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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Antiqua oder Fraktur?

gerade dadurch auszeichnen, daß wir uns nicht durch die Vorurteile eines falsch
verstandenen "Historismus" und "Nationalismus" davon abhalten lassen, das
wirklich Gute und für uns Brauchbare, das uns Angemessene auch dann an¬
zunehmen und für unsere Zwecke fruchtbar zu machen, wenn es aus fremden
Ländern zu uns gekommen ist. Zugegeben also, daß die Antiquadruckschrift
geschichtlich einen besseren Anspruch auf den Namen der ursprünglich "deutschen
Druckschrift" hat, als die Fraktur, so würden wir doch heute die letztere an¬
nehmen und von ihr sagen, sie sei eben heute zur deutschen Schrift geworden,
wenn jene erwähnte im Laufe der Geschichte sich vollziehende psychologische
Entwicklung sie als das Endprodukt einer organischen Entfaltung erscheinen
ließe. Wir würden sie in diesem Falle auch dann annehmen und ihr den
Titel einer deutschen Schrift nicht versagen, wenn sie etwa schon früher bei
den Engländern oder Franzosen eingeführt worden wäre und wir sie von
diesen uns heute feindlichen Völkern übernommen hätten. Würden wir anders
handeln oder urteilen, so würden wir uns eben jenes starren Dogmatismus,
jenes "Autoritätsglaubens und Festhaltens an alten Gewohnheiten" schuldig
machen, die Soennecken den Anhängern der Fraktur vorwirft. Die Frage
aber, welche Druckschrift den heute bestehenden Forderungen des organischen
Zusammenhangs zwischen Denken und Schreiben entspricht, kann nur vom
psychologischen Standpunkte aus beurteilt werden. Andere außerpsychologische
sygenannte "nationale" Gesichtspunkte hier hineinspielen zu lassen, wäre
Chauvinismus. Was hier psychologisch gerechtfertigt ist. ist auch national
gerechtfertigt. Dem psychologischen Gesichtspunkte aber wird Soennecken in
keiner Weise gerecht. Dies beweist schon seine Bemerkung: "Die Deutlichkeit
einer Schrift nach Augenrucken beim Lesen zu beurteilen, wie es Schlackwitz
und andere versuchten, ist eine wertlose wissenschaftliche Spielerei." Für diese
Behauptung bleibt uns der Verfasser den B.weis schuldig. Sie läßt sich auch
nicht beweisen. Vielmehr haben neuere, namentlich von amerikanischen Psycho¬
logen angestellte Untersuchungen bewiesen, daß eine Berücksichtigung dieser
"Augenrucke" für die ganze Frage von grundlegender, ja entscheidender Be¬
deutung ist. Ich erinnere nur an die eindringlichen Untersuchungen von
Raymond Dodge z. B. "Eine experimentelle Studie der visuellen Fixation"
(Zeitschr. für Psychol.. Bd. 52. 1909) oder von W, F. Dearborn: "l'lie
?8^alvi<zZie c>k KeadinZ: su experimental stuck^ ok elle reaclinZ pau8ö8
ana movölnenw ok elle e^e", der nach der sogenannten photographischen
Reg'striermethode (durch Photographieren der Bewegungen eines von der Horn¬
haut des Auges beim Lesen reflektierten Lichtstrahles) bewiesen hat, daß eine
richtige Beurteilung der psychologischen Aufgaben der Ruhepausen und "Augen¬
rucke" beim Lesen keineswegs eine "wertlose wissenschaftliche Spielerei", fondern
für die Psychologie des Lesens der verschiedenen Druckschriften von entscheidender
Bedeutung ist. Es kann hier nur angedeutet werden, worin diese entscheidenden
Gesichtspunkte bestehen. Früher (z. B. noch von Helmholtz) wurde angenommen,


Antiqua oder Fraktur?

gerade dadurch auszeichnen, daß wir uns nicht durch die Vorurteile eines falsch
verstandenen „Historismus" und „Nationalismus" davon abhalten lassen, das
wirklich Gute und für uns Brauchbare, das uns Angemessene auch dann an¬
zunehmen und für unsere Zwecke fruchtbar zu machen, wenn es aus fremden
Ländern zu uns gekommen ist. Zugegeben also, daß die Antiquadruckschrift
geschichtlich einen besseren Anspruch auf den Namen der ursprünglich „deutschen
Druckschrift" hat, als die Fraktur, so würden wir doch heute die letztere an¬
nehmen und von ihr sagen, sie sei eben heute zur deutschen Schrift geworden,
wenn jene erwähnte im Laufe der Geschichte sich vollziehende psychologische
Entwicklung sie als das Endprodukt einer organischen Entfaltung erscheinen
ließe. Wir würden sie in diesem Falle auch dann annehmen und ihr den
Titel einer deutschen Schrift nicht versagen, wenn sie etwa schon früher bei
den Engländern oder Franzosen eingeführt worden wäre und wir sie von
diesen uns heute feindlichen Völkern übernommen hätten. Würden wir anders
handeln oder urteilen, so würden wir uns eben jenes starren Dogmatismus,
jenes „Autoritätsglaubens und Festhaltens an alten Gewohnheiten" schuldig
machen, die Soennecken den Anhängern der Fraktur vorwirft. Die Frage
aber, welche Druckschrift den heute bestehenden Forderungen des organischen
Zusammenhangs zwischen Denken und Schreiben entspricht, kann nur vom
psychologischen Standpunkte aus beurteilt werden. Andere außerpsychologische
sygenannte „nationale" Gesichtspunkte hier hineinspielen zu lassen, wäre
Chauvinismus. Was hier psychologisch gerechtfertigt ist. ist auch national
gerechtfertigt. Dem psychologischen Gesichtspunkte aber wird Soennecken in
keiner Weise gerecht. Dies beweist schon seine Bemerkung: „Die Deutlichkeit
einer Schrift nach Augenrucken beim Lesen zu beurteilen, wie es Schlackwitz
und andere versuchten, ist eine wertlose wissenschaftliche Spielerei." Für diese
Behauptung bleibt uns der Verfasser den B.weis schuldig. Sie läßt sich auch
nicht beweisen. Vielmehr haben neuere, namentlich von amerikanischen Psycho¬
logen angestellte Untersuchungen bewiesen, daß eine Berücksichtigung dieser
„Augenrucke" für die ganze Frage von grundlegender, ja entscheidender Be¬
deutung ist. Ich erinnere nur an die eindringlichen Untersuchungen von
Raymond Dodge z. B. „Eine experimentelle Studie der visuellen Fixation"
(Zeitschr. für Psychol.. Bd. 52. 1909) oder von W, F. Dearborn: „l'lie
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ana movölnenw ok elle e^e", der nach der sogenannten photographischen
Reg'striermethode (durch Photographieren der Bewegungen eines von der Horn¬
haut des Auges beim Lesen reflektierten Lichtstrahles) bewiesen hat, daß eine
richtige Beurteilung der psychologischen Aufgaben der Ruhepausen und „Augen¬
rucke" beim Lesen keineswegs eine „wertlose wissenschaftliche Spielerei", fondern
für die Psychologie des Lesens der verschiedenen Druckschriften von entscheidender
Bedeutung ist. Es kann hier nur angedeutet werden, worin diese entscheidenden
Gesichtspunkte bestehen. Früher (z. B. noch von Helmholtz) wurde angenommen,


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[0420] Antiqua oder Fraktur? gerade dadurch auszeichnen, daß wir uns nicht durch die Vorurteile eines falsch verstandenen „Historismus" und „Nationalismus" davon abhalten lassen, das wirklich Gute und für uns Brauchbare, das uns Angemessene auch dann an¬ zunehmen und für unsere Zwecke fruchtbar zu machen, wenn es aus fremden Ländern zu uns gekommen ist. Zugegeben also, daß die Antiquadruckschrift geschichtlich einen besseren Anspruch auf den Namen der ursprünglich „deutschen Druckschrift" hat, als die Fraktur, so würden wir doch heute die letztere an¬ nehmen und von ihr sagen, sie sei eben heute zur deutschen Schrift geworden, wenn jene erwähnte im Laufe der Geschichte sich vollziehende psychologische Entwicklung sie als das Endprodukt einer organischen Entfaltung erscheinen ließe. Wir würden sie in diesem Falle auch dann annehmen und ihr den Titel einer deutschen Schrift nicht versagen, wenn sie etwa schon früher bei den Engländern oder Franzosen eingeführt worden wäre und wir sie von diesen uns heute feindlichen Völkern übernommen hätten. Würden wir anders handeln oder urteilen, so würden wir uns eben jenes starren Dogmatismus, jenes „Autoritätsglaubens und Festhaltens an alten Gewohnheiten" schuldig machen, die Soennecken den Anhängern der Fraktur vorwirft. Die Frage aber, welche Druckschrift den heute bestehenden Forderungen des organischen Zusammenhangs zwischen Denken und Schreiben entspricht, kann nur vom psychologischen Standpunkte aus beurteilt werden. Andere außerpsychologische sygenannte „nationale" Gesichtspunkte hier hineinspielen zu lassen, wäre Chauvinismus. Was hier psychologisch gerechtfertigt ist. ist auch national gerechtfertigt. Dem psychologischen Gesichtspunkte aber wird Soennecken in keiner Weise gerecht. Dies beweist schon seine Bemerkung: „Die Deutlichkeit einer Schrift nach Augenrucken beim Lesen zu beurteilen, wie es Schlackwitz und andere versuchten, ist eine wertlose wissenschaftliche Spielerei." Für diese Behauptung bleibt uns der Verfasser den B.weis schuldig. Sie läßt sich auch nicht beweisen. Vielmehr haben neuere, namentlich von amerikanischen Psycho¬ logen angestellte Untersuchungen bewiesen, daß eine Berücksichtigung dieser „Augenrucke" für die ganze Frage von grundlegender, ja entscheidender Be¬ deutung ist. Ich erinnere nur an die eindringlichen Untersuchungen von Raymond Dodge z. B. „Eine experimentelle Studie der visuellen Fixation" (Zeitschr. für Psychol.. Bd. 52. 1909) oder von W, F. Dearborn: „l'lie ?8^alvi<zZie c>k KeadinZ: su experimental stuck^ ok elle reaclinZ pau8ö8 ana movölnenw ok elle e^e", der nach der sogenannten photographischen Reg'striermethode (durch Photographieren der Bewegungen eines von der Horn¬ haut des Auges beim Lesen reflektierten Lichtstrahles) bewiesen hat, daß eine richtige Beurteilung der psychologischen Aufgaben der Ruhepausen und „Augen¬ rucke" beim Lesen keineswegs eine „wertlose wissenschaftliche Spielerei", fondern für die Psychologie des Lesens der verschiedenen Druckschriften von entscheidender Bedeutung ist. Es kann hier nur angedeutet werden, worin diese entscheidenden Gesichtspunkte bestehen. Früher (z. B. noch von Helmholtz) wurde angenommen,

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/420>, abgerufen am 23.07.2024.