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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Pole" in politisch-geographischer Beleuchtung

würden, und zwar aus dem gleichen Grunde, aus dem sie zwischen Deutschland
und Polen bestehen bleiben, weil in der Verkörperung der nationalen politischen
Idee ein Teil der von ihr zu umschließenden Bevölkerung außerhalb dieser Ver¬
körperung verbliebe. Eine andere Frage ist es, ob nicht der gesamtrussische Staat
in Zukunft wieder ein starkes Begehren zeigen wird, das wirtschaftlich hochstehende
Polen zu sich herüberzuziehen. Waren doch die polnischen Gouvernements die
dichtestbevölkerten Rußlands (Petrikau 168, Warschau 142, Kielze 96), während
die Industrie Polens zu der höchstentwickelten Rußlands zählte I Die slawische
Abstammung begünstigt eine östliche Wendung Polens ohnehin,- die Gründe, die
Polen einst zwangen, sich aus der russischen Folter zu befreien, sind mit der Um¬
wandlung Rußlands zum guten Teil geschwunden. Es läge heute für Polen
kaum noch ein Grund vor, eine neue Annäherung an den neugestalteten russischen
Gesamtstaat nicht zu erstreben. Wird diese in Polen schon jetzt lebendige Unter¬
strömung zur Hauptströmung, so werden die dem neuen Staat neues Leben ein¬
hauchenden Mittelmächte abermals verwickelten Schwierigkeiten in der polnischen
Frage gegenübergestellt.

Wenn der polnischen Nation etwa die Frage vorgelegt würde, welche poli¬
tische Stellung der Staat den drei Grenznachbarn gegenüber einzunehmen gedenke,
welche Angliederung etwa -- nach Westen, Osten oder Süden -- die genehmste
sein würde, so könnte die gegenwärtige Antwort aus die Frage kaun: zweifelhaft
sein. Sie würde auf volle Selbständigkeit lauten. Da nun aber die Mittelmächte
die Lösung der polnischen Frage in die Hand nahmen und ihr politisches Ziel
auf eine mitteleuropäische Angliederung Neu-Polens gerichtet war. so trennten
sich naturgemäß die Polen in zwei Lager: hie Deutschland, hie Österreich! Wenn
schließlich die letzteren Stimmen führend zu werden und sie allmählich den Aus¬
druck der allgemeinen Stimmung in Polen zu geben scheinen, so kann man sich
angesichts der Tatsache, daß weder natürliche, noch ethnische, noch wirtschaftliche
Verhältnisse -- es sei denn allein die polnische Begehrlichkeit auf Galizien --
Polen mit Osterreich verbinden, des Eindrucks kaum erwehren, als ob man in
Polen die österreichische Angliederung als eine Art politischer Zwischenstellung be-
trachte. Man scheint fast der Hoffnung zu leben, daß die nationale Vielfältig,
keit der Habsburgischen Lande einen sehr erwünschten, weniger festen Anschluß
gewährleiste, als er wohl durch eine Angliederung an das Deutsche Reich erreicht
worden wäre. Der gegenwärtig neu eingetretene Zustand wäre dann nur als
eine vorübergehende Form anzusehen, aus der sich leicht die volle politische Selb-
ständigkeit entwickeln ließe.

Ob diese Stimmen recht behalten, kann erst die Zukunft lehren! aber sie
sind als Richtlinien einer nationalpolnischen Politik bezeichnend genug.

Auch politisch, geographische Betrachtungen lassen also Polen in seiner neuen
Form, die in etwas überstürzter Hast nach den ehernen Schlägen der Mittelmächte
im Osten ohne allzu große Rücksicht auf die in der Natur des Landes gegebenen
Bedingnisse erstanden erscheint, als die Sphinx erkennen, die der mitteleuropäischen
Politik noch manches nur schwer zu lösendes Rätsel aufgeben wird.




Pole» in politisch-geographischer Beleuchtung

würden, und zwar aus dem gleichen Grunde, aus dem sie zwischen Deutschland
und Polen bestehen bleiben, weil in der Verkörperung der nationalen politischen
Idee ein Teil der von ihr zu umschließenden Bevölkerung außerhalb dieser Ver¬
körperung verbliebe. Eine andere Frage ist es, ob nicht der gesamtrussische Staat
in Zukunft wieder ein starkes Begehren zeigen wird, das wirtschaftlich hochstehende
Polen zu sich herüberzuziehen. Waren doch die polnischen Gouvernements die
dichtestbevölkerten Rußlands (Petrikau 168, Warschau 142, Kielze 96), während
die Industrie Polens zu der höchstentwickelten Rußlands zählte I Die slawische
Abstammung begünstigt eine östliche Wendung Polens ohnehin,- die Gründe, die
Polen einst zwangen, sich aus der russischen Folter zu befreien, sind mit der Um¬
wandlung Rußlands zum guten Teil geschwunden. Es läge heute für Polen
kaum noch ein Grund vor, eine neue Annäherung an den neugestalteten russischen
Gesamtstaat nicht zu erstreben. Wird diese in Polen schon jetzt lebendige Unter¬
strömung zur Hauptströmung, so werden die dem neuen Staat neues Leben ein¬
hauchenden Mittelmächte abermals verwickelten Schwierigkeiten in der polnischen
Frage gegenübergestellt.

Wenn der polnischen Nation etwa die Frage vorgelegt würde, welche poli¬
tische Stellung der Staat den drei Grenznachbarn gegenüber einzunehmen gedenke,
welche Angliederung etwa — nach Westen, Osten oder Süden — die genehmste
sein würde, so könnte die gegenwärtige Antwort aus die Frage kaun: zweifelhaft
sein. Sie würde auf volle Selbständigkeit lauten. Da nun aber die Mittelmächte
die Lösung der polnischen Frage in die Hand nahmen und ihr politisches Ziel
auf eine mitteleuropäische Angliederung Neu-Polens gerichtet war. so trennten
sich naturgemäß die Polen in zwei Lager: hie Deutschland, hie Österreich! Wenn
schließlich die letzteren Stimmen führend zu werden und sie allmählich den Aus¬
druck der allgemeinen Stimmung in Polen zu geben scheinen, so kann man sich
angesichts der Tatsache, daß weder natürliche, noch ethnische, noch wirtschaftliche
Verhältnisse — es sei denn allein die polnische Begehrlichkeit auf Galizien —
Polen mit Osterreich verbinden, des Eindrucks kaum erwehren, als ob man in
Polen die österreichische Angliederung als eine Art politischer Zwischenstellung be-
trachte. Man scheint fast der Hoffnung zu leben, daß die nationale Vielfältig,
keit der Habsburgischen Lande einen sehr erwünschten, weniger festen Anschluß
gewährleiste, als er wohl durch eine Angliederung an das Deutsche Reich erreicht
worden wäre. Der gegenwärtig neu eingetretene Zustand wäre dann nur als
eine vorübergehende Form anzusehen, aus der sich leicht die volle politische Selb-
ständigkeit entwickeln ließe.

Ob diese Stimmen recht behalten, kann erst die Zukunft lehren! aber sie
sind als Richtlinien einer nationalpolnischen Politik bezeichnend genug.

Auch politisch, geographische Betrachtungen lassen also Polen in seiner neuen
Form, die in etwas überstürzter Hast nach den ehernen Schlägen der Mittelmächte
im Osten ohne allzu große Rücksicht auf die in der Natur des Landes gegebenen
Bedingnisse erstanden erscheint, als die Sphinx erkennen, die der mitteleuropäischen
Politik noch manches nur schwer zu lösendes Rätsel aufgeben wird.




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[0335] Pole» in politisch-geographischer Beleuchtung würden, und zwar aus dem gleichen Grunde, aus dem sie zwischen Deutschland und Polen bestehen bleiben, weil in der Verkörperung der nationalen politischen Idee ein Teil der von ihr zu umschließenden Bevölkerung außerhalb dieser Ver¬ körperung verbliebe. Eine andere Frage ist es, ob nicht der gesamtrussische Staat in Zukunft wieder ein starkes Begehren zeigen wird, das wirtschaftlich hochstehende Polen zu sich herüberzuziehen. Waren doch die polnischen Gouvernements die dichtestbevölkerten Rußlands (Petrikau 168, Warschau 142, Kielze 96), während die Industrie Polens zu der höchstentwickelten Rußlands zählte I Die slawische Abstammung begünstigt eine östliche Wendung Polens ohnehin,- die Gründe, die Polen einst zwangen, sich aus der russischen Folter zu befreien, sind mit der Um¬ wandlung Rußlands zum guten Teil geschwunden. Es läge heute für Polen kaum noch ein Grund vor, eine neue Annäherung an den neugestalteten russischen Gesamtstaat nicht zu erstreben. Wird diese in Polen schon jetzt lebendige Unter¬ strömung zur Hauptströmung, so werden die dem neuen Staat neues Leben ein¬ hauchenden Mittelmächte abermals verwickelten Schwierigkeiten in der polnischen Frage gegenübergestellt. Wenn der polnischen Nation etwa die Frage vorgelegt würde, welche poli¬ tische Stellung der Staat den drei Grenznachbarn gegenüber einzunehmen gedenke, welche Angliederung etwa — nach Westen, Osten oder Süden — die genehmste sein würde, so könnte die gegenwärtige Antwort aus die Frage kaun: zweifelhaft sein. Sie würde auf volle Selbständigkeit lauten. Da nun aber die Mittelmächte die Lösung der polnischen Frage in die Hand nahmen und ihr politisches Ziel auf eine mitteleuropäische Angliederung Neu-Polens gerichtet war. so trennten sich naturgemäß die Polen in zwei Lager: hie Deutschland, hie Österreich! Wenn schließlich die letzteren Stimmen führend zu werden und sie allmählich den Aus¬ druck der allgemeinen Stimmung in Polen zu geben scheinen, so kann man sich angesichts der Tatsache, daß weder natürliche, noch ethnische, noch wirtschaftliche Verhältnisse — es sei denn allein die polnische Begehrlichkeit auf Galizien — Polen mit Osterreich verbinden, des Eindrucks kaum erwehren, als ob man in Polen die österreichische Angliederung als eine Art politischer Zwischenstellung be- trachte. Man scheint fast der Hoffnung zu leben, daß die nationale Vielfältig, keit der Habsburgischen Lande einen sehr erwünschten, weniger festen Anschluß gewährleiste, als er wohl durch eine Angliederung an das Deutsche Reich erreicht worden wäre. Der gegenwärtig neu eingetretene Zustand wäre dann nur als eine vorübergehende Form anzusehen, aus der sich leicht die volle politische Selb- ständigkeit entwickeln ließe. Ob diese Stimmen recht behalten, kann erst die Zukunft lehren! aber sie sind als Richtlinien einer nationalpolnischen Politik bezeichnend genug. Auch politisch, geographische Betrachtungen lassen also Polen in seiner neuen Form, die in etwas überstürzter Hast nach den ehernen Schlägen der Mittelmächte im Osten ohne allzu große Rücksicht auf die in der Natur des Landes gegebenen Bedingnisse erstanden erscheint, als die Sphinx erkennen, die der mitteleuropäischen Politik noch manches nur schwer zu lösendes Rätsel aufgeben wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/335>, abgerufen am 06.10.2024.