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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutralität

die Gelegenheit gibt, auf Grund der Garantie zu handeln." Noch stärker
hatte sich zwei Tage vorher im Oberhaus Lord Granville ausgelassen: "Wir
denken nicht daran, daß unser Land moralisch oder völkerrechtlich oder durch
seine Interessen genötigt sei, die Neutralität Belgiens aufrecht zu erhalten."

Im Jahre 1887, als die Boulanger-Gefahr Europa bedrohte, ließ Lord
Salisbury im "Standard" erklären: Was hätte England im Fall eines Krieges
zwischen Deutschland und Frankreich zu tun? Die Antwort lautete: Nichts
anderes, als daß England neutral bliebe, auch wenn zeitweise belgisches Gebiet
militärisch besetzt würde; dann hätte es aber dafür zu sorgen, daß nach dem
Kriege die Neutralität und Unabhängigkeit Belgiens mit peinlicher Gewissen-
haftigkeit geachtet werden müsse.

Die merkwürdigste aber von allen englischen Erklärungen ist die von Lord
Grey in der Sitzung des englischen Unterhauses am 3. August 1914 abge¬
gebene. In dieser Sitzung hat Gren, die vorhin mitgeteilten Erklärungen Lord
Granvilles und Gladstones von 1870 verlesen und hinzugefügt: "Der Vertrag
von 1839 ist ein alter Vertrag und ist nicht nur bestimmt durch die Interessen
Belgiens, sondern auch durch die Interessen der Garantiemächte. Davon ging
unsere Regierung schon 1870 aus. Unsere Regierung hat heute ihre Interessen nicht
anders einzuschätzen, als es die Regierung Mr. Gladstones im Jahre 1870 tat."

Bekannt ist, daß zwischen 1860 und 1870 Napoleon mit Bismarck über
ein Abkommen verhandelte, wonach Preußen Süddeutschland und Frankreich
Belgien bekommen sollte. Benedetti hat bekanntlich den Entwurf dieses Ab¬
kommens auf Bismarcks Veranlassung niedergeschrieben. Bismarck ihn abgelehnt
und 1870 veröffentlicht.

Napoleon schrieb am 19. Februar 1869 an den Kriegsminister Niet:
"Belgien öffnet uns die Tore Deutschlands. Wir können von da über den
Niederrhein vorstoßen, wohin wir wollen" und im "Moniteur diplomatique" vom
11. März 1369 las man: "Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die Neutralität
Belgiens unverträglich sein würde mit dem Durchmarsch einer französischen
Armee durch sein Gebiet. Die maßgebendsten Publizisten geben zu, daß die
neutralen Staaten einem fremden Staate den Heeresdurchmarsch gestatten
können." Das stimmt zu der gesamten französischen Auffassung. 1871 be¬
richtete der belgische General Chazal, der 1870 das belgische Oberkommando
hatte, in der belgischen Militärkommisston: "Im französischen Kriegsrat vor
der Schlacht bei Sedan erwog man, ob man nicht mit der eingekreisten Armee
den Durchmarsch durch belgisches Gebiet ins Departement du Nord erzwingen
sollte. Nur der Hinweis auf die 20 000 Mann belgischer Truppen an der
Grenze schreckte von dem Versuche ab."

Daß Belgien seinerseits alle diese Vorgänge und Aeußerungen kannte
und würdigte, ist selbstverständlich.

Als die Diplomaten in dem Neutralisierungsvertrage 1831 die Unverletzlich¬
keit des belgischen Gebietes ausschalteten, wußten sie ganz genau was sie wollten


Belgiens Neutralität

die Gelegenheit gibt, auf Grund der Garantie zu handeln." Noch stärker
hatte sich zwei Tage vorher im Oberhaus Lord Granville ausgelassen: „Wir
denken nicht daran, daß unser Land moralisch oder völkerrechtlich oder durch
seine Interessen genötigt sei, die Neutralität Belgiens aufrecht zu erhalten."

Im Jahre 1887, als die Boulanger-Gefahr Europa bedrohte, ließ Lord
Salisbury im „Standard" erklären: Was hätte England im Fall eines Krieges
zwischen Deutschland und Frankreich zu tun? Die Antwort lautete: Nichts
anderes, als daß England neutral bliebe, auch wenn zeitweise belgisches Gebiet
militärisch besetzt würde; dann hätte es aber dafür zu sorgen, daß nach dem
Kriege die Neutralität und Unabhängigkeit Belgiens mit peinlicher Gewissen-
haftigkeit geachtet werden müsse.

Die merkwürdigste aber von allen englischen Erklärungen ist die von Lord
Grey in der Sitzung des englischen Unterhauses am 3. August 1914 abge¬
gebene. In dieser Sitzung hat Gren, die vorhin mitgeteilten Erklärungen Lord
Granvilles und Gladstones von 1870 verlesen und hinzugefügt: „Der Vertrag
von 1839 ist ein alter Vertrag und ist nicht nur bestimmt durch die Interessen
Belgiens, sondern auch durch die Interessen der Garantiemächte. Davon ging
unsere Regierung schon 1870 aus. Unsere Regierung hat heute ihre Interessen nicht
anders einzuschätzen, als es die Regierung Mr. Gladstones im Jahre 1870 tat."

Bekannt ist, daß zwischen 1860 und 1870 Napoleon mit Bismarck über
ein Abkommen verhandelte, wonach Preußen Süddeutschland und Frankreich
Belgien bekommen sollte. Benedetti hat bekanntlich den Entwurf dieses Ab¬
kommens auf Bismarcks Veranlassung niedergeschrieben. Bismarck ihn abgelehnt
und 1870 veröffentlicht.

Napoleon schrieb am 19. Februar 1869 an den Kriegsminister Niet:
„Belgien öffnet uns die Tore Deutschlands. Wir können von da über den
Niederrhein vorstoßen, wohin wir wollen" und im „Moniteur diplomatique" vom
11. März 1369 las man: „Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die Neutralität
Belgiens unverträglich sein würde mit dem Durchmarsch einer französischen
Armee durch sein Gebiet. Die maßgebendsten Publizisten geben zu, daß die
neutralen Staaten einem fremden Staate den Heeresdurchmarsch gestatten
können." Das stimmt zu der gesamten französischen Auffassung. 1871 be¬
richtete der belgische General Chazal, der 1870 das belgische Oberkommando
hatte, in der belgischen Militärkommisston: „Im französischen Kriegsrat vor
der Schlacht bei Sedan erwog man, ob man nicht mit der eingekreisten Armee
den Durchmarsch durch belgisches Gebiet ins Departement du Nord erzwingen
sollte. Nur der Hinweis auf die 20 000 Mann belgischer Truppen an der
Grenze schreckte von dem Versuche ab."

Daß Belgien seinerseits alle diese Vorgänge und Aeußerungen kannte
und würdigte, ist selbstverständlich.

Als die Diplomaten in dem Neutralisierungsvertrage 1831 die Unverletzlich¬
keit des belgischen Gebietes ausschalteten, wußten sie ganz genau was sie wollten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/340>, abgerufen am 25.08.2024.