Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.Das Denken und die Phantasie Vieler Philosophen, das Geistesleben an körperliche Hirnvorgänge geknüpft zu denken Inmitten der Kriegswirren hat Richard Müller-Freienfels, der wohlbekannte Psychologie ist ihm nicht bloß Wissenschaft von den Bewußtseinserscheinungen, ") "Das Denken und die Phantasie", Psychologische Untersuchungen nebst Exkursen zur
Psychopathologie, Ästhetik und Erkenntnistheorie. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1916. Das Denken und die Phantasie Vieler Philosophen, das Geistesleben an körperliche Hirnvorgänge geknüpft zu denken Inmitten der Kriegswirren hat Richard Müller-Freienfels, der wohlbekannte Psychologie ist ihm nicht bloß Wissenschaft von den Bewußtseinserscheinungen, ") „Das Denken und die Phantasie", Psychologische Untersuchungen nebst Exkursen zur
Psychopathologie, Ästhetik und Erkenntnistheorie. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1916. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0130" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/332845"/> <fw type="header" place="top"> Das Denken und die Phantasie</fw><lb/> <p xml:id="ID_437" prev="#ID_436"> Vieler Philosophen, das Geistesleben an körperliche Hirnvorgänge geknüpft zu denken<lb/> als auch die Schwierigkeit, zahlreiche Tatsachen nicht nur des höheren, sondern auch<lb/> des niederen Seelenlebens assoziativ zu erklären, nötigte zeitig zum Aufsuchen anderer<lb/> Erklärungsweisen. Es entstanden psychologische Richtungen, in denen ein von<lb/> Leibniz geprägter Begriff von Bedeutung wurde, der der Apperzeption, d. h. einer<lb/> inneren Tätigkeit, kraft deren ein Vorstellungsinhalt sich abhebt und in den Zu¬<lb/> sammenhang des Jchbewußtseins eingereiht wird, einer Tätigkeit, die in Verbindung<lb/> mit assoziativem Vorgängen erst das Seelenleben verständlich zu machen schien.<lb/> Der eigentliche Schöpfer einer den weitesten Ansprüchen genügenden, auf ein reiches<lb/> Tatsachenmaterial gegründeten Apperzeptionspsychologie ward freilich erst W. Wundt,<lb/> dessen unvergängliches Verdienst darin besteht, daß er die hohe Bedeutung der Ge¬<lb/> fühle und Affekte im Geistesleben aufgedeckt hat. Auch Wundes Seelenlehre stieß,<lb/> so fruchtbar sie war, auf erheblichen Widerspruch. Man beanstandete, daß derselbe<lb/> zwar die Empfindungen, nicht aber das Formende und Vereinheitlichende des<lb/> Bewußtseins von nervenphysiologischen Vorgängen begleitet dachte, daß er alle<lb/> Verrichtungen des lebenden Körpers aus Willenshandlungen hervorgehen ließ, ja<lb/> daß er geradezu eine in Stetigkeit, in Beziehungs- und Entwicklungsgesetzen sich<lb/> ausdrückende rein seelische Ursächlich keit forderte. So kam es, daß Münsterberg<lb/> der Apperzeptionspsychologie eine Aktionslehre entgegenstellte, der gemäß „jeder<lb/> Bewußtseinsinhalt Begleiterscheinung eines nicht nur sensorischen, sondern sensorisch-<lb/> motorischen Vorganges ist und somit von den vorhandenen Dispositionen zur<lb/> Handlung ebensosehr abhängt wie von peripheren und assoziativem Zuführungen".<lb/> Auch Richard Avenarius, der noch in seiner „Philosophie als Denken der Welt usw."<lb/> die apperzipierende Tätigkeit der Seele hervorgehoben hatte, insbesondere die<lb/> ökonomisch begreifende und identifizierende Apperzeption, gab in seinem Haupt¬<lb/> werke, der „Kritik der reinen Erfahrung", sowohl jenen Begriff als auch den der<lb/> Assoziation völlig auf. Dafür erkannte er. daß alle niederen und höheren geistigen<lb/> Akte, sofern sie zu einem gewissen Abschlüsse gelangen, sich in dreigliedrigen Reihen,<lb/> seelischen Vitalreihen, abspielen, denen physische Vitalreihen parallel gehen; ferner<lb/> versuchte er, nicht nur die Gefühle und gefühlsartigen Zustände, die den geistigen<lb/> Reihen das eigenartige Gepräge verleihen und geradezu als Quelle aller „Form¬<lb/> begriffe" anzusehen sind, sondern auch deren nervenphysiologische Begleiterscheinungen<lb/> näher zu bestimmen. Er baute seine Ansichten auf dem Grundgedanken auf, daß<lb/> das Hirn- und Geistesleben trotz allen von außen und innen beständig eindringenden<lb/> Störungen stets auf Gleichgewichtsherstellung gerichtet ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_438"> Inmitten der Kriegswirren hat Richard Müller-Freienfels, der wohlbekannte<lb/> Verfasser der „Psychologie der Kunst" und der „Poetik" ein Werk herausgegeben*),<lb/> das die fruchtbaren Gedanken der Apperzeptions- und Aktionspsychologie, ins¬<lb/> besondere auch der biomechcmischen Seelenlehre, aufgenommen und eigenartig weiter -<lb/> entwickelt hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_439" next="#ID_440"> Psychologie ist ihm nicht bloß Wissenschaft von den Bewußtseinserscheinungen,<lb/> sondern auch Wissenschaft vom Zusammenhang und von der Einreihung des<lb/> Seelenlebens in die Gesamtheit des Weltgeschehens. Er ordnet daher dem psychischen</p><lb/> <note xml:id="FID_31" place="foot"> ") „Das Denken und die Phantasie", Psychologische Untersuchungen nebst Exkursen zur<lb/> Psychopathologie, Ästhetik und Erkenntnistheorie. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1916.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0130]
Das Denken und die Phantasie
Vieler Philosophen, das Geistesleben an körperliche Hirnvorgänge geknüpft zu denken
als auch die Schwierigkeit, zahlreiche Tatsachen nicht nur des höheren, sondern auch
des niederen Seelenlebens assoziativ zu erklären, nötigte zeitig zum Aufsuchen anderer
Erklärungsweisen. Es entstanden psychologische Richtungen, in denen ein von
Leibniz geprägter Begriff von Bedeutung wurde, der der Apperzeption, d. h. einer
inneren Tätigkeit, kraft deren ein Vorstellungsinhalt sich abhebt und in den Zu¬
sammenhang des Jchbewußtseins eingereiht wird, einer Tätigkeit, die in Verbindung
mit assoziativem Vorgängen erst das Seelenleben verständlich zu machen schien.
Der eigentliche Schöpfer einer den weitesten Ansprüchen genügenden, auf ein reiches
Tatsachenmaterial gegründeten Apperzeptionspsychologie ward freilich erst W. Wundt,
dessen unvergängliches Verdienst darin besteht, daß er die hohe Bedeutung der Ge¬
fühle und Affekte im Geistesleben aufgedeckt hat. Auch Wundes Seelenlehre stieß,
so fruchtbar sie war, auf erheblichen Widerspruch. Man beanstandete, daß derselbe
zwar die Empfindungen, nicht aber das Formende und Vereinheitlichende des
Bewußtseins von nervenphysiologischen Vorgängen begleitet dachte, daß er alle
Verrichtungen des lebenden Körpers aus Willenshandlungen hervorgehen ließ, ja
daß er geradezu eine in Stetigkeit, in Beziehungs- und Entwicklungsgesetzen sich
ausdrückende rein seelische Ursächlich keit forderte. So kam es, daß Münsterberg
der Apperzeptionspsychologie eine Aktionslehre entgegenstellte, der gemäß „jeder
Bewußtseinsinhalt Begleiterscheinung eines nicht nur sensorischen, sondern sensorisch-
motorischen Vorganges ist und somit von den vorhandenen Dispositionen zur
Handlung ebensosehr abhängt wie von peripheren und assoziativem Zuführungen".
Auch Richard Avenarius, der noch in seiner „Philosophie als Denken der Welt usw."
die apperzipierende Tätigkeit der Seele hervorgehoben hatte, insbesondere die
ökonomisch begreifende und identifizierende Apperzeption, gab in seinem Haupt¬
werke, der „Kritik der reinen Erfahrung", sowohl jenen Begriff als auch den der
Assoziation völlig auf. Dafür erkannte er. daß alle niederen und höheren geistigen
Akte, sofern sie zu einem gewissen Abschlüsse gelangen, sich in dreigliedrigen Reihen,
seelischen Vitalreihen, abspielen, denen physische Vitalreihen parallel gehen; ferner
versuchte er, nicht nur die Gefühle und gefühlsartigen Zustände, die den geistigen
Reihen das eigenartige Gepräge verleihen und geradezu als Quelle aller „Form¬
begriffe" anzusehen sind, sondern auch deren nervenphysiologische Begleiterscheinungen
näher zu bestimmen. Er baute seine Ansichten auf dem Grundgedanken auf, daß
das Hirn- und Geistesleben trotz allen von außen und innen beständig eindringenden
Störungen stets auf Gleichgewichtsherstellung gerichtet ist.
Inmitten der Kriegswirren hat Richard Müller-Freienfels, der wohlbekannte
Verfasser der „Psychologie der Kunst" und der „Poetik" ein Werk herausgegeben*),
das die fruchtbaren Gedanken der Apperzeptions- und Aktionspsychologie, ins¬
besondere auch der biomechcmischen Seelenlehre, aufgenommen und eigenartig weiter -
entwickelt hat.
Psychologie ist ihm nicht bloß Wissenschaft von den Bewußtseinserscheinungen,
sondern auch Wissenschaft vom Zusammenhang und von der Einreihung des
Seelenlebens in die Gesamtheit des Weltgeschehens. Er ordnet daher dem psychischen
") „Das Denken und die Phantasie", Psychologische Untersuchungen nebst Exkursen zur
Psychopathologie, Ästhetik und Erkenntnistheorie. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1916.
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