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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Sind die Franzosen die echten Lrben althellenischer Geistes?

bildung -- Perikles, Augustus und Ludwig der Vierzehnte als die Männer, von
denen die ruhmreichsten Zeitalter der Weltgeschichte Namen und Gepräge empfangen:
so erscheint dem ehrgeizigen Franzosen der Ablauf der neueren Geistesgeschichte.
Und auf dieses geistige Erbrecht, auf diese einzigartige Nachfolge begründet der
Franzose seinen Anspruch und seinen Ruhm, allen übrigen Völkern als Erzieher
und Befreier wagemutig und siegesgewisz voranzuschreiten. Das Sonnenkönigtum
des vierzehnten Ludwig und das Weltkaisertum von Napoleon Bonaparte sind beide
in verzehrenden Feuerbränden erloschen. Um so eifersüchtiger ist man seitdem be¬
dacht, wenigstens das Erbe von Althellas festzuhalten und damit die geistige und
künstlerische Vorherrschaft der Welt, ce etroit ä'^riLtoLratique Suprematie litteraire,
wie Ferdinand Brünettere gesagt hat, der leidenschaftliche und erfolgreiche Vor¬
kämpfer des französischen Klassizismus. Und in der Tat gilt dieser Anspruch
Frankreichs unbestritten noch heute bei vielen Völkern zu Recht, innerhalb Europas
und außerhalb, bei Nationen mit'alter oder junger Vergangenheit, mit romanischer
oder slawischer oder anderer Sprache, ja sogar in Junghellas, das seit einem
Jahrhundert erst durch ein eigenes staatliches Dasein die Kraft und die Mög¬
lichkeit wiedergewonnen hat, für sich selber das hohe Erbe der großen Väter an¬
zutreten.

Mit einer Selbstverständlichkeit als könnte es gar nicht anders sein, wahrt
und übt man in Frankreich die Rechtsnachfolge von Hellas- Nur darüber geriet
man dort mehr als einmal in heftigen Streit, wer mehr und größeres geleistet
habe, der Lehrer oder der Schüler, der Meister oder der Nachahmer. Ein Jahr¬
hundert lang tobte der Kampf, der zwischen Boileau und Charles Perrault am
hitzigsten entbrannte, die (Zustelle des Xneiens et clef i^oäernes, die nie ent¬
schieden wurde, auch gar nicht entschieden werden kann, weil die ganze Frage
von Anbeginn schief und irreführend gestellt war. Denn überhaupt nicht um den
Vorrang von Vorbild oder Nachahmung kann es sich handeln, noch um einen
Vergleich von Dingen und Leistungen, die in sich geschlossen und von eigener Art
dastehen wie edle Naturgewächse. Überwunden ist heute, oder sollte es wenigstens
sein, das alte, verhängnisvolle Vorurteil, als ob durch gewissenhafte Nachahmung
eines Vorbildes, als ob durch Regel und Schema die große und starke und dauernde
Schöpfung gesichert wäre. Die Geschichte des französischen und nicht minder
unseres deutschen Geisteslebens zeigt uns so viele unglückselige Zeugnisse jammer¬
voll irregeleiteter und kläglich verschwendeter Kraftanstrengung, daß diese Spuren
die jüngeren Geschlechter für immer und ewig davon abschrecken sollten, der An¬
tike in anderem nachzueifern als im unbefangenen Wagemut und zugleich im
sachlichen Ernst. Wenn neuerdings wieder die Nationalisten um Charles Maurras
von der ^Llion iraneaise den Schlachtruf erheben: Zurück zur Antike! so verbirgt
sich dahinter bei den einen das Verlangen nach einer strengen und geschlossenen
Form, bei den anderen, wie die Beispiele zeigen, künstlerisches Unvermögen. Nein,
für uns heute ist die ()uereile cieL Xnciens et clef i^oclsrnes erledigt und noch
viel langweiliger geworden als einst auf der Schulbank.

Dagegen ein anderes fesselt unser Nachdenken, eine Frage, die unter jener
(Zuerelle krariLsise verborgen liegt und von dem gallischen Ehrgeiz noch nie,
soviel ich wüßte, beantwortet, ja kaum gestellt worden ist. Allein' nur die Tat
und die Leistung, nicht der Versuch und der Anspruch, gilt etwas im Leben der
Völker. Kann der französische Geist seine Forderung der althellenischer Erbschaft
auf wirkliche Tat und gelungene Leistung begründen? Umspannt er tatsächlich
die Höhen und Weiten edelsten griechischen Geistes? Und wenn sich das nicht
bewahrheiten sollte: auf welchen Gebieten hat die französische Nation fortgesetzt,
was die großen Vorgänger ruhmreich begonnen? Welche Fragen hat er gelöst,
welche Aufgaben vollendet, an denen sich zuerst der Forschergeist und die Gestal¬
tungskraft von Althellas erfolgreich versuchten? Denn die Sachlage bleibt: so
viele Geister der griechischen Welt scheinen in diesem und jenem schöpferischen
Franzosen leibhaftig wiedererstanden; so stark verblüfft uns die innere Verwandt¬
schaft geistiger Bewegungen hier und dort, daß wir staunend den Blick nicht ab-


Sind die Franzosen die echten Lrben althellenischer Geistes?

bildung — Perikles, Augustus und Ludwig der Vierzehnte als die Männer, von
denen die ruhmreichsten Zeitalter der Weltgeschichte Namen und Gepräge empfangen:
so erscheint dem ehrgeizigen Franzosen der Ablauf der neueren Geistesgeschichte.
Und auf dieses geistige Erbrecht, auf diese einzigartige Nachfolge begründet der
Franzose seinen Anspruch und seinen Ruhm, allen übrigen Völkern als Erzieher
und Befreier wagemutig und siegesgewisz voranzuschreiten. Das Sonnenkönigtum
des vierzehnten Ludwig und das Weltkaisertum von Napoleon Bonaparte sind beide
in verzehrenden Feuerbränden erloschen. Um so eifersüchtiger ist man seitdem be¬
dacht, wenigstens das Erbe von Althellas festzuhalten und damit die geistige und
künstlerische Vorherrschaft der Welt, ce etroit ä'^riLtoLratique Suprematie litteraire,
wie Ferdinand Brünettere gesagt hat, der leidenschaftliche und erfolgreiche Vor¬
kämpfer des französischen Klassizismus. Und in der Tat gilt dieser Anspruch
Frankreichs unbestritten noch heute bei vielen Völkern zu Recht, innerhalb Europas
und außerhalb, bei Nationen mit'alter oder junger Vergangenheit, mit romanischer
oder slawischer oder anderer Sprache, ja sogar in Junghellas, das seit einem
Jahrhundert erst durch ein eigenes staatliches Dasein die Kraft und die Mög¬
lichkeit wiedergewonnen hat, für sich selber das hohe Erbe der großen Väter an¬
zutreten.

Mit einer Selbstverständlichkeit als könnte es gar nicht anders sein, wahrt
und übt man in Frankreich die Rechtsnachfolge von Hellas- Nur darüber geriet
man dort mehr als einmal in heftigen Streit, wer mehr und größeres geleistet
habe, der Lehrer oder der Schüler, der Meister oder der Nachahmer. Ein Jahr¬
hundert lang tobte der Kampf, der zwischen Boileau und Charles Perrault am
hitzigsten entbrannte, die (Zustelle des Xneiens et clef i^oäernes, die nie ent¬
schieden wurde, auch gar nicht entschieden werden kann, weil die ganze Frage
von Anbeginn schief und irreführend gestellt war. Denn überhaupt nicht um den
Vorrang von Vorbild oder Nachahmung kann es sich handeln, noch um einen
Vergleich von Dingen und Leistungen, die in sich geschlossen und von eigener Art
dastehen wie edle Naturgewächse. Überwunden ist heute, oder sollte es wenigstens
sein, das alte, verhängnisvolle Vorurteil, als ob durch gewissenhafte Nachahmung
eines Vorbildes, als ob durch Regel und Schema die große und starke und dauernde
Schöpfung gesichert wäre. Die Geschichte des französischen und nicht minder
unseres deutschen Geisteslebens zeigt uns so viele unglückselige Zeugnisse jammer¬
voll irregeleiteter und kläglich verschwendeter Kraftanstrengung, daß diese Spuren
die jüngeren Geschlechter für immer und ewig davon abschrecken sollten, der An¬
tike in anderem nachzueifern als im unbefangenen Wagemut und zugleich im
sachlichen Ernst. Wenn neuerdings wieder die Nationalisten um Charles Maurras
von der ^Llion iraneaise den Schlachtruf erheben: Zurück zur Antike! so verbirgt
sich dahinter bei den einen das Verlangen nach einer strengen und geschlossenen
Form, bei den anderen, wie die Beispiele zeigen, künstlerisches Unvermögen. Nein,
für uns heute ist die ()uereile cieL Xnciens et clef i^oclsrnes erledigt und noch
viel langweiliger geworden als einst auf der Schulbank.

Dagegen ein anderes fesselt unser Nachdenken, eine Frage, die unter jener
(Zuerelle krariLsise verborgen liegt und von dem gallischen Ehrgeiz noch nie,
soviel ich wüßte, beantwortet, ja kaum gestellt worden ist. Allein' nur die Tat
und die Leistung, nicht der Versuch und der Anspruch, gilt etwas im Leben der
Völker. Kann der französische Geist seine Forderung der althellenischer Erbschaft
auf wirkliche Tat und gelungene Leistung begründen? Umspannt er tatsächlich
die Höhen und Weiten edelsten griechischen Geistes? Und wenn sich das nicht
bewahrheiten sollte: auf welchen Gebieten hat die französische Nation fortgesetzt,
was die großen Vorgänger ruhmreich begonnen? Welche Fragen hat er gelöst,
welche Aufgaben vollendet, an denen sich zuerst der Forschergeist und die Gestal¬
tungskraft von Althellas erfolgreich versuchten? Denn die Sachlage bleibt: so
viele Geister der griechischen Welt scheinen in diesem und jenem schöpferischen
Franzosen leibhaftig wiedererstanden; so stark verblüfft uns die innere Verwandt¬
schaft geistiger Bewegungen hier und dort, daß wir staunend den Blick nicht ab-


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[0128] Sind die Franzosen die echten Lrben althellenischer Geistes? bildung — Perikles, Augustus und Ludwig der Vierzehnte als die Männer, von denen die ruhmreichsten Zeitalter der Weltgeschichte Namen und Gepräge empfangen: so erscheint dem ehrgeizigen Franzosen der Ablauf der neueren Geistesgeschichte. Und auf dieses geistige Erbrecht, auf diese einzigartige Nachfolge begründet der Franzose seinen Anspruch und seinen Ruhm, allen übrigen Völkern als Erzieher und Befreier wagemutig und siegesgewisz voranzuschreiten. Das Sonnenkönigtum des vierzehnten Ludwig und das Weltkaisertum von Napoleon Bonaparte sind beide in verzehrenden Feuerbränden erloschen. Um so eifersüchtiger ist man seitdem be¬ dacht, wenigstens das Erbe von Althellas festzuhalten und damit die geistige und künstlerische Vorherrschaft der Welt, ce etroit ä'^riLtoLratique Suprematie litteraire, wie Ferdinand Brünettere gesagt hat, der leidenschaftliche und erfolgreiche Vor¬ kämpfer des französischen Klassizismus. Und in der Tat gilt dieser Anspruch Frankreichs unbestritten noch heute bei vielen Völkern zu Recht, innerhalb Europas und außerhalb, bei Nationen mit'alter oder junger Vergangenheit, mit romanischer oder slawischer oder anderer Sprache, ja sogar in Junghellas, das seit einem Jahrhundert erst durch ein eigenes staatliches Dasein die Kraft und die Mög¬ lichkeit wiedergewonnen hat, für sich selber das hohe Erbe der großen Väter an¬ zutreten. Mit einer Selbstverständlichkeit als könnte es gar nicht anders sein, wahrt und übt man in Frankreich die Rechtsnachfolge von Hellas- Nur darüber geriet man dort mehr als einmal in heftigen Streit, wer mehr und größeres geleistet habe, der Lehrer oder der Schüler, der Meister oder der Nachahmer. Ein Jahr¬ hundert lang tobte der Kampf, der zwischen Boileau und Charles Perrault am hitzigsten entbrannte, die (Zustelle des Xneiens et clef i^oäernes, die nie ent¬ schieden wurde, auch gar nicht entschieden werden kann, weil die ganze Frage von Anbeginn schief und irreführend gestellt war. Denn überhaupt nicht um den Vorrang von Vorbild oder Nachahmung kann es sich handeln, noch um einen Vergleich von Dingen und Leistungen, die in sich geschlossen und von eigener Art dastehen wie edle Naturgewächse. Überwunden ist heute, oder sollte es wenigstens sein, das alte, verhängnisvolle Vorurteil, als ob durch gewissenhafte Nachahmung eines Vorbildes, als ob durch Regel und Schema die große und starke und dauernde Schöpfung gesichert wäre. Die Geschichte des französischen und nicht minder unseres deutschen Geisteslebens zeigt uns so viele unglückselige Zeugnisse jammer¬ voll irregeleiteter und kläglich verschwendeter Kraftanstrengung, daß diese Spuren die jüngeren Geschlechter für immer und ewig davon abschrecken sollten, der An¬ tike in anderem nachzueifern als im unbefangenen Wagemut und zugleich im sachlichen Ernst. Wenn neuerdings wieder die Nationalisten um Charles Maurras von der ^Llion iraneaise den Schlachtruf erheben: Zurück zur Antike! so verbirgt sich dahinter bei den einen das Verlangen nach einer strengen und geschlossenen Form, bei den anderen, wie die Beispiele zeigen, künstlerisches Unvermögen. Nein, für uns heute ist die ()uereile cieL Xnciens et clef i^oclsrnes erledigt und noch viel langweiliger geworden als einst auf der Schulbank. Dagegen ein anderes fesselt unser Nachdenken, eine Frage, die unter jener (Zuerelle krariLsise verborgen liegt und von dem gallischen Ehrgeiz noch nie, soviel ich wüßte, beantwortet, ja kaum gestellt worden ist. Allein' nur die Tat und die Leistung, nicht der Versuch und der Anspruch, gilt etwas im Leben der Völker. Kann der französische Geist seine Forderung der althellenischer Erbschaft auf wirkliche Tat und gelungene Leistung begründen? Umspannt er tatsächlich die Höhen und Weiten edelsten griechischen Geistes? Und wenn sich das nicht bewahrheiten sollte: auf welchen Gebieten hat die französische Nation fortgesetzt, was die großen Vorgänger ruhmreich begonnen? Welche Fragen hat er gelöst, welche Aufgaben vollendet, an denen sich zuerst der Forschergeist und die Gestal¬ tungskraft von Althellas erfolgreich versuchten? Denn die Sachlage bleibt: so viele Geister der griechischen Welt scheinen in diesem und jenem schöpferischen Franzosen leibhaftig wiedererstanden; so stark verblüfft uns die innere Verwandt¬ schaft geistiger Bewegungen hier und dort, daß wir staunend den Blick nicht ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/128>, abgerufen am 23.07.2024.