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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Noch einmal: Ethik und Politik

zu allen Menschen und kann keine Sonderaufgabe für Staatsmänner ver¬
anstalten. Nur ihre Befolgung kann vernünftigerweise nicht von allen in
gleichem Maße verlangt werden; dabei ist aber der Unterschied ein gradueller
und kein prinzipieller. Sonst läuft diese Weisheit auf das Wort hinaus von
den kleinen Dieben, die man hängt, und den großen, die man laufen läßt, zumal
wenn man sie nicht in die Gewalt bekommt. Und wenn ein Theologe so
gegen die ersten Grundlagen der Ethik verstößt, so ist es wohl wert, sich drei¬
mal zu besinnen, ehe man dem Lockruf folgt, Machiavelli und Jesus zu
gleicher Zeit zu empfehlen, je nachdem nur zu beliebigem Gebrauche! Da
aber eine eingehende Widerlegung allein dieses Baumgartenschen Buches den
Rahmen eines Zeitschriften-Artikels sprengen würde, so fasse ich meinen philo¬
sophischen Standpunkt lieber in einer Reihe positiver Thesen zusammen.

Die Ethik ist souverän, d. h. ihre Normen sind nicht von den Ereignissen,
und seien diese noch so welterschütternd, abhängig. Das Sollen steht nicht im
Sein geschrieben und ist nicht aus Tatsachen einfach abzulesen noch durch sie
zu beweisen oder zu widerlegen. Ideale sind frei und stehen nicht unter
Naturgesetzen; wie oft und wie weit sie verwirklicht werden, entscheidet weder
über ihren Wert noch über ihre Geltung. Was man für eine Welt der Normen,
wie sie in Ethik, Recht, Völkerrecht usw. vorliegt, aus der Erfahrung lernen
kann, ist nur eine Beschränkung, nämlich auf mögliche und erreichbare Ziele,
Zwecke, Ideale, eine Ausschaltung hoffnungsloser Forderungen, unerfüllbaren
Sollens, unvernünftiger Ideale. Nicht nur die Politik ist eine Kunst des
Möglichen, auch eine vernünftige Ethik fordert nur das dem Menschen mög¬
liche, aber davon allerdings das höchste Maß, die denkbar beste Leistung, die
sie als Muster und Vorbild hinstellt. Die Praxis, der Alltag bleibt hinter
allen Normen weit zurück und dennoch sind nur sie es, die die Menschheit
vorwärts ziehen, höher treiben; was auch nur einmal möglich war, das kann
öfter, sollte ideal gefaßt immer geschehen, wenn es ethisch wertvoll erscheint.

Wer also Moral und Politik völlig auseinanderreißen will, muß behaupten,
daß es dieser unmöglich ist, irgendwelche ethische Anforderungen zu erfüllen und
die unmoralische Natur des Staates postulieren, in dessen Namen Politik ge¬
trieben wird. Vor solcher Folgerung scheut wohl jeder zurück; dann aber
fällt auch die schroffe Entgegensetzung; alles wird relativ, es klafft kein Ab¬
grund, sondern es baut sich eine Brücke. Vielleicht ist es dem Staatsmann nur
viel schwerer gemacht, als dem einzelnen, ethisch zu handeln; die Entwicklung
zum Ideal geht in der Politik noch langsamer, mühsamer, als bei der Jndividual-
moral; wir müssen als Ethiker mit dem Staat noch mehr Geduld haben.

Aber die müssen wir doch auch mit den einzelnen haben! Die Kluft
zwischen Wollen und Vollbringen, Wirklichkeit und Ideal, Tatsache und Norm
finden sich doch nicht nur beim Staate! Wenn man z. B. Baumgartens Buch liest,
meint man oft, jeder einzelne lebe genau nach der Bergpredigt und nur allein
der Racker von Staat nach Machiavelli. Müssen wir denn nicht überall sehr


Noch einmal: Ethik und Politik

zu allen Menschen und kann keine Sonderaufgabe für Staatsmänner ver¬
anstalten. Nur ihre Befolgung kann vernünftigerweise nicht von allen in
gleichem Maße verlangt werden; dabei ist aber der Unterschied ein gradueller
und kein prinzipieller. Sonst läuft diese Weisheit auf das Wort hinaus von
den kleinen Dieben, die man hängt, und den großen, die man laufen läßt, zumal
wenn man sie nicht in die Gewalt bekommt. Und wenn ein Theologe so
gegen die ersten Grundlagen der Ethik verstößt, so ist es wohl wert, sich drei¬
mal zu besinnen, ehe man dem Lockruf folgt, Machiavelli und Jesus zu
gleicher Zeit zu empfehlen, je nachdem nur zu beliebigem Gebrauche! Da
aber eine eingehende Widerlegung allein dieses Baumgartenschen Buches den
Rahmen eines Zeitschriften-Artikels sprengen würde, so fasse ich meinen philo¬
sophischen Standpunkt lieber in einer Reihe positiver Thesen zusammen.

Die Ethik ist souverän, d. h. ihre Normen sind nicht von den Ereignissen,
und seien diese noch so welterschütternd, abhängig. Das Sollen steht nicht im
Sein geschrieben und ist nicht aus Tatsachen einfach abzulesen noch durch sie
zu beweisen oder zu widerlegen. Ideale sind frei und stehen nicht unter
Naturgesetzen; wie oft und wie weit sie verwirklicht werden, entscheidet weder
über ihren Wert noch über ihre Geltung. Was man für eine Welt der Normen,
wie sie in Ethik, Recht, Völkerrecht usw. vorliegt, aus der Erfahrung lernen
kann, ist nur eine Beschränkung, nämlich auf mögliche und erreichbare Ziele,
Zwecke, Ideale, eine Ausschaltung hoffnungsloser Forderungen, unerfüllbaren
Sollens, unvernünftiger Ideale. Nicht nur die Politik ist eine Kunst des
Möglichen, auch eine vernünftige Ethik fordert nur das dem Menschen mög¬
liche, aber davon allerdings das höchste Maß, die denkbar beste Leistung, die
sie als Muster und Vorbild hinstellt. Die Praxis, der Alltag bleibt hinter
allen Normen weit zurück und dennoch sind nur sie es, die die Menschheit
vorwärts ziehen, höher treiben; was auch nur einmal möglich war, das kann
öfter, sollte ideal gefaßt immer geschehen, wenn es ethisch wertvoll erscheint.

Wer also Moral und Politik völlig auseinanderreißen will, muß behaupten,
daß es dieser unmöglich ist, irgendwelche ethische Anforderungen zu erfüllen und
die unmoralische Natur des Staates postulieren, in dessen Namen Politik ge¬
trieben wird. Vor solcher Folgerung scheut wohl jeder zurück; dann aber
fällt auch die schroffe Entgegensetzung; alles wird relativ, es klafft kein Ab¬
grund, sondern es baut sich eine Brücke. Vielleicht ist es dem Staatsmann nur
viel schwerer gemacht, als dem einzelnen, ethisch zu handeln; die Entwicklung
zum Ideal geht in der Politik noch langsamer, mühsamer, als bei der Jndividual-
moral; wir müssen als Ethiker mit dem Staat noch mehr Geduld haben.

Aber die müssen wir doch auch mit den einzelnen haben! Die Kluft
zwischen Wollen und Vollbringen, Wirklichkeit und Ideal, Tatsache und Norm
finden sich doch nicht nur beim Staate! Wenn man z. B. Baumgartens Buch liest,
meint man oft, jeder einzelne lebe genau nach der Bergpredigt und nur allein
der Racker von Staat nach Machiavelli. Müssen wir denn nicht überall sehr


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[0046] Noch einmal: Ethik und Politik zu allen Menschen und kann keine Sonderaufgabe für Staatsmänner ver¬ anstalten. Nur ihre Befolgung kann vernünftigerweise nicht von allen in gleichem Maße verlangt werden; dabei ist aber der Unterschied ein gradueller und kein prinzipieller. Sonst läuft diese Weisheit auf das Wort hinaus von den kleinen Dieben, die man hängt, und den großen, die man laufen läßt, zumal wenn man sie nicht in die Gewalt bekommt. Und wenn ein Theologe so gegen die ersten Grundlagen der Ethik verstößt, so ist es wohl wert, sich drei¬ mal zu besinnen, ehe man dem Lockruf folgt, Machiavelli und Jesus zu gleicher Zeit zu empfehlen, je nachdem nur zu beliebigem Gebrauche! Da aber eine eingehende Widerlegung allein dieses Baumgartenschen Buches den Rahmen eines Zeitschriften-Artikels sprengen würde, so fasse ich meinen philo¬ sophischen Standpunkt lieber in einer Reihe positiver Thesen zusammen. Die Ethik ist souverän, d. h. ihre Normen sind nicht von den Ereignissen, und seien diese noch so welterschütternd, abhängig. Das Sollen steht nicht im Sein geschrieben und ist nicht aus Tatsachen einfach abzulesen noch durch sie zu beweisen oder zu widerlegen. Ideale sind frei und stehen nicht unter Naturgesetzen; wie oft und wie weit sie verwirklicht werden, entscheidet weder über ihren Wert noch über ihre Geltung. Was man für eine Welt der Normen, wie sie in Ethik, Recht, Völkerrecht usw. vorliegt, aus der Erfahrung lernen kann, ist nur eine Beschränkung, nämlich auf mögliche und erreichbare Ziele, Zwecke, Ideale, eine Ausschaltung hoffnungsloser Forderungen, unerfüllbaren Sollens, unvernünftiger Ideale. Nicht nur die Politik ist eine Kunst des Möglichen, auch eine vernünftige Ethik fordert nur das dem Menschen mög¬ liche, aber davon allerdings das höchste Maß, die denkbar beste Leistung, die sie als Muster und Vorbild hinstellt. Die Praxis, der Alltag bleibt hinter allen Normen weit zurück und dennoch sind nur sie es, die die Menschheit vorwärts ziehen, höher treiben; was auch nur einmal möglich war, das kann öfter, sollte ideal gefaßt immer geschehen, wenn es ethisch wertvoll erscheint. Wer also Moral und Politik völlig auseinanderreißen will, muß behaupten, daß es dieser unmöglich ist, irgendwelche ethische Anforderungen zu erfüllen und die unmoralische Natur des Staates postulieren, in dessen Namen Politik ge¬ trieben wird. Vor solcher Folgerung scheut wohl jeder zurück; dann aber fällt auch die schroffe Entgegensetzung; alles wird relativ, es klafft kein Ab¬ grund, sondern es baut sich eine Brücke. Vielleicht ist es dem Staatsmann nur viel schwerer gemacht, als dem einzelnen, ethisch zu handeln; die Entwicklung zum Ideal geht in der Politik noch langsamer, mühsamer, als bei der Jndividual- moral; wir müssen als Ethiker mit dem Staat noch mehr Geduld haben. Aber die müssen wir doch auch mit den einzelnen haben! Die Kluft zwischen Wollen und Vollbringen, Wirklichkeit und Ideal, Tatsache und Norm finden sich doch nicht nur beim Staate! Wenn man z. B. Baumgartens Buch liest, meint man oft, jeder einzelne lebe genau nach der Bergpredigt und nur allein der Racker von Staat nach Machiavelli. Müssen wir denn nicht überall sehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/46>, abgerufen am 23.07.2024.