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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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Katholiken und Sozialisten in Frankreich

Meinung und der aufgeklärten Geister. Mit seinem einfältigen, gesunden Menschen¬
verstand, der aber besonders in entscheidenden Zeiten die Ungerechtigkeiten gewisser
Vorteile lebhaft empfindet, hat das Volk niemals verstanden und wird niemals
verstehen, daß die Priester sich der Militärpflicht, die so schwer auf jedem lastet,
entzogen haben. Nachdem sie im August und September gekämpft hatten, hörten
sie später auf. Umsonst wird angeführt, daß sie nur den Vorteil neuer gesetzlicher
Bestimmungen genießen. Haben sie diese nicht selbst erbeten und herausgefordert?
Und durch welches gesetzgebende Taschenspielerkunststück hat man es fertig gebracht,
allein einer ganzen gesellschaftlichen Klasse, für die das Trennungsgesetz gerade das
allgemeine Recht gültig zu machen beabsichtigte, weiter eine Vergünstigung zu
gewähren? Was spielt bei all diesem das Gesetz von 1889 für eine Rolle, das
1905 aufgehoben und durch die Weigerung der Kirche, kulturelle Vereine zu gründen,
doppelt aufgehoben wurde? In den Augen des Gesetzes ist der Priester kein
Priester mehr:- er ist ein Bürger und den Pflichten eines jeden Bürgers unter¬
worfen. Man hüte sich, die hohe Kompetenz eines Millerand anzurufen, dessen
strafbare Willfährigkeit ihn bei dieser Gelegenheit mit Recht in Mißkredit gebracht
hat. Man wende ferner nicht ein, daß das Zirkular Millerand aufgehoben wurde,
und daß die kämpfenden Priester, die sich für den Sanitätsdienst entschieden
hatten, ihren Platz an der Front wieder einnehmen mußten oder werden müssen.
Der Schlag hat getroffen. So erklärt sich die tiefe und sich sogar noch verschär¬
fende Unzufriedenheit mit der französischen Geistlichkeit. Alle Bemühungen der
Zensur haben das Bekanntwerden der Tatsache nicht verhindern können, daß --
hauptsächlich im Zentrum und im Südwesten -- die Feindseligkeiten eine für die
Kirche besondere agrcssive und beunruhigende Form angenommen hat. Die mäch¬
tige "DevöLko cle Toulouse" hat sich natürlich zur Seele dieser Bewegung gemacht.
Es vergeht fast kein Tag, an dem die katholischen Blätter nicht entrüstet und
zornig das "infame Gerücht" denunzieren. Katholische Abgeordnete machten dies
sogar verschiedentlich zum Gegenstand von Interpellationen und forderten die
Regierung auf, gegen eine Geistesverfassung und eine Propaganda, aus denen,
wie sie versicherten, eine neue Jacquerie hervorgehen könnte, energische Maßregeln
zu ergreisen. Vergebliche Proteste und unausführbare Maßnahmen. Das hieße
Öl aufs Feuer gießen. Man kämpft nicht gegen eine Überzeugung, die bis in
die kleinsten Hütten entlegener Dörfer gedrungen ist. Eine große Zahl der
Bauern bleibt überzeugt, daß die der Militärpflicht entschlüpfte Geistlichkeit die
wesentliche Ursache des Krieges ist -- daß sie in diesem nationalen Unglück nur
ein von der göttlichen Vorsehung gewolltes Mittel erblickt hat, sich die moralische
und materielle Stellung, die ihr durch eine mehr als dreißigjährige antiklerikale
Politik verloren gegangen war, zurückzuerobern. Aber ist es immerhin nicht seltsam,
daß dieses Volksempsinden beinahe mit dem authentischen Wort übereinstimmt,
welches Jaurös entschlüpfte, als er am Vorabend seiner meuchlerischen Ermordung
aus dem Ministerium kam, wo er einen langen und äußersten Versuch zur Er¬
haltung des Friedens unternommen hatte. Als er seine Freunde erblickte, die
'ängstlich sein Herauskommen erwarteten, rief er mit entmutigter Gebärde aus:
"Meine armen Freunde, es ist nichts zu machen; Jesuiten sind drinnen". Ich
sehe übrigens nicht, daß die katholische Geistlichkeit von den aufgeklärten Geistern
besser beurteilt wird. Ich verwechsle gewiß nicht Katholizismus und
Christentum. Ich weiß, was die Zeit und die Menschen ans der erhabenen,
unabänderlichen Lehre desjenigen gemacht haben, der befohlen hat: Du
sollst nicht töten. Ich erwarte daher von den katholischen Priestern
nicht, daß sie sich weigern würden, die Waffen zu tragen -- selbst wenn ihr
Eigensinn sie zum Martyrium führen solltet Aber ich bekenne, daß ich die Katho¬
liken nicht verstehe, welche mit Vorbedacht die geistige Führung des Oberhauptes
der katholischen Christenheit übergingen. Denn wir haben das seltsame Schauspiel
und das Ärgernis erlebt, daß Katholiken beleidigenderweise die hohe Unpartei¬
lichkeit des Papstes bezweifelten und ihn sogar der Deutschfreundlichkeit beschuloigten.
Wenn treue vom Chauvinismus verblendete Patrioten diese losen Reden führen.


Katholiken und Sozialisten in Frankreich

Meinung und der aufgeklärten Geister. Mit seinem einfältigen, gesunden Menschen¬
verstand, der aber besonders in entscheidenden Zeiten die Ungerechtigkeiten gewisser
Vorteile lebhaft empfindet, hat das Volk niemals verstanden und wird niemals
verstehen, daß die Priester sich der Militärpflicht, die so schwer auf jedem lastet,
entzogen haben. Nachdem sie im August und September gekämpft hatten, hörten
sie später auf. Umsonst wird angeführt, daß sie nur den Vorteil neuer gesetzlicher
Bestimmungen genießen. Haben sie diese nicht selbst erbeten und herausgefordert?
Und durch welches gesetzgebende Taschenspielerkunststück hat man es fertig gebracht,
allein einer ganzen gesellschaftlichen Klasse, für die das Trennungsgesetz gerade das
allgemeine Recht gültig zu machen beabsichtigte, weiter eine Vergünstigung zu
gewähren? Was spielt bei all diesem das Gesetz von 1889 für eine Rolle, das
1905 aufgehoben und durch die Weigerung der Kirche, kulturelle Vereine zu gründen,
doppelt aufgehoben wurde? In den Augen des Gesetzes ist der Priester kein
Priester mehr:- er ist ein Bürger und den Pflichten eines jeden Bürgers unter¬
worfen. Man hüte sich, die hohe Kompetenz eines Millerand anzurufen, dessen
strafbare Willfährigkeit ihn bei dieser Gelegenheit mit Recht in Mißkredit gebracht
hat. Man wende ferner nicht ein, daß das Zirkular Millerand aufgehoben wurde,
und daß die kämpfenden Priester, die sich für den Sanitätsdienst entschieden
hatten, ihren Platz an der Front wieder einnehmen mußten oder werden müssen.
Der Schlag hat getroffen. So erklärt sich die tiefe und sich sogar noch verschär¬
fende Unzufriedenheit mit der französischen Geistlichkeit. Alle Bemühungen der
Zensur haben das Bekanntwerden der Tatsache nicht verhindern können, daß —
hauptsächlich im Zentrum und im Südwesten — die Feindseligkeiten eine für die
Kirche besondere agrcssive und beunruhigende Form angenommen hat. Die mäch¬
tige „DevöLko cle Toulouse" hat sich natürlich zur Seele dieser Bewegung gemacht.
Es vergeht fast kein Tag, an dem die katholischen Blätter nicht entrüstet und
zornig das „infame Gerücht" denunzieren. Katholische Abgeordnete machten dies
sogar verschiedentlich zum Gegenstand von Interpellationen und forderten die
Regierung auf, gegen eine Geistesverfassung und eine Propaganda, aus denen,
wie sie versicherten, eine neue Jacquerie hervorgehen könnte, energische Maßregeln
zu ergreisen. Vergebliche Proteste und unausführbare Maßnahmen. Das hieße
Öl aufs Feuer gießen. Man kämpft nicht gegen eine Überzeugung, die bis in
die kleinsten Hütten entlegener Dörfer gedrungen ist. Eine große Zahl der
Bauern bleibt überzeugt, daß die der Militärpflicht entschlüpfte Geistlichkeit die
wesentliche Ursache des Krieges ist — daß sie in diesem nationalen Unglück nur
ein von der göttlichen Vorsehung gewolltes Mittel erblickt hat, sich die moralische
und materielle Stellung, die ihr durch eine mehr als dreißigjährige antiklerikale
Politik verloren gegangen war, zurückzuerobern. Aber ist es immerhin nicht seltsam,
daß dieses Volksempsinden beinahe mit dem authentischen Wort übereinstimmt,
welches Jaurös entschlüpfte, als er am Vorabend seiner meuchlerischen Ermordung
aus dem Ministerium kam, wo er einen langen und äußersten Versuch zur Er¬
haltung des Friedens unternommen hatte. Als er seine Freunde erblickte, die
'ängstlich sein Herauskommen erwarteten, rief er mit entmutigter Gebärde aus:
„Meine armen Freunde, es ist nichts zu machen; Jesuiten sind drinnen". Ich
sehe übrigens nicht, daß die katholische Geistlichkeit von den aufgeklärten Geistern
besser beurteilt wird. Ich verwechsle gewiß nicht Katholizismus und
Christentum. Ich weiß, was die Zeit und die Menschen ans der erhabenen,
unabänderlichen Lehre desjenigen gemacht haben, der befohlen hat: Du
sollst nicht töten. Ich erwarte daher von den katholischen Priestern
nicht, daß sie sich weigern würden, die Waffen zu tragen — selbst wenn ihr
Eigensinn sie zum Martyrium führen solltet Aber ich bekenne, daß ich die Katho¬
liken nicht verstehe, welche mit Vorbedacht die geistige Führung des Oberhauptes
der katholischen Christenheit übergingen. Denn wir haben das seltsame Schauspiel
und das Ärgernis erlebt, daß Katholiken beleidigenderweise die hohe Unpartei¬
lichkeit des Papstes bezweifelten und ihn sogar der Deutschfreundlichkeit beschuloigten.
Wenn treue vom Chauvinismus verblendete Patrioten diese losen Reden führen.


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[0236] Katholiken und Sozialisten in Frankreich Meinung und der aufgeklärten Geister. Mit seinem einfältigen, gesunden Menschen¬ verstand, der aber besonders in entscheidenden Zeiten die Ungerechtigkeiten gewisser Vorteile lebhaft empfindet, hat das Volk niemals verstanden und wird niemals verstehen, daß die Priester sich der Militärpflicht, die so schwer auf jedem lastet, entzogen haben. Nachdem sie im August und September gekämpft hatten, hörten sie später auf. Umsonst wird angeführt, daß sie nur den Vorteil neuer gesetzlicher Bestimmungen genießen. Haben sie diese nicht selbst erbeten und herausgefordert? Und durch welches gesetzgebende Taschenspielerkunststück hat man es fertig gebracht, allein einer ganzen gesellschaftlichen Klasse, für die das Trennungsgesetz gerade das allgemeine Recht gültig zu machen beabsichtigte, weiter eine Vergünstigung zu gewähren? Was spielt bei all diesem das Gesetz von 1889 für eine Rolle, das 1905 aufgehoben und durch die Weigerung der Kirche, kulturelle Vereine zu gründen, doppelt aufgehoben wurde? In den Augen des Gesetzes ist der Priester kein Priester mehr:- er ist ein Bürger und den Pflichten eines jeden Bürgers unter¬ worfen. Man hüte sich, die hohe Kompetenz eines Millerand anzurufen, dessen strafbare Willfährigkeit ihn bei dieser Gelegenheit mit Recht in Mißkredit gebracht hat. Man wende ferner nicht ein, daß das Zirkular Millerand aufgehoben wurde, und daß die kämpfenden Priester, die sich für den Sanitätsdienst entschieden hatten, ihren Platz an der Front wieder einnehmen mußten oder werden müssen. Der Schlag hat getroffen. So erklärt sich die tiefe und sich sogar noch verschär¬ fende Unzufriedenheit mit der französischen Geistlichkeit. Alle Bemühungen der Zensur haben das Bekanntwerden der Tatsache nicht verhindern können, daß — hauptsächlich im Zentrum und im Südwesten — die Feindseligkeiten eine für die Kirche besondere agrcssive und beunruhigende Form angenommen hat. Die mäch¬ tige „DevöLko cle Toulouse" hat sich natürlich zur Seele dieser Bewegung gemacht. Es vergeht fast kein Tag, an dem die katholischen Blätter nicht entrüstet und zornig das „infame Gerücht" denunzieren. Katholische Abgeordnete machten dies sogar verschiedentlich zum Gegenstand von Interpellationen und forderten die Regierung auf, gegen eine Geistesverfassung und eine Propaganda, aus denen, wie sie versicherten, eine neue Jacquerie hervorgehen könnte, energische Maßregeln zu ergreisen. Vergebliche Proteste und unausführbare Maßnahmen. Das hieße Öl aufs Feuer gießen. Man kämpft nicht gegen eine Überzeugung, die bis in die kleinsten Hütten entlegener Dörfer gedrungen ist. Eine große Zahl der Bauern bleibt überzeugt, daß die der Militärpflicht entschlüpfte Geistlichkeit die wesentliche Ursache des Krieges ist — daß sie in diesem nationalen Unglück nur ein von der göttlichen Vorsehung gewolltes Mittel erblickt hat, sich die moralische und materielle Stellung, die ihr durch eine mehr als dreißigjährige antiklerikale Politik verloren gegangen war, zurückzuerobern. Aber ist es immerhin nicht seltsam, daß dieses Volksempsinden beinahe mit dem authentischen Wort übereinstimmt, welches Jaurös entschlüpfte, als er am Vorabend seiner meuchlerischen Ermordung aus dem Ministerium kam, wo er einen langen und äußersten Versuch zur Er¬ haltung des Friedens unternommen hatte. Als er seine Freunde erblickte, die 'ängstlich sein Herauskommen erwarteten, rief er mit entmutigter Gebärde aus: „Meine armen Freunde, es ist nichts zu machen; Jesuiten sind drinnen". Ich sehe übrigens nicht, daß die katholische Geistlichkeit von den aufgeklärten Geistern besser beurteilt wird. Ich verwechsle gewiß nicht Katholizismus und Christentum. Ich weiß, was die Zeit und die Menschen ans der erhabenen, unabänderlichen Lehre desjenigen gemacht haben, der befohlen hat: Du sollst nicht töten. Ich erwarte daher von den katholischen Priestern nicht, daß sie sich weigern würden, die Waffen zu tragen — selbst wenn ihr Eigensinn sie zum Martyrium führen solltet Aber ich bekenne, daß ich die Katho¬ liken nicht verstehe, welche mit Vorbedacht die geistige Führung des Oberhauptes der katholischen Christenheit übergingen. Denn wir haben das seltsame Schauspiel und das Ärgernis erlebt, daß Katholiken beleidigenderweise die hohe Unpartei¬ lichkeit des Papstes bezweifelten und ihn sogar der Deutschfreundlichkeit beschuloigten. Wenn treue vom Chauvinismus verblendete Patrioten diese losen Reden führen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/236>, abgerufen am 24.08.2024.