundene politische und soziale Lebenssystem wenig Anhalt, weil es nicht den schöpferischen Kräften dieser Nationalitäten entsprossen, sondern ihnen von außen her auferlegt ist. Durch jahrhundertelange Gewöhnung an diese Einrichtungen und Zustände und durch- bestimmte historische Schicksale der letzten Jahrhunderte ist aber die Sinnesart dieser beiden Völker einheitlich beeinflusst worden. Wenn also auch nicht für den ursprünglichen Volkscharakter, so doch sür die politische Mentalität der Ehlen und Letten ist ihr Verhältnis zu diesem politischen Lebenssystem die unentbehrlichste und wichtigste Verständnisvorausfetzung. Beim Versuche seiner Ausrottung stoßen wir wiederum auf eine Spannung zwischen zwei oder wenn man will sogar drei Systemen, die in den letzten Jahr¬ zehnten im Lande um Geltung rangen. Das älteste historisch am festesten ein¬ gewurzelte, aber zugleich auch geschichtlich am stärksten belastete System war das der feudal-ständischen deutschen Herrschaft. Ihre Einrichtungen und Gefetze waren geboren aus der Notwendigkeit, durch eine zahlenmäßig geringe, aber national und kulturell hoch entwickelte und weit überlegene deutsche Oberschicht eine fremdstämmige breite Masse zu kultivieren und zu beherrschen. Die erstaun¬ liche organisatorische Leistung des Deutschbaltentums, auf die jeder Deutsche als Deutscher stolz sein darf, heißt es in keiner Weise herabsetzen, wenn man aus Gründen objektiver Gerechtigkeit anerkennt, daß dies in sich notwendige System sozialer Bevormundung den emporstrebenden Schichten des lettischen und chemischen Volkes drückend, ja unleidlich werden mußte. Die baltischen Lande haben mit den europäischen Mächten, in deren Händen sie feit Jahrhunderten ein Spielball waren, heldenmütig um das Recht ihrer Selbstverwaltung gerungen. Diese Selbstverwaltung war auf dem ständischen Prinzip aufgebaut und zog die bislang fast ausschließlich bäurische Unterschicht zu Verwaltungstätigkeiten heran, die dem sozialen Horizont dieser Kreise entsprachen. Eine Steigerung des Ein¬ flusses der Letten und Ehlen war in den Reformvorschlägen der Ritterschaften in den achtziger Jahren vorgesehen, wurde aber durch die Gegenmaßnahmen der russischen Regierung vereitelt. Zusammenfassend ist zu sagen,, daß das überkommene deutschbaltische System für die,Letten ein patriarchalisch und Humanitär gemildertes System der Fremdherrschaft bedeutete, das der Kritik der aufstrebenden Intelligenz mit ihrem junglettischen und jungestnischen Nationalismus und Radikalismus noch weit mehr Angriffsflächen bot, als der viel geschmähte preußische „Obrigkeitsstaat" uusern deutschen Radikalen. Trotzdem ließ jahrhundertelange Gewöhnung den breiten Massen der Letten und Ehlen dies System keineswegs so unleidlich erscheinen, wie unsere doktrinäre Linke das den junglettischen Demagogen so willig und kritiklos glaubt. Wäre das baltische Land vor etwa 50 Jahren an Deutschland gefallen, so wäre eine schrittweise Ueberleitung dieses Systems in das wesentlich liberalere des modernen Deutschen Reiches verhältnismäßig ein¬ fach gewesen. Inzwischen aber ist dem Baltikum ein anderes System ohne den Willen der Letten und Ehlen und sehr gegen den Willen der Deutschbalten auf¬ gedrängt worden: das System des bureaukratischen Zarismus. Bei der namen¬ losen Unkenntnis, mit der die breite deutsche Öffentlichkeit den russischen Verhältnissen gegenübersteht, ist dies System bekanntlich als der Hort der Reaktion verschrien. Daher denn auch das Besreiungsprogramm, das gerade bei unserer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/326>, abgerufen am 29.06.2024.