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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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religiöse Gefühl -- wie alle anderen Gefühle -- sich nur besonnenen und ruhigen
Kundgebungen hingibt, einer Stadt gleichgültiger Frömmigkeit, die sich aber, wie
es den Anschein hat, trotz ihrer Aristokratie berufen glaubt, mit gutem Beispiel
voranzugehen. Die große Erschütterung deS Krieges wandelte sie um. Monate¬
lang füllten sich die zu klein gewordenen Kirchen mit einer ängstlichen und
flehenden Menge. Werke, Gaben, alle äußeren Kundgebungen einer glühenden
Frömmigkeit vermehrten sich. Kurz, alle Anzeichen einer tiefen und überraschenden
Seelenerneuerung. Dies war übrigens ganz natürlich. Als die Katastrophe
hereinbrach, fühlten sich alle, die sich bisher, ohne dem Gottesdienst feindlich
gesinnt zu sein, hinter einer stumpfen Gleichgültigkeit verschanzt hatten, plötzlich
wie verlassen. Instinktiv suchten sie einen Stützpunkt, auf den ste ihre
letzte Hoffnung gründen könnten, und der sie bei dem allgemeinen Einsturz auf¬
recht erhielte. Die Kindheitserinnerungen lenkten ihre Schritte -- fast unfrei¬
willig -- zu den Heiligtümern, wo ihre Väter gebetet hatten. Sie beteten dort
ihrerseits, nicht, weil ihre Überzeugung plötzlich sehr fest geworden war. sondern,
man muß gestehen, unter dem Impuls abergläubischer Furcht. Besonders die
Frauen, sogar jene, die seit langem nicht mehr nach ihrer RelMon gelebt hatten,
zeigten wieder die strengste Frömmigkeit. Es schien jedem, auch den vor kurzem
noch Gleichgültigen und skeptischen, daß allein das Aufleben Gottes für die teuren,
plötzlich ihrer Liebe entrissenen und den schrecklichsten Gefahren ausgesetzten Wesen
tur sie der sicherste Schutz sei. Aber genügt all dieses denn, eine religiöse Wieder¬
geburt zu charakterisieren? Abgesehen von einigen aufrichtigen Bekehrungen,
> rblicke ich hierin einen neuen Beweis für die unheilbare Schwäche unserer mensch¬
lichen Natur, ihres instinktiven Schreckens vor dem Tode, ihres unabweislichen
Schutzbedürfnisses. Wenn plötzlich jede menschliche Hilfe versagt, ist es dann nicht
unvermeidlich, daß man sich an denjenigen wendet, von dem man -- wenn er
existiert -- den höchsten Schutz erwartet? Rechnung kleinmütiger Herzen, welche die
Nähe der Gefahr närrisch macht. Ich sehe hierin nichts von jener inneren. be¬
geisterten und freien Wiedergeburt, welche die Seele in ihren Grundfesten er¬
schüttert. Ebensowenig wie im Innern des Landes könnte man von einer religiösen
Wiedergeburt beim Heere sprechen. Sicherlich, ich hatte Gelegenheit, an den Vor¬
abenden großer Offensiven Gottesdiensten beizuwohnen, die nur einen starken und
dauernden Eindruck hinterlassen haben. Ich sehe noch den Geistlichen, höre ihn
mit rücksichtsloser Offenheit von den Lücken sprechen, die der Tod in unsere Reihen
reißen würde, und seine Aufforderung, uns auf den furchtbaren Entscheidungstag
vorzubereiten. Während ich ihm zuhörte, empfand ich eine der tiefsten Gemüts-
bewegungen meines Lebens. Dennoch änderte sich mein innerstes Gefühl durchaus
nicht dadurch. Viele meiner Kameraden ließen sich von Bedenken und Besorg-
nissen, die eher von Aberglauben als von wirklicher Frömmigkeit herrührten,
überwältigen. Sie gehorchten auch irgendeiner ererbten, dunklen Eingebung, die
ihnen in der Todesgefahr die Hände schloß und sie auf die Kme zwang. Nach
bestandener Gefahr wurden sie mühelos wieder, was sie trotz des Anscheines ge¬
blieben: neutral oder sogar feindselig. Die meisten übrigens wohnten weiter
regelmäßig den Gottesdiensten bei. Zuerst aus Langeweile, und auch weil die
Empfehlung des Geistlichen an der Front sehr nützlich sein kann, und schließlich,
weil es nicht gleichgültig ist. in der Gunst eines Offiziers zu stehen, der entweder
aufrichtig fromm ist, oder sich den Anschein gibt, um selbst einem frommen
Obersten zu gefallen. Alles eigennützige Beweggründe, welche schon eine kurze
Beobachtung schnell herausfindet, und die nach dem Urteile rechtschaffener Leute
die religiöse Betätigung, welche nur ein aufrichtiger Glaube beseelen kann, ganz
in Mißkredit bringen und gleichzeitig eine wirkliche Erneuerung des religiösen
Gefühls verhindern. Nach dem Kriege wird man sich bald überzeugen, daß die
antiklerikale Gesinnung und der Skeptizismus in Frankreich nichts von ihrer
Stärke verloren haben. Das heißt, daß es im Verlauf dieses langen Krieges zu
keiner Zeit eine dieser Benennung würdige, religiöse Wiedergeburt gegeben hat.
Ich glaube nicht einmal, daß die neuerwachte Frömmigkeit, deren Abnahme man


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religiöse Gefühl — wie alle anderen Gefühle — sich nur besonnenen und ruhigen
Kundgebungen hingibt, einer Stadt gleichgültiger Frömmigkeit, die sich aber, wie
es den Anschein hat, trotz ihrer Aristokratie berufen glaubt, mit gutem Beispiel
voranzugehen. Die große Erschütterung deS Krieges wandelte sie um. Monate¬
lang füllten sich die zu klein gewordenen Kirchen mit einer ängstlichen und
flehenden Menge. Werke, Gaben, alle äußeren Kundgebungen einer glühenden
Frömmigkeit vermehrten sich. Kurz, alle Anzeichen einer tiefen und überraschenden
Seelenerneuerung. Dies war übrigens ganz natürlich. Als die Katastrophe
hereinbrach, fühlten sich alle, die sich bisher, ohne dem Gottesdienst feindlich
gesinnt zu sein, hinter einer stumpfen Gleichgültigkeit verschanzt hatten, plötzlich
wie verlassen. Instinktiv suchten sie einen Stützpunkt, auf den ste ihre
letzte Hoffnung gründen könnten, und der sie bei dem allgemeinen Einsturz auf¬
recht erhielte. Die Kindheitserinnerungen lenkten ihre Schritte — fast unfrei¬
willig — zu den Heiligtümern, wo ihre Väter gebetet hatten. Sie beteten dort
ihrerseits, nicht, weil ihre Überzeugung plötzlich sehr fest geworden war. sondern,
man muß gestehen, unter dem Impuls abergläubischer Furcht. Besonders die
Frauen, sogar jene, die seit langem nicht mehr nach ihrer RelMon gelebt hatten,
zeigten wieder die strengste Frömmigkeit. Es schien jedem, auch den vor kurzem
noch Gleichgültigen und skeptischen, daß allein das Aufleben Gottes für die teuren,
plötzlich ihrer Liebe entrissenen und den schrecklichsten Gefahren ausgesetzten Wesen
tur sie der sicherste Schutz sei. Aber genügt all dieses denn, eine religiöse Wieder¬
geburt zu charakterisieren? Abgesehen von einigen aufrichtigen Bekehrungen,
> rblicke ich hierin einen neuen Beweis für die unheilbare Schwäche unserer mensch¬
lichen Natur, ihres instinktiven Schreckens vor dem Tode, ihres unabweislichen
Schutzbedürfnisses. Wenn plötzlich jede menschliche Hilfe versagt, ist es dann nicht
unvermeidlich, daß man sich an denjenigen wendet, von dem man — wenn er
existiert — den höchsten Schutz erwartet? Rechnung kleinmütiger Herzen, welche die
Nähe der Gefahr närrisch macht. Ich sehe hierin nichts von jener inneren. be¬
geisterten und freien Wiedergeburt, welche die Seele in ihren Grundfesten er¬
schüttert. Ebensowenig wie im Innern des Landes könnte man von einer religiösen
Wiedergeburt beim Heere sprechen. Sicherlich, ich hatte Gelegenheit, an den Vor¬
abenden großer Offensiven Gottesdiensten beizuwohnen, die nur einen starken und
dauernden Eindruck hinterlassen haben. Ich sehe noch den Geistlichen, höre ihn
mit rücksichtsloser Offenheit von den Lücken sprechen, die der Tod in unsere Reihen
reißen würde, und seine Aufforderung, uns auf den furchtbaren Entscheidungstag
vorzubereiten. Während ich ihm zuhörte, empfand ich eine der tiefsten Gemüts-
bewegungen meines Lebens. Dennoch änderte sich mein innerstes Gefühl durchaus
nicht dadurch. Viele meiner Kameraden ließen sich von Bedenken und Besorg-
nissen, die eher von Aberglauben als von wirklicher Frömmigkeit herrührten,
überwältigen. Sie gehorchten auch irgendeiner ererbten, dunklen Eingebung, die
ihnen in der Todesgefahr die Hände schloß und sie auf die Kme zwang. Nach
bestandener Gefahr wurden sie mühelos wieder, was sie trotz des Anscheines ge¬
blieben: neutral oder sogar feindselig. Die meisten übrigens wohnten weiter
regelmäßig den Gottesdiensten bei. Zuerst aus Langeweile, und auch weil die
Empfehlung des Geistlichen an der Front sehr nützlich sein kann, und schließlich,
weil es nicht gleichgültig ist. in der Gunst eines Offiziers zu stehen, der entweder
aufrichtig fromm ist, oder sich den Anschein gibt, um selbst einem frommen
Obersten zu gefallen. Alles eigennützige Beweggründe, welche schon eine kurze
Beobachtung schnell herausfindet, und die nach dem Urteile rechtschaffener Leute
die religiöse Betätigung, welche nur ein aufrichtiger Glaube beseelen kann, ganz
in Mißkredit bringen und gleichzeitig eine wirkliche Erneuerung des religiösen
Gefühls verhindern. Nach dem Kriege wird man sich bald überzeugen, daß die
antiklerikale Gesinnung und der Skeptizismus in Frankreich nichts von ihrer
Stärke verloren haben. Das heißt, daß es im Verlauf dieses langen Krieges zu
keiner Zeit eine dieser Benennung würdige, religiöse Wiedergeburt gegeben hat.
Ich glaube nicht einmal, daß die neuerwachte Frömmigkeit, deren Abnahme man


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[0205] Lranzöfische Stunmimgen religiöse Gefühl — wie alle anderen Gefühle — sich nur besonnenen und ruhigen Kundgebungen hingibt, einer Stadt gleichgültiger Frömmigkeit, die sich aber, wie es den Anschein hat, trotz ihrer Aristokratie berufen glaubt, mit gutem Beispiel voranzugehen. Die große Erschütterung deS Krieges wandelte sie um. Monate¬ lang füllten sich die zu klein gewordenen Kirchen mit einer ängstlichen und flehenden Menge. Werke, Gaben, alle äußeren Kundgebungen einer glühenden Frömmigkeit vermehrten sich. Kurz, alle Anzeichen einer tiefen und überraschenden Seelenerneuerung. Dies war übrigens ganz natürlich. Als die Katastrophe hereinbrach, fühlten sich alle, die sich bisher, ohne dem Gottesdienst feindlich gesinnt zu sein, hinter einer stumpfen Gleichgültigkeit verschanzt hatten, plötzlich wie verlassen. Instinktiv suchten sie einen Stützpunkt, auf den ste ihre letzte Hoffnung gründen könnten, und der sie bei dem allgemeinen Einsturz auf¬ recht erhielte. Die Kindheitserinnerungen lenkten ihre Schritte — fast unfrei¬ willig — zu den Heiligtümern, wo ihre Väter gebetet hatten. Sie beteten dort ihrerseits, nicht, weil ihre Überzeugung plötzlich sehr fest geworden war. sondern, man muß gestehen, unter dem Impuls abergläubischer Furcht. Besonders die Frauen, sogar jene, die seit langem nicht mehr nach ihrer RelMon gelebt hatten, zeigten wieder die strengste Frömmigkeit. Es schien jedem, auch den vor kurzem noch Gleichgültigen und skeptischen, daß allein das Aufleben Gottes für die teuren, plötzlich ihrer Liebe entrissenen und den schrecklichsten Gefahren ausgesetzten Wesen tur sie der sicherste Schutz sei. Aber genügt all dieses denn, eine religiöse Wieder¬ geburt zu charakterisieren? Abgesehen von einigen aufrichtigen Bekehrungen, > rblicke ich hierin einen neuen Beweis für die unheilbare Schwäche unserer mensch¬ lichen Natur, ihres instinktiven Schreckens vor dem Tode, ihres unabweislichen Schutzbedürfnisses. Wenn plötzlich jede menschliche Hilfe versagt, ist es dann nicht unvermeidlich, daß man sich an denjenigen wendet, von dem man — wenn er existiert — den höchsten Schutz erwartet? Rechnung kleinmütiger Herzen, welche die Nähe der Gefahr närrisch macht. Ich sehe hierin nichts von jener inneren. be¬ geisterten und freien Wiedergeburt, welche die Seele in ihren Grundfesten er¬ schüttert. Ebensowenig wie im Innern des Landes könnte man von einer religiösen Wiedergeburt beim Heere sprechen. Sicherlich, ich hatte Gelegenheit, an den Vor¬ abenden großer Offensiven Gottesdiensten beizuwohnen, die nur einen starken und dauernden Eindruck hinterlassen haben. Ich sehe noch den Geistlichen, höre ihn mit rücksichtsloser Offenheit von den Lücken sprechen, die der Tod in unsere Reihen reißen würde, und seine Aufforderung, uns auf den furchtbaren Entscheidungstag vorzubereiten. Während ich ihm zuhörte, empfand ich eine der tiefsten Gemüts- bewegungen meines Lebens. Dennoch änderte sich mein innerstes Gefühl durchaus nicht dadurch. Viele meiner Kameraden ließen sich von Bedenken und Besorg- nissen, die eher von Aberglauben als von wirklicher Frömmigkeit herrührten, überwältigen. Sie gehorchten auch irgendeiner ererbten, dunklen Eingebung, die ihnen in der Todesgefahr die Hände schloß und sie auf die Kme zwang. Nach bestandener Gefahr wurden sie mühelos wieder, was sie trotz des Anscheines ge¬ blieben: neutral oder sogar feindselig. Die meisten übrigens wohnten weiter regelmäßig den Gottesdiensten bei. Zuerst aus Langeweile, und auch weil die Empfehlung des Geistlichen an der Front sehr nützlich sein kann, und schließlich, weil es nicht gleichgültig ist. in der Gunst eines Offiziers zu stehen, der entweder aufrichtig fromm ist, oder sich den Anschein gibt, um selbst einem frommen Obersten zu gefallen. Alles eigennützige Beweggründe, welche schon eine kurze Beobachtung schnell herausfindet, und die nach dem Urteile rechtschaffener Leute die religiöse Betätigung, welche nur ein aufrichtiger Glaube beseelen kann, ganz in Mißkredit bringen und gleichzeitig eine wirkliche Erneuerung des religiösen Gefühls verhindern. Nach dem Kriege wird man sich bald überzeugen, daß die antiklerikale Gesinnung und der Skeptizismus in Frankreich nichts von ihrer Stärke verloren haben. Das heißt, daß es im Verlauf dieses langen Krieges zu keiner Zeit eine dieser Benennung würdige, religiöse Wiedergeburt gegeben hat. Ich glaube nicht einmal, daß die neuerwachte Frömmigkeit, deren Abnahme man Grenzboten I 1818 14

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/205>, abgerufen am 24.08.2024.