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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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polnische Irrungen

man erhöhte die Steuern und schloß die Landeseinwohner von jedem Einfluß auf
die Leitung der Angelegenheiten ihres eigenen Vaterlandes aus.

Und doch müßte der Zweck und die Aufgabe der Regierung samt ihren
Institutionen einzig und allein die Leitung und Ausbildung der nationalen
polnischen Seele und durchaus nicht die Unterdrückung dieses Geistes sein. Man
sollte das polnische Volk erziehen, seine Individualität veredeln und nicht sie unter¬
drücken und sie in ihr fremde Formen pressen, die einen zweifelhaften Wert haben.
Das polnische Volk ist stolz auf seine Nationalität. Es empfindet Schmerz über
die Verfolgung seiner Sprache und seines Namens. Dasselbe polnische Volk
wäre zufrieden, wäre freundlich gesinnt gegenüber dem Staate, wenn seine na"
tionale Würde geachtet und die Erhaltung seiner nationalen Individualität ge¬
sichert würde.

Diese Individualität nicht vernichten, sondern entwickeln --, das ist eine
hohe Aufgabe der Regierung. Dies muß jeder zugeben, der den Zweck der
menschlichen Kultur nicht in dem mechanischen Zwange, sondern in der freien
Entwicklung und in der Ausgestaltung des, angeborenen Eigenschaften eines jeden
Volksorganismus erblickt."

So dachten und sagten es ihrem König unter vier Augen die preußischer!
Staatsmänner. Diese Stimmen, welche nicht von abstrakten Moralisten oder von
idealen Freunden der Gerechtigkeit und Polens ausgingen, sondern von nüchternen
und realdenkenden preußischen Staatsmännern, die des polnischen Volkes größte
Gegner waren in der damaligen Zeit, wurden aber nicht berücksichtigt und hatten
keinen Erfolg.

Ähnliche, das analoge falsche Regierungssystem in den polnischen Provinzen
der russischen Monarchie scharf beleuchtende Worte kamen auch aus dem Munde
von russischen Staatsmännern, aber sie wurden auch dort nicht verstanden und
berücksichtigt.

Hier und dort, diesen vernünftigen Stimmen entgegen, ließ man sich auch
fernerhin nur von traditionellen Instinkten leiten.

Man brach also mit dem früheren auf mechanischer Assimilation der besetzten
Provinzen beruhenden System nicht. Man raffte sich nicht auf zu der Wahl des
einzigen richtigen Weges- der rücksichtslosen Achtung vor der Eigenart der polnischen
Kultur, und dadurch der Schaffung von zufriedenen Bürgern des Landes; hier
und dort schloß man die Augen vor der offenbaren Wahrheit, daß das System
der Entnationalisierung in den neueren Zeiten mit Rücksicht auf das Bewußtsein
und die Entwicklung der nationalen Idee undurchführbar ist. insbesondere im
Verhältnis zu einem großen kulturellen Volke, welches gerade in dieser Kultur
stets eine neue und unerschöpfliche Quelle der Widerstandskraft und der Mittel
zur weiteren Entwicklung findet.

In späterer Zeit setzte sich die preußische Politik nicht nur über die elemen¬
tarsten Rücksichten der Gerechtigkeit, sondern auch des Anstandes hinweg.

Man begann mit Verbannungen, die eine Schande des vergangenen Jahr¬
hunderts sind. Im Jahre 1886 vertrieb man aus dem Staatsgebiet über 40 (XX)
arme ruhige Menschen, von denen viele im Kriegsdienste in den Jahren 18M
und 1870 ein Blutsopfer gebracht haben. Man prügelte die Kinder in der Schule
wegen der polnischen Sprache, eine Tatsache, deren bemerkenswerte Illustration


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polnische Irrungen

man erhöhte die Steuern und schloß die Landeseinwohner von jedem Einfluß auf
die Leitung der Angelegenheiten ihres eigenen Vaterlandes aus.

Und doch müßte der Zweck und die Aufgabe der Regierung samt ihren
Institutionen einzig und allein die Leitung und Ausbildung der nationalen
polnischen Seele und durchaus nicht die Unterdrückung dieses Geistes sein. Man
sollte das polnische Volk erziehen, seine Individualität veredeln und nicht sie unter¬
drücken und sie in ihr fremde Formen pressen, die einen zweifelhaften Wert haben.
Das polnische Volk ist stolz auf seine Nationalität. Es empfindet Schmerz über
die Verfolgung seiner Sprache und seines Namens. Dasselbe polnische Volk
wäre zufrieden, wäre freundlich gesinnt gegenüber dem Staate, wenn seine na»
tionale Würde geachtet und die Erhaltung seiner nationalen Individualität ge¬
sichert würde.

Diese Individualität nicht vernichten, sondern entwickeln —, das ist eine
hohe Aufgabe der Regierung. Dies muß jeder zugeben, der den Zweck der
menschlichen Kultur nicht in dem mechanischen Zwange, sondern in der freien
Entwicklung und in der Ausgestaltung des, angeborenen Eigenschaften eines jeden
Volksorganismus erblickt."

So dachten und sagten es ihrem König unter vier Augen die preußischer!
Staatsmänner. Diese Stimmen, welche nicht von abstrakten Moralisten oder von
idealen Freunden der Gerechtigkeit und Polens ausgingen, sondern von nüchternen
und realdenkenden preußischen Staatsmännern, die des polnischen Volkes größte
Gegner waren in der damaligen Zeit, wurden aber nicht berücksichtigt und hatten
keinen Erfolg.

Ähnliche, das analoge falsche Regierungssystem in den polnischen Provinzen
der russischen Monarchie scharf beleuchtende Worte kamen auch aus dem Munde
von russischen Staatsmännern, aber sie wurden auch dort nicht verstanden und
berücksichtigt.

Hier und dort, diesen vernünftigen Stimmen entgegen, ließ man sich auch
fernerhin nur von traditionellen Instinkten leiten.

Man brach also mit dem früheren auf mechanischer Assimilation der besetzten
Provinzen beruhenden System nicht. Man raffte sich nicht auf zu der Wahl des
einzigen richtigen Weges- der rücksichtslosen Achtung vor der Eigenart der polnischen
Kultur, und dadurch der Schaffung von zufriedenen Bürgern des Landes; hier
und dort schloß man die Augen vor der offenbaren Wahrheit, daß das System
der Entnationalisierung in den neueren Zeiten mit Rücksicht auf das Bewußtsein
und die Entwicklung der nationalen Idee undurchführbar ist. insbesondere im
Verhältnis zu einem großen kulturellen Volke, welches gerade in dieser Kultur
stets eine neue und unerschöpfliche Quelle der Widerstandskraft und der Mittel
zur weiteren Entwicklung findet.

In späterer Zeit setzte sich die preußische Politik nicht nur über die elemen¬
tarsten Rücksichten der Gerechtigkeit, sondern auch des Anstandes hinweg.

Man begann mit Verbannungen, die eine Schande des vergangenen Jahr¬
hunderts sind. Im Jahre 1886 vertrieb man aus dem Staatsgebiet über 40 (XX)
arme ruhige Menschen, von denen viele im Kriegsdienste in den Jahren 18M
und 1870 ein Blutsopfer gebracht haben. Man prügelte die Kinder in der Schule
wegen der polnischen Sprache, eine Tatsache, deren bemerkenswerte Illustration


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/15>, abgerufen am 01.09.2024.