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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Lihik, Politik und Aricg

schaft zeigt sich selbst da noch deutlich, wo der primitive Zustand verlassen und sie
zum Staat geworden ist. Der antike Heide kannte kein Sittengesetz als im Staate
und durch den Staat. Er hat kein individuelles Gewissen. (Vgl. Treitschke,
"Politik", und Baumgarten, "Politik und Moral", Tübingen: Mohr, 1916, S. 12.)

Läßt man diese letzte Begründung des Sittlichen seinem Inhalte nach auf
der Erhaltung der Gemeinschaft gelten, so drängt sich die Frage auf, worauf die
Unterschiede der Moralität in den verschiedenen Kulturstufen der Menschheits-
entwicklung beruhen, da doch dieses auf den Grundtrieb alles Lebens gestützte
Prinzip stets das gleiche gewesen sein soll, Unterschiede, die alle Stufen von der
"Sittlichkeit" des Wilden bis zu den Idealen der Bergpredigt umfassen.

Diese Entwicklungsstufen werden weniger durch das sich voneinander
abgrenzen, was jedesmal als für die Gemeinschaft wertvoll der Moralität bewußt
oder unbewußt zugrunde gelegt ist, als durch die Größe des Gemeinschaftsgefühls
und den dadurch bedingten Umfang der Gemeinschaft selbst. Der in Horden oder
Stämmen lebende Primitive hält es für sittlich erlaubt, den Angehörigen des
Nachbarstcimmcs zu martern, zu skalpieren oder'zum Sklaven zu machen. Für
ihn ist sein Stamm Trüger der Sittlichkeit, wie sür den Römer der Staat, und
nur der <stammesgenosse Mitmensch, wie der Grieche den Nichtgriechen als
Halbtier, als Barbaren, betrachtete. Je weiter die soziale Gemeinschaft um sich
greift, als deren Glied der Mensch handelt, desto höher steht seine ethische Kultur,
desto größer.ist die Zahl derer, die zu ihm stehen, wie schon bei dem Primitivsten
Mutter und Bruder.




Bis hierher ist für einen Konflikt zwischen Politik und Moral noch kein
Raum. Er wird erzeugt durch zwei Momente der Geistesgeschichte, die eine
Beschleunigung der Entwicklung der moralischen Gemeinschaft hervorrufen, indem
sie deren Endziel als ideale Forderung aufstellen: durch das Christentum und
den Humanismus mit seinen Folgeerscheinungen. Indem die christliche Ethik
die Menschen als Brüder, alle gleich vor Gott, zur unbegrenzten Liebe zueinander
auffordert, überschreitet und verneint sie alle staatlich-gesellschaftlichen Schranken
und wendet sich Kur an die Persönlichkeit. Die Gemeinschaft, die das natürliche
Gemeinschaftsgefühl verlangt und die jede Ethik voraussetzen muß, bildet für sie
die Gesamtmenschheit.

Den Konflikt, in den dadurch der einzelne geraten muß, daß feine Sittlich¬
keit sich real auf die vorhandene Gesellschaft, Stamm oder Staat, ideal auf die
geforderte sozialisierte Menschheit gründen soll, sucht die mittelalterliche Kirche
zu überbrücken. Indem sie die ideale Menschheit als Christenheit unter ihrem
Zepter gleichsam verwirklichte, nahm sie den Konflikt dann auf sich, wenn der
Sieg des Ideals die vorhandenen Gesellschaftsbildungen, die Träger der realen
Moralität, schädigen mußte. Sie ist dabei vor Lösung von Eiden und Entführung
von Mördern nicht zurückgescheut, wenn nur die kirchliche Autorität anerkannt
wurde. Dadurch eröffnete sie das weltliche und politische Gebiet dem Einfluß
der Kirche und des absoluten Ideals der echten christlichen Ethik. (Vgl.
Baumgarten S. 46.)

Erst der völlige Durchbruch der moralischen Persönlichkeit im Humanis¬
mus, Reformation bis zum sittlichen Rigorismus Kants mit dem kategorischen
Gesetz in uns, deckte die Kluft zwischen Moral und Politik völlig auf. Gerade
die Abfassung des "Princips", der Forderung der Jmmorcilität für den Staat,
beweist, daß der Widerstreit fühlbar geworden war, der heute, wenn auch in
gemilderter Form, für den im Namen des Staates Handelnden fortlebt.

Für den Privatmann, der sich stets in den Grenzen eines eigenen oder
fremden Rechtsstaats bewegt, bleibt dieser Zwiespalt latent. Der Staat spielt für
ihn die gleiche Rolle, wie nach den Zielen der mittelalterlichen Krrche die
Christenheit, wie nach dem humanistisch-christlichen Ideal des Protestantismus
die Menschheit -- die Rolle des Trägers der ethischen Kultur. Im Frieden
kann er sich diesem Ideal soweit nähern, daß ihm ethisch Staatsgemeinschaft und


Lihik, Politik und Aricg

schaft zeigt sich selbst da noch deutlich, wo der primitive Zustand verlassen und sie
zum Staat geworden ist. Der antike Heide kannte kein Sittengesetz als im Staate
und durch den Staat. Er hat kein individuelles Gewissen. (Vgl. Treitschke,
„Politik", und Baumgarten, „Politik und Moral", Tübingen: Mohr, 1916, S. 12.)

Läßt man diese letzte Begründung des Sittlichen seinem Inhalte nach auf
der Erhaltung der Gemeinschaft gelten, so drängt sich die Frage auf, worauf die
Unterschiede der Moralität in den verschiedenen Kulturstufen der Menschheits-
entwicklung beruhen, da doch dieses auf den Grundtrieb alles Lebens gestützte
Prinzip stets das gleiche gewesen sein soll, Unterschiede, die alle Stufen von der
„Sittlichkeit" des Wilden bis zu den Idealen der Bergpredigt umfassen.

Diese Entwicklungsstufen werden weniger durch das sich voneinander
abgrenzen, was jedesmal als für die Gemeinschaft wertvoll der Moralität bewußt
oder unbewußt zugrunde gelegt ist, als durch die Größe des Gemeinschaftsgefühls
und den dadurch bedingten Umfang der Gemeinschaft selbst. Der in Horden oder
Stämmen lebende Primitive hält es für sittlich erlaubt, den Angehörigen des
Nachbarstcimmcs zu martern, zu skalpieren oder'zum Sklaven zu machen. Für
ihn ist sein Stamm Trüger der Sittlichkeit, wie sür den Römer der Staat, und
nur der <stammesgenosse Mitmensch, wie der Grieche den Nichtgriechen als
Halbtier, als Barbaren, betrachtete. Je weiter die soziale Gemeinschaft um sich
greift, als deren Glied der Mensch handelt, desto höher steht seine ethische Kultur,
desto größer.ist die Zahl derer, die zu ihm stehen, wie schon bei dem Primitivsten
Mutter und Bruder.




Bis hierher ist für einen Konflikt zwischen Politik und Moral noch kein
Raum. Er wird erzeugt durch zwei Momente der Geistesgeschichte, die eine
Beschleunigung der Entwicklung der moralischen Gemeinschaft hervorrufen, indem
sie deren Endziel als ideale Forderung aufstellen: durch das Christentum und
den Humanismus mit seinen Folgeerscheinungen. Indem die christliche Ethik
die Menschen als Brüder, alle gleich vor Gott, zur unbegrenzten Liebe zueinander
auffordert, überschreitet und verneint sie alle staatlich-gesellschaftlichen Schranken
und wendet sich Kur an die Persönlichkeit. Die Gemeinschaft, die das natürliche
Gemeinschaftsgefühl verlangt und die jede Ethik voraussetzen muß, bildet für sie
die Gesamtmenschheit.

Den Konflikt, in den dadurch der einzelne geraten muß, daß feine Sittlich¬
keit sich real auf die vorhandene Gesellschaft, Stamm oder Staat, ideal auf die
geforderte sozialisierte Menschheit gründen soll, sucht die mittelalterliche Kirche
zu überbrücken. Indem sie die ideale Menschheit als Christenheit unter ihrem
Zepter gleichsam verwirklichte, nahm sie den Konflikt dann auf sich, wenn der
Sieg des Ideals die vorhandenen Gesellschaftsbildungen, die Träger der realen
Moralität, schädigen mußte. Sie ist dabei vor Lösung von Eiden und Entführung
von Mördern nicht zurückgescheut, wenn nur die kirchliche Autorität anerkannt
wurde. Dadurch eröffnete sie das weltliche und politische Gebiet dem Einfluß
der Kirche und des absoluten Ideals der echten christlichen Ethik. (Vgl.
Baumgarten S. 46.)

Erst der völlige Durchbruch der moralischen Persönlichkeit im Humanis¬
mus, Reformation bis zum sittlichen Rigorismus Kants mit dem kategorischen
Gesetz in uns, deckte die Kluft zwischen Moral und Politik völlig auf. Gerade
die Abfassung des „Princips", der Forderung der Jmmorcilität für den Staat,
beweist, daß der Widerstreit fühlbar geworden war, der heute, wenn auch in
gemilderter Form, für den im Namen des Staates Handelnden fortlebt.

Für den Privatmann, der sich stets in den Grenzen eines eigenen oder
fremden Rechtsstaats bewegt, bleibt dieser Zwiespalt latent. Der Staat spielt für
ihn die gleiche Rolle, wie nach den Zielen der mittelalterlichen Krrche die
Christenheit, wie nach dem humanistisch-christlichen Ideal des Protestantismus
die Menschheit — die Rolle des Trägers der ethischen Kultur. Im Frieden
kann er sich diesem Ideal soweit nähern, daß ihm ethisch Staatsgemeinschaft und


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[0279] Lihik, Politik und Aricg schaft zeigt sich selbst da noch deutlich, wo der primitive Zustand verlassen und sie zum Staat geworden ist. Der antike Heide kannte kein Sittengesetz als im Staate und durch den Staat. Er hat kein individuelles Gewissen. (Vgl. Treitschke, „Politik", und Baumgarten, „Politik und Moral", Tübingen: Mohr, 1916, S. 12.) Läßt man diese letzte Begründung des Sittlichen seinem Inhalte nach auf der Erhaltung der Gemeinschaft gelten, so drängt sich die Frage auf, worauf die Unterschiede der Moralität in den verschiedenen Kulturstufen der Menschheits- entwicklung beruhen, da doch dieses auf den Grundtrieb alles Lebens gestützte Prinzip stets das gleiche gewesen sein soll, Unterschiede, die alle Stufen von der „Sittlichkeit" des Wilden bis zu den Idealen der Bergpredigt umfassen. Diese Entwicklungsstufen werden weniger durch das sich voneinander abgrenzen, was jedesmal als für die Gemeinschaft wertvoll der Moralität bewußt oder unbewußt zugrunde gelegt ist, als durch die Größe des Gemeinschaftsgefühls und den dadurch bedingten Umfang der Gemeinschaft selbst. Der in Horden oder Stämmen lebende Primitive hält es für sittlich erlaubt, den Angehörigen des Nachbarstcimmcs zu martern, zu skalpieren oder'zum Sklaven zu machen. Für ihn ist sein Stamm Trüger der Sittlichkeit, wie sür den Römer der Staat, und nur der <stammesgenosse Mitmensch, wie der Grieche den Nichtgriechen als Halbtier, als Barbaren, betrachtete. Je weiter die soziale Gemeinschaft um sich greift, als deren Glied der Mensch handelt, desto höher steht seine ethische Kultur, desto größer.ist die Zahl derer, die zu ihm stehen, wie schon bei dem Primitivsten Mutter und Bruder. Bis hierher ist für einen Konflikt zwischen Politik und Moral noch kein Raum. Er wird erzeugt durch zwei Momente der Geistesgeschichte, die eine Beschleunigung der Entwicklung der moralischen Gemeinschaft hervorrufen, indem sie deren Endziel als ideale Forderung aufstellen: durch das Christentum und den Humanismus mit seinen Folgeerscheinungen. Indem die christliche Ethik die Menschen als Brüder, alle gleich vor Gott, zur unbegrenzten Liebe zueinander auffordert, überschreitet und verneint sie alle staatlich-gesellschaftlichen Schranken und wendet sich Kur an die Persönlichkeit. Die Gemeinschaft, die das natürliche Gemeinschaftsgefühl verlangt und die jede Ethik voraussetzen muß, bildet für sie die Gesamtmenschheit. Den Konflikt, in den dadurch der einzelne geraten muß, daß feine Sittlich¬ keit sich real auf die vorhandene Gesellschaft, Stamm oder Staat, ideal auf die geforderte sozialisierte Menschheit gründen soll, sucht die mittelalterliche Kirche zu überbrücken. Indem sie die ideale Menschheit als Christenheit unter ihrem Zepter gleichsam verwirklichte, nahm sie den Konflikt dann auf sich, wenn der Sieg des Ideals die vorhandenen Gesellschaftsbildungen, die Träger der realen Moralität, schädigen mußte. Sie ist dabei vor Lösung von Eiden und Entführung von Mördern nicht zurückgescheut, wenn nur die kirchliche Autorität anerkannt wurde. Dadurch eröffnete sie das weltliche und politische Gebiet dem Einfluß der Kirche und des absoluten Ideals der echten christlichen Ethik. (Vgl. Baumgarten S. 46.) Erst der völlige Durchbruch der moralischen Persönlichkeit im Humanis¬ mus, Reformation bis zum sittlichen Rigorismus Kants mit dem kategorischen Gesetz in uns, deckte die Kluft zwischen Moral und Politik völlig auf. Gerade die Abfassung des „Princips", der Forderung der Jmmorcilität für den Staat, beweist, daß der Widerstreit fühlbar geworden war, der heute, wenn auch in gemilderter Form, für den im Namen des Staates Handelnden fortlebt. Für den Privatmann, der sich stets in den Grenzen eines eigenen oder fremden Rechtsstaats bewegt, bleibt dieser Zwiespalt latent. Der Staat spielt für ihn die gleiche Rolle, wie nach den Zielen der mittelalterlichen Krrche die Christenheit, wie nach dem humanistisch-christlichen Ideal des Protestantismus die Menschheit — die Rolle des Trägers der ethischen Kultur. Im Frieden kann er sich diesem Ideal soweit nähern, daß ihm ethisch Staatsgemeinschaft und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/279>, abgerufen am 22.07.2024.