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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Sind die Franzosen die echten Lrben althellenischer Geistes?

denken und leben soll, um glückselig zu werden. Diesen gemeinsamen Grundzug
teilen die französischen Denker und Dichter, Descartes und Comte nicht aus¬
genommen, mit Epikur und den Weisen der Stoa. Und da in Frankreich das
Leben in gebildeter Geselligkeit als das Leben schlechthin gilt, vollzieht sich die
Arbeit an der praktischen Philosophie weniger in den Schulen der strengen
Philosophie, als vielmehr in den höfisch-weltmännischen Kreisen, deren Aphorismen
und Einzelbeobachtungen mit Recht über alles geschätzt werden. Diese morale,
wie sie heißt, und diese moralisteZ: La Rochefocauld, La Bruyöre, Vauverargues
sind etwas eigentümlich Französisches und gehören zu den schönsten Leistungen
der Nation.

Mit diesem praktischen Endzweck aller Philosophie hängt aber aufs engste
zusammen ihre eklektische Entstehung. Wie der Stoiker Zenon und Epikuros ihre
Physik und Metaphysik, ihre Erkenntnislehre und Ethik den größeren Vorgängern
entlehnten und aus Antisthenes und Herakleitos, Aristippos und Demokritos, ein
gedankliches Gemenge ineinanderfügten, das, scheinbar eine willkürliche Auswahl
doch ihren Zielen durchaus angemessen war, so hat auch Descartes ohne inneren
Denkzwang den persönlichen Christengott an seine rationalistische Naturlehre
angehängt. Und gar bei Denkern, die auf Folgerichtigkeit keinen Anspruch machen,
wie Montaigne und Molisre, spielen stoische, epikureische und skeptische Gedanken¬
reihen so ungezwungen ineinander, daß man eben dadurch den reizvollen Eindruck
echt weltmännischer Lebensanschauung genießt.

Vermöge seiner weltmännischen Schulung und Gedankenrichtung findet der
gebildete Franzose eben diese drei Arten hellenistischer Geisteshaltung, die stoische,
epikureische und skeptische, seiner eigenen Anlage und Neigung angepaßt und
genehm. In den Reichen der Diadochen Alexanders so wenig wie im römischen
Weltreich oder unter dem absoluten französischen Königtum war ja der Staats¬
bürger ein Mitglied der beratenden Volksgemeinde und waffentragender Wehrmann:
Beamtenstand und Berufsheer beschränkten die Untertanen des Fürsten auf ihr
Haus, ihren Freundeskreis und die Berufsgenossen. Ungestört von äußerem Zwang
oder eigenem Vorurteil wollte sich jeder die Ruhe seiner Seele bewahren und
dabei die äußeren Glücksgüter maßvoll genießen. Deshalb suchte man mit gleicher
Festigkeit des Willens die stumpfe Gläubigkeit des niederen Volks und den
Gedankenflug einer allzu kühnen Metaphysik von sich fernzuhalten. Und so sehr
gleichen sich Zeitverhältnisse und Geistesrichtung im römischen Weltreich und im
königlichen Frankreich, daß jene drei Arten hellenistischer Lebensanschauung hier
wie NaturgewKchse immer neue Gestalt gewinnen, ohne daß die antiken Vorbilder
mehr als die Formel beisteuern, womit der geschichtlich Geschulte diese Erscheinungen
benennt und einreiht.

Doch es muß etwas Großes und Starkes, etwas Bejahendes und Tröst¬
liches in diesen Geisteshaltungen gelegen haben. Sonst verstünden wir nicht, daß
soviele der Edelsten des späteren Altertums und des neueren Frankreich sich daran
emporgerichtet haben. Sonst begriffen wir nicht, daß diese Richtungen unkirchlicher
Lebensanschauung alle in heftigem Kampf sich mit der Religion des Erlösers
auseinandergesetzt haben. Dieses Gemeinsame, dieses Lebendige und Leben-
schaffende kann nur ein Glaube sein: denn mit der Gläubigkeit kann sich nur
Gläubigkeit messen. Es ist der Rationalismus, diese eigentliche Religiosität des
Hellenismus wie des Franzosentums: das ist der unerschütterliche und darum
erlösende Glaube an die Vernunft, den n^o-;. Dazu aber muß gesagt werden,
daß unter Vernunft hier das logisch-mathematische Denken verstanden wird,
dasselbe, was Kant als Verstand oder diskursives Denken bezeichnet und dem
Intellekt oder dem intuitiver Denken gegenüberstellt. Dabei macht es nicht
allzuviel aus, ob man mit dem metaphysischen Kopf in diesem Logos die Welt¬
vernunft und das Göttliche selber erkennt, oder mit dem Spießbürger die Welt-
vernunst zum gesunden Menschenverstand, sensus communis, erniedrigt. Wesentlich
bleibt eine zweifache Wirkung des herrschenden Rationalismus: da die höchste
Instanz des Denkens und Handelns ein Gemeingut der Menschheit ist, gelangen


Grenzboten it 1918 10
Sind die Franzosen die echten Lrben althellenischer Geistes?

denken und leben soll, um glückselig zu werden. Diesen gemeinsamen Grundzug
teilen die französischen Denker und Dichter, Descartes und Comte nicht aus¬
genommen, mit Epikur und den Weisen der Stoa. Und da in Frankreich das
Leben in gebildeter Geselligkeit als das Leben schlechthin gilt, vollzieht sich die
Arbeit an der praktischen Philosophie weniger in den Schulen der strengen
Philosophie, als vielmehr in den höfisch-weltmännischen Kreisen, deren Aphorismen
und Einzelbeobachtungen mit Recht über alles geschätzt werden. Diese morale,
wie sie heißt, und diese moralisteZ: La Rochefocauld, La Bruyöre, Vauverargues
sind etwas eigentümlich Französisches und gehören zu den schönsten Leistungen
der Nation.

Mit diesem praktischen Endzweck aller Philosophie hängt aber aufs engste
zusammen ihre eklektische Entstehung. Wie der Stoiker Zenon und Epikuros ihre
Physik und Metaphysik, ihre Erkenntnislehre und Ethik den größeren Vorgängern
entlehnten und aus Antisthenes und Herakleitos, Aristippos und Demokritos, ein
gedankliches Gemenge ineinanderfügten, das, scheinbar eine willkürliche Auswahl
doch ihren Zielen durchaus angemessen war, so hat auch Descartes ohne inneren
Denkzwang den persönlichen Christengott an seine rationalistische Naturlehre
angehängt. Und gar bei Denkern, die auf Folgerichtigkeit keinen Anspruch machen,
wie Montaigne und Molisre, spielen stoische, epikureische und skeptische Gedanken¬
reihen so ungezwungen ineinander, daß man eben dadurch den reizvollen Eindruck
echt weltmännischer Lebensanschauung genießt.

Vermöge seiner weltmännischen Schulung und Gedankenrichtung findet der
gebildete Franzose eben diese drei Arten hellenistischer Geisteshaltung, die stoische,
epikureische und skeptische, seiner eigenen Anlage und Neigung angepaßt und
genehm. In den Reichen der Diadochen Alexanders so wenig wie im römischen
Weltreich oder unter dem absoluten französischen Königtum war ja der Staats¬
bürger ein Mitglied der beratenden Volksgemeinde und waffentragender Wehrmann:
Beamtenstand und Berufsheer beschränkten die Untertanen des Fürsten auf ihr
Haus, ihren Freundeskreis und die Berufsgenossen. Ungestört von äußerem Zwang
oder eigenem Vorurteil wollte sich jeder die Ruhe seiner Seele bewahren und
dabei die äußeren Glücksgüter maßvoll genießen. Deshalb suchte man mit gleicher
Festigkeit des Willens die stumpfe Gläubigkeit des niederen Volks und den
Gedankenflug einer allzu kühnen Metaphysik von sich fernzuhalten. Und so sehr
gleichen sich Zeitverhältnisse und Geistesrichtung im römischen Weltreich und im
königlichen Frankreich, daß jene drei Arten hellenistischer Lebensanschauung hier
wie NaturgewKchse immer neue Gestalt gewinnen, ohne daß die antiken Vorbilder
mehr als die Formel beisteuern, womit der geschichtlich Geschulte diese Erscheinungen
benennt und einreiht.

Doch es muß etwas Großes und Starkes, etwas Bejahendes und Tröst¬
liches in diesen Geisteshaltungen gelegen haben. Sonst verstünden wir nicht, daß
soviele der Edelsten des späteren Altertums und des neueren Frankreich sich daran
emporgerichtet haben. Sonst begriffen wir nicht, daß diese Richtungen unkirchlicher
Lebensanschauung alle in heftigem Kampf sich mit der Religion des Erlösers
auseinandergesetzt haben. Dieses Gemeinsame, dieses Lebendige und Leben-
schaffende kann nur ein Glaube sein: denn mit der Gläubigkeit kann sich nur
Gläubigkeit messen. Es ist der Rationalismus, diese eigentliche Religiosität des
Hellenismus wie des Franzosentums: das ist der unerschütterliche und darum
erlösende Glaube an die Vernunft, den n^o-;. Dazu aber muß gesagt werden,
daß unter Vernunft hier das logisch-mathematische Denken verstanden wird,
dasselbe, was Kant als Verstand oder diskursives Denken bezeichnet und dem
Intellekt oder dem intuitiver Denken gegenüberstellt. Dabei macht es nicht
allzuviel aus, ob man mit dem metaphysischen Kopf in diesem Logos die Welt¬
vernunft und das Göttliche selber erkennt, oder mit dem Spießbürger die Welt-
vernunst zum gesunden Menschenverstand, sensus communis, erniedrigt. Wesentlich
bleibt eine zweifache Wirkung des herrschenden Rationalismus: da die höchste
Instanz des Denkens und Handelns ein Gemeingut der Menschheit ist, gelangen


Grenzboten it 1918 10
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[0133] Sind die Franzosen die echten Lrben althellenischer Geistes? denken und leben soll, um glückselig zu werden. Diesen gemeinsamen Grundzug teilen die französischen Denker und Dichter, Descartes und Comte nicht aus¬ genommen, mit Epikur und den Weisen der Stoa. Und da in Frankreich das Leben in gebildeter Geselligkeit als das Leben schlechthin gilt, vollzieht sich die Arbeit an der praktischen Philosophie weniger in den Schulen der strengen Philosophie, als vielmehr in den höfisch-weltmännischen Kreisen, deren Aphorismen und Einzelbeobachtungen mit Recht über alles geschätzt werden. Diese morale, wie sie heißt, und diese moralisteZ: La Rochefocauld, La Bruyöre, Vauverargues sind etwas eigentümlich Französisches und gehören zu den schönsten Leistungen der Nation. Mit diesem praktischen Endzweck aller Philosophie hängt aber aufs engste zusammen ihre eklektische Entstehung. Wie der Stoiker Zenon und Epikuros ihre Physik und Metaphysik, ihre Erkenntnislehre und Ethik den größeren Vorgängern entlehnten und aus Antisthenes und Herakleitos, Aristippos und Demokritos, ein gedankliches Gemenge ineinanderfügten, das, scheinbar eine willkürliche Auswahl doch ihren Zielen durchaus angemessen war, so hat auch Descartes ohne inneren Denkzwang den persönlichen Christengott an seine rationalistische Naturlehre angehängt. Und gar bei Denkern, die auf Folgerichtigkeit keinen Anspruch machen, wie Montaigne und Molisre, spielen stoische, epikureische und skeptische Gedanken¬ reihen so ungezwungen ineinander, daß man eben dadurch den reizvollen Eindruck echt weltmännischer Lebensanschauung genießt. Vermöge seiner weltmännischen Schulung und Gedankenrichtung findet der gebildete Franzose eben diese drei Arten hellenistischer Geisteshaltung, die stoische, epikureische und skeptische, seiner eigenen Anlage und Neigung angepaßt und genehm. In den Reichen der Diadochen Alexanders so wenig wie im römischen Weltreich oder unter dem absoluten französischen Königtum war ja der Staats¬ bürger ein Mitglied der beratenden Volksgemeinde und waffentragender Wehrmann: Beamtenstand und Berufsheer beschränkten die Untertanen des Fürsten auf ihr Haus, ihren Freundeskreis und die Berufsgenossen. Ungestört von äußerem Zwang oder eigenem Vorurteil wollte sich jeder die Ruhe seiner Seele bewahren und dabei die äußeren Glücksgüter maßvoll genießen. Deshalb suchte man mit gleicher Festigkeit des Willens die stumpfe Gläubigkeit des niederen Volks und den Gedankenflug einer allzu kühnen Metaphysik von sich fernzuhalten. Und so sehr gleichen sich Zeitverhältnisse und Geistesrichtung im römischen Weltreich und im königlichen Frankreich, daß jene drei Arten hellenistischer Lebensanschauung hier wie NaturgewKchse immer neue Gestalt gewinnen, ohne daß die antiken Vorbilder mehr als die Formel beisteuern, womit der geschichtlich Geschulte diese Erscheinungen benennt und einreiht. Doch es muß etwas Großes und Starkes, etwas Bejahendes und Tröst¬ liches in diesen Geisteshaltungen gelegen haben. Sonst verstünden wir nicht, daß soviele der Edelsten des späteren Altertums und des neueren Frankreich sich daran emporgerichtet haben. Sonst begriffen wir nicht, daß diese Richtungen unkirchlicher Lebensanschauung alle in heftigem Kampf sich mit der Religion des Erlösers auseinandergesetzt haben. Dieses Gemeinsame, dieses Lebendige und Leben- schaffende kann nur ein Glaube sein: denn mit der Gläubigkeit kann sich nur Gläubigkeit messen. Es ist der Rationalismus, diese eigentliche Religiosität des Hellenismus wie des Franzosentums: das ist der unerschütterliche und darum erlösende Glaube an die Vernunft, den n^o-;. Dazu aber muß gesagt werden, daß unter Vernunft hier das logisch-mathematische Denken verstanden wird, dasselbe, was Kant als Verstand oder diskursives Denken bezeichnet und dem Intellekt oder dem intuitiver Denken gegenüberstellt. Dabei macht es nicht allzuviel aus, ob man mit dem metaphysischen Kopf in diesem Logos die Welt¬ vernunft und das Göttliche selber erkennt, oder mit dem Spießbürger die Welt- vernunst zum gesunden Menschenverstand, sensus communis, erniedrigt. Wesentlich bleibt eine zweifache Wirkung des herrschenden Rationalismus: da die höchste Instanz des Denkens und Handelns ein Gemeingut der Menschheit ist, gelangen Grenzboten it 1918 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/133>, abgerufen am 23.07.2024.