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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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Die nationale Li^mart der deutschen Verssprache

es entstand jene Anschauung, es sei die dichterische Form eine an sich bestehende
Schale, in die der sie verwendende Poet nur neuen Inhalt zu gießen habe. Die
Dogmen von der Erlernbarkeit der Poesie, von ihrer rationalen Bestimmbarkeit
und Berechenbarkeit waren natürliche Folgen dieser Anschauung, die, besonders auf
die deutsche Sprache angewandt, geradezu verheerend wirken mußte.

Denn an sich ist bereits das deutsche Sprachmaterial ein ganz anderes als
das griechische. Unsere Sprache kennt nicht wie die griechische die deutliche Schei¬
dung zwischen langen und kurzen Silben, auf der das Stilprinzip des griechischen
Verses beruht. Die germanischen Sprachen kennen nur Grade des Akzents, und
zwar nicht nur, wie unsere klassisch verblendeten Poetiken uns aufreden wollen,
betonte und unbetonte Silben, sondern mannigfach abgestufte Grade der Betonung,
die der antiken Regelmäßigkeit widerstreben, aber dafür eine weit größere Mannig¬
faltigkeit und Beweglichkeit und damit irrationale Wirkungen gestatten, die der
antiken Poesie ganz unzugänglich sind. Gewiß ordnet auch die altgermanische
Poesie die Worte so, daß ein strafferer ausdrucksstarkerer Rhythmus entsteht als
in der ganz ungeordneten Alltagsspcache; man hebt diesen Rhythmus auch durch
Gleichklang der Wortanfänge, den sogenannten Stabreim, hervor: aber, in der
Hauptsache bleibt der Rhythmus doch beweglich, die Silbenzahl wird nicht abge¬
grenzt, die Form ist kein rationales Grundschema, sondern in jedem Fall der
spontane Ausdruck des Inhalts. Sie wächst mit diesem Inhalt selber, ist nicht
eine geprägte Schale, in die der Inhalt gegossen wird. Der altgermanische Vers
verhält sich also in seiner Mannigfaltigkeit, scheinbaren Regellosigkeit und irratio¬
nalen Beweglichkeit zum einheitlichen, ausgewogenen, rationalen klassischen Vers,
wie die nordischen Bandornamente zur regelmäßiger klassischen Ornamentik.

Im Hildebrandslied, im Heliand und allen unverfälscht germanischen Dich¬
tungen liegt der gekennzeichnete Tatbestand offen zutage. Leider aber wird er
noch immer falsch ausgedeutet, indem man den germanischen Vers in das Pro¬
krustesbett der klassischen Prosodie klemmt. Geblendet vom Begriff der allein¬
seligmachenden Regelmäßigkeit der klassischen Form, sucht man diese auch inner¬
halb der germanischen Beweglichkeit und, dciMan sie in den tatsächlich vorhandenen
Denkmälern nicht findet, so konstruiert man ein niemals vorhandenes ideales
Schema und behauptet, die uns überlieferten Denkmäler seien nur entstellte Ver¬
fallsprodukte. Damit aber stellt man den Tatbestand auf den Kopf, und es gilt
hierin eine prinzipielle Verständigung, die den klassizistischen Schematismus in
seine Schranken weist. (In Parenthese sei dabei bemerkt, daß die deutschen Ver¬
ehrer der klassischen Form auch die antiken Verse durchaus germanisch lesen, d. h.,
daß sie die antiken Qualitätsunterschiede fälschlich durch Akzecitverschiedenheitrn
ersetzen, so daß Alkaios oder Horaz vermutlich ihre so gelesenen Verse niemals
als ihre eigenen erkennen würden. Ein grotesker Witz der Weltgeschichte, daß
hier die nationale Art über alle Theorie einen unbewußten Sieg davonträgU)
Es ist nun sehr interessant, in der Geschichte der deutschen Dichtung zu verfolgen,
wie sich das in der altgermanischen Poesie rein ausgeprägte urdeutsche Kunst¬
wollen zur Dynamik, Freiheit, Irrationalität trotz aller klassizistischen Beschnei-
dungsversuche immer wieder durchsetzt. Gewiß, der Stabreim ging verloren und
wurde in seinen Funktionen, wie gleich zu zeigen sein wird, durch den Endreim
ersetzt. Aber die aller Regelmäßigkeit und Silbenzählerei spottende, frei akzen¬
tuierende Sprachgebung dringt immer wieder durch. Und zwar geschieht das
bezeichnenderweise überall gerade dort am stärksten, wo ein volkstümlicher Gehalt
sich einen Ausdruck sucht. Dabei erfolgt das vielfach ganz ohne bewußte An¬
knüpfung an alte Tradition, und gerade das beweist uns die innere, im Volks¬
charakter und im Wesen der deutschen Sprache liegende Notwendigkeit.

In den begeisterten Reden der deutschen Mystiker, in Luthers Psalmen-
Übersetzung, in Klopstocks ganz unklassischen Oden, in Novalis Hymnen, in Jean
Pauls Prosadichtungen bis zu Nietzsches Zarathustra haben wir eine spezifisch ger¬
manische Formung, die bezeichnenderweise im Französischen z. B. gar nicht nachzu¬
bilden ist. Und auch wo das internationale Kulturgut des Reimes übernommen


Die nationale Li^mart der deutschen Verssprache

es entstand jene Anschauung, es sei die dichterische Form eine an sich bestehende
Schale, in die der sie verwendende Poet nur neuen Inhalt zu gießen habe. Die
Dogmen von der Erlernbarkeit der Poesie, von ihrer rationalen Bestimmbarkeit
und Berechenbarkeit waren natürliche Folgen dieser Anschauung, die, besonders auf
die deutsche Sprache angewandt, geradezu verheerend wirken mußte.

Denn an sich ist bereits das deutsche Sprachmaterial ein ganz anderes als
das griechische. Unsere Sprache kennt nicht wie die griechische die deutliche Schei¬
dung zwischen langen und kurzen Silben, auf der das Stilprinzip des griechischen
Verses beruht. Die germanischen Sprachen kennen nur Grade des Akzents, und
zwar nicht nur, wie unsere klassisch verblendeten Poetiken uns aufreden wollen,
betonte und unbetonte Silben, sondern mannigfach abgestufte Grade der Betonung,
die der antiken Regelmäßigkeit widerstreben, aber dafür eine weit größere Mannig¬
faltigkeit und Beweglichkeit und damit irrationale Wirkungen gestatten, die der
antiken Poesie ganz unzugänglich sind. Gewiß ordnet auch die altgermanische
Poesie die Worte so, daß ein strafferer ausdrucksstarkerer Rhythmus entsteht als
in der ganz ungeordneten Alltagsspcache; man hebt diesen Rhythmus auch durch
Gleichklang der Wortanfänge, den sogenannten Stabreim, hervor: aber, in der
Hauptsache bleibt der Rhythmus doch beweglich, die Silbenzahl wird nicht abge¬
grenzt, die Form ist kein rationales Grundschema, sondern in jedem Fall der
spontane Ausdruck des Inhalts. Sie wächst mit diesem Inhalt selber, ist nicht
eine geprägte Schale, in die der Inhalt gegossen wird. Der altgermanische Vers
verhält sich also in seiner Mannigfaltigkeit, scheinbaren Regellosigkeit und irratio¬
nalen Beweglichkeit zum einheitlichen, ausgewogenen, rationalen klassischen Vers,
wie die nordischen Bandornamente zur regelmäßiger klassischen Ornamentik.

Im Hildebrandslied, im Heliand und allen unverfälscht germanischen Dich¬
tungen liegt der gekennzeichnete Tatbestand offen zutage. Leider aber wird er
noch immer falsch ausgedeutet, indem man den germanischen Vers in das Pro¬
krustesbett der klassischen Prosodie klemmt. Geblendet vom Begriff der allein¬
seligmachenden Regelmäßigkeit der klassischen Form, sucht man diese auch inner¬
halb der germanischen Beweglichkeit und, dciMan sie in den tatsächlich vorhandenen
Denkmälern nicht findet, so konstruiert man ein niemals vorhandenes ideales
Schema und behauptet, die uns überlieferten Denkmäler seien nur entstellte Ver¬
fallsprodukte. Damit aber stellt man den Tatbestand auf den Kopf, und es gilt
hierin eine prinzipielle Verständigung, die den klassizistischen Schematismus in
seine Schranken weist. (In Parenthese sei dabei bemerkt, daß die deutschen Ver¬
ehrer der klassischen Form auch die antiken Verse durchaus germanisch lesen, d. h.,
daß sie die antiken Qualitätsunterschiede fälschlich durch Akzecitverschiedenheitrn
ersetzen, so daß Alkaios oder Horaz vermutlich ihre so gelesenen Verse niemals
als ihre eigenen erkennen würden. Ein grotesker Witz der Weltgeschichte, daß
hier die nationale Art über alle Theorie einen unbewußten Sieg davonträgU)
Es ist nun sehr interessant, in der Geschichte der deutschen Dichtung zu verfolgen,
wie sich das in der altgermanischen Poesie rein ausgeprägte urdeutsche Kunst¬
wollen zur Dynamik, Freiheit, Irrationalität trotz aller klassizistischen Beschnei-
dungsversuche immer wieder durchsetzt. Gewiß, der Stabreim ging verloren und
wurde in seinen Funktionen, wie gleich zu zeigen sein wird, durch den Endreim
ersetzt. Aber die aller Regelmäßigkeit und Silbenzählerei spottende, frei akzen¬
tuierende Sprachgebung dringt immer wieder durch. Und zwar geschieht das
bezeichnenderweise überall gerade dort am stärksten, wo ein volkstümlicher Gehalt
sich einen Ausdruck sucht. Dabei erfolgt das vielfach ganz ohne bewußte An¬
knüpfung an alte Tradition, und gerade das beweist uns die innere, im Volks¬
charakter und im Wesen der deutschen Sprache liegende Notwendigkeit.

In den begeisterten Reden der deutschen Mystiker, in Luthers Psalmen-
Übersetzung, in Klopstocks ganz unklassischen Oden, in Novalis Hymnen, in Jean
Pauls Prosadichtungen bis zu Nietzsches Zarathustra haben wir eine spezifisch ger¬
manische Formung, die bezeichnenderweise im Französischen z. B. gar nicht nachzu¬
bilden ist. Und auch wo das internationale Kulturgut des Reimes übernommen


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[0340] Die nationale Li^mart der deutschen Verssprache es entstand jene Anschauung, es sei die dichterische Form eine an sich bestehende Schale, in die der sie verwendende Poet nur neuen Inhalt zu gießen habe. Die Dogmen von der Erlernbarkeit der Poesie, von ihrer rationalen Bestimmbarkeit und Berechenbarkeit waren natürliche Folgen dieser Anschauung, die, besonders auf die deutsche Sprache angewandt, geradezu verheerend wirken mußte. Denn an sich ist bereits das deutsche Sprachmaterial ein ganz anderes als das griechische. Unsere Sprache kennt nicht wie die griechische die deutliche Schei¬ dung zwischen langen und kurzen Silben, auf der das Stilprinzip des griechischen Verses beruht. Die germanischen Sprachen kennen nur Grade des Akzents, und zwar nicht nur, wie unsere klassisch verblendeten Poetiken uns aufreden wollen, betonte und unbetonte Silben, sondern mannigfach abgestufte Grade der Betonung, die der antiken Regelmäßigkeit widerstreben, aber dafür eine weit größere Mannig¬ faltigkeit und Beweglichkeit und damit irrationale Wirkungen gestatten, die der antiken Poesie ganz unzugänglich sind. Gewiß ordnet auch die altgermanische Poesie die Worte so, daß ein strafferer ausdrucksstarkerer Rhythmus entsteht als in der ganz ungeordneten Alltagsspcache; man hebt diesen Rhythmus auch durch Gleichklang der Wortanfänge, den sogenannten Stabreim, hervor: aber, in der Hauptsache bleibt der Rhythmus doch beweglich, die Silbenzahl wird nicht abge¬ grenzt, die Form ist kein rationales Grundschema, sondern in jedem Fall der spontane Ausdruck des Inhalts. Sie wächst mit diesem Inhalt selber, ist nicht eine geprägte Schale, in die der Inhalt gegossen wird. Der altgermanische Vers verhält sich also in seiner Mannigfaltigkeit, scheinbaren Regellosigkeit und irratio¬ nalen Beweglichkeit zum einheitlichen, ausgewogenen, rationalen klassischen Vers, wie die nordischen Bandornamente zur regelmäßiger klassischen Ornamentik. Im Hildebrandslied, im Heliand und allen unverfälscht germanischen Dich¬ tungen liegt der gekennzeichnete Tatbestand offen zutage. Leider aber wird er noch immer falsch ausgedeutet, indem man den germanischen Vers in das Pro¬ krustesbett der klassischen Prosodie klemmt. Geblendet vom Begriff der allein¬ seligmachenden Regelmäßigkeit der klassischen Form, sucht man diese auch inner¬ halb der germanischen Beweglichkeit und, dciMan sie in den tatsächlich vorhandenen Denkmälern nicht findet, so konstruiert man ein niemals vorhandenes ideales Schema und behauptet, die uns überlieferten Denkmäler seien nur entstellte Ver¬ fallsprodukte. Damit aber stellt man den Tatbestand auf den Kopf, und es gilt hierin eine prinzipielle Verständigung, die den klassizistischen Schematismus in seine Schranken weist. (In Parenthese sei dabei bemerkt, daß die deutschen Ver¬ ehrer der klassischen Form auch die antiken Verse durchaus germanisch lesen, d. h., daß sie die antiken Qualitätsunterschiede fälschlich durch Akzecitverschiedenheitrn ersetzen, so daß Alkaios oder Horaz vermutlich ihre so gelesenen Verse niemals als ihre eigenen erkennen würden. Ein grotesker Witz der Weltgeschichte, daß hier die nationale Art über alle Theorie einen unbewußten Sieg davonträgU) Es ist nun sehr interessant, in der Geschichte der deutschen Dichtung zu verfolgen, wie sich das in der altgermanischen Poesie rein ausgeprägte urdeutsche Kunst¬ wollen zur Dynamik, Freiheit, Irrationalität trotz aller klassizistischen Beschnei- dungsversuche immer wieder durchsetzt. Gewiß, der Stabreim ging verloren und wurde in seinen Funktionen, wie gleich zu zeigen sein wird, durch den Endreim ersetzt. Aber die aller Regelmäßigkeit und Silbenzählerei spottende, frei akzen¬ tuierende Sprachgebung dringt immer wieder durch. Und zwar geschieht das bezeichnenderweise überall gerade dort am stärksten, wo ein volkstümlicher Gehalt sich einen Ausdruck sucht. Dabei erfolgt das vielfach ganz ohne bewußte An¬ knüpfung an alte Tradition, und gerade das beweist uns die innere, im Volks¬ charakter und im Wesen der deutschen Sprache liegende Notwendigkeit. In den begeisterten Reden der deutschen Mystiker, in Luthers Psalmen- Übersetzung, in Klopstocks ganz unklassischen Oden, in Novalis Hymnen, in Jean Pauls Prosadichtungen bis zu Nietzsches Zarathustra haben wir eine spezifisch ger¬ manische Formung, die bezeichnenderweise im Französischen z. B. gar nicht nachzu¬ bilden ist. Und auch wo das internationale Kulturgut des Reimes übernommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/340>, abgerufen am 22.07.2024.