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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Der altdeutsche Einwanderer im Elsaß

in der ganzen Welt unseren politischen Kredit kosten, erst wenn wir die reife
politische Kunst erlernen, die Vielfältigkeit des Gegebenen zu überschauen und
den politischen Aufgaben mit jener Überlegenheit gegenüberzutreten, die -- fest
und elastisch zugleich -- die Kompromisse nicht scheut und doch überall die
Synthesen sucht: erst dann werden all jene Wunden im deutschen Staatskörper
sich schließen, die mit unserer eigenen Erstarkung zugleich die politische Ge¬
sundung Europas hintanhalten. Entrüstung ist nie ein Zeichen von überlegener
Stärke. Wenn wir statt mit polternden Forderungen an die Einheimischen den
neuen Kurs in unserer Westmark mit stiller Besinnung auf Leistungen und
Fehler unserer eigenen altdeutschen Kulturträger beginnen, nur dann können
wir auf eine wirkliche Abstellung der dortigen Mißstände hoffen.

Die Haupteinwanderung setzte bald nach dem Deutsch-Französischen Kriege
ein. Es war im wesentlichen eine Überschwemmung des Landes mit altdeutschen
Beamten in einem derartigen zahlenmäßigen Umfang, daß sie die einheimischen
Kreise in der Tat in eine gewisse Abwehrstellung zwang. Unbegreifliche Mi߬
griffe der Negierung, wie die Strafversetzung nicht einwandfreier Elemente in
das wiedergewonnene Bundesland, können heute der verdienten Vergessenheit
überantwortet werden, so gern auch heute noch gewisse elsässische Kreise auf
dieser bedauerlichen, heute jedoch in ihren Wirkungen längst verjährten Tat¬
sache herumreiten. Von einem moralischen Niveauunterschied zwischen der
Beamtenschaft in Altdeutschland und Elsaß-Lothringen ist längst nichts mehr
zu bemerken, und übrigens dürfte schon damals dies Manko reichlich dadurch
ausgeglichen worden sein, daß ein erheblicher Teil der Einwanderer mit einem
besonders frischen Idealismus sich in der neuerrungenen Westmark ansiedelte.
Mag also auch unter den nichtbeamteten Einwanderern immerhin der eine oder
andere damals vor vierzig Jahren mit Grund sein Ränzlein geschnürt haben,
weil er, wie der Elsässer sagt, "Dreck am Stecken" hatte, ein großer Teil kam
dafür auch mit reiner Siedlerfreude und im begeisterten Bewußtsein einer hohen
nationalen Sendung in das schöne Land, das ihm und seinen Kindern zur
neuen Heimat werden sollte. Wichtiger jedoch ist es, sich die soziale Struktur
jener Zuwanderer anzusehen. Denn hier recht eigentlich und nicht in jene"
unnötig hervorgekehrten Nebenerscheinungen liegt der Schlüssel zu vielen Mi߬
verhältnissen mit der einheimischen Bevölkerung.

Der deutsche Einwanderer war -- gemessen am stattlichen Wohlstand der
stark plutokratischen elsässischen Bourgeoisie -- im großen ganzen arm. Das
galt nicht nur für die große Masse der kleinen Beamten im Eisenbahn-, Post-,
Zoll- und Gendarmerledienst, die sich alsbald über das ganze Land mit seinen
reichen Bauerndörfern verstreute, das galt auch für die Oberlehrer, Juristen
und Universitätsprofessoren, die vor allem in den Städten das Altdeutschtum
vertraten. In den wundervollen alten Patrizierhäusern der Straßburger Alt¬
stadt, in denen sich eindrucksvoll die französische Barockkultur in Straßburgs
Baugeschichte spiegelt, in jenen Häusern, in die man eigentlich nicht einziehen


Der altdeutsche Einwanderer im Elsaß

in der ganzen Welt unseren politischen Kredit kosten, erst wenn wir die reife
politische Kunst erlernen, die Vielfältigkeit des Gegebenen zu überschauen und
den politischen Aufgaben mit jener Überlegenheit gegenüberzutreten, die — fest
und elastisch zugleich — die Kompromisse nicht scheut und doch überall die
Synthesen sucht: erst dann werden all jene Wunden im deutschen Staatskörper
sich schließen, die mit unserer eigenen Erstarkung zugleich die politische Ge¬
sundung Europas hintanhalten. Entrüstung ist nie ein Zeichen von überlegener
Stärke. Wenn wir statt mit polternden Forderungen an die Einheimischen den
neuen Kurs in unserer Westmark mit stiller Besinnung auf Leistungen und
Fehler unserer eigenen altdeutschen Kulturträger beginnen, nur dann können
wir auf eine wirkliche Abstellung der dortigen Mißstände hoffen.

Die Haupteinwanderung setzte bald nach dem Deutsch-Französischen Kriege
ein. Es war im wesentlichen eine Überschwemmung des Landes mit altdeutschen
Beamten in einem derartigen zahlenmäßigen Umfang, daß sie die einheimischen
Kreise in der Tat in eine gewisse Abwehrstellung zwang. Unbegreifliche Mi߬
griffe der Negierung, wie die Strafversetzung nicht einwandfreier Elemente in
das wiedergewonnene Bundesland, können heute der verdienten Vergessenheit
überantwortet werden, so gern auch heute noch gewisse elsässische Kreise auf
dieser bedauerlichen, heute jedoch in ihren Wirkungen längst verjährten Tat¬
sache herumreiten. Von einem moralischen Niveauunterschied zwischen der
Beamtenschaft in Altdeutschland und Elsaß-Lothringen ist längst nichts mehr
zu bemerken, und übrigens dürfte schon damals dies Manko reichlich dadurch
ausgeglichen worden sein, daß ein erheblicher Teil der Einwanderer mit einem
besonders frischen Idealismus sich in der neuerrungenen Westmark ansiedelte.
Mag also auch unter den nichtbeamteten Einwanderern immerhin der eine oder
andere damals vor vierzig Jahren mit Grund sein Ränzlein geschnürt haben,
weil er, wie der Elsässer sagt, „Dreck am Stecken" hatte, ein großer Teil kam
dafür auch mit reiner Siedlerfreude und im begeisterten Bewußtsein einer hohen
nationalen Sendung in das schöne Land, das ihm und seinen Kindern zur
neuen Heimat werden sollte. Wichtiger jedoch ist es, sich die soziale Struktur
jener Zuwanderer anzusehen. Denn hier recht eigentlich und nicht in jene«
unnötig hervorgekehrten Nebenerscheinungen liegt der Schlüssel zu vielen Mi߬
verhältnissen mit der einheimischen Bevölkerung.

Der deutsche Einwanderer war — gemessen am stattlichen Wohlstand der
stark plutokratischen elsässischen Bourgeoisie — im großen ganzen arm. Das
galt nicht nur für die große Masse der kleinen Beamten im Eisenbahn-, Post-,
Zoll- und Gendarmerledienst, die sich alsbald über das ganze Land mit seinen
reichen Bauerndörfern verstreute, das galt auch für die Oberlehrer, Juristen
und Universitätsprofessoren, die vor allem in den Städten das Altdeutschtum
vertraten. In den wundervollen alten Patrizierhäusern der Straßburger Alt¬
stadt, in denen sich eindrucksvoll die französische Barockkultur in Straßburgs
Baugeschichte spiegelt, in jenen Häusern, in die man eigentlich nicht einziehen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/53>, abgerufen am 06.10.2024.