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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung

Eigenleben ausgestattet und zur Eigenartigkeit berufen sind. Sie übertrage
den Kommunismus auf wirtschaftlichem Gebiete auf das geistige Gebiet und
schalte damit das Individuum als solches aus der Erziehung aus. Damit
sei aber auch zugleich die Grundlage der gesamten Erziehung ebenso verschoben,
als wenn ein einseitiger Individualismus die Gesamtheit mit dem frechen
Wort der Vielzuvielen verächtlich mache und das Recht der Existenz schlie߬
lich nur einer Geistesaristokratie zuerkenne, die, auf wenige Übermenschen
beschränkt, keiner Herdenmoral zu folgen verpflichtet ist.

Das geschah in der individualistischen Philosophie Nietzsches und in der
aus ihr hervorgegangenen individualistischen Pädagogik unserer Zeit. Im Rechte
ist dieser Individualismus mit seinem Widerstand gegen die alle individuelle
Art einengendem Bestrebungen der Sozialkultur. Er geht bei diesem Wider¬
stand von folgenden ohne Frage richtigen Erwägungen aus: Der Mensch ist
kein bloßes Glied einer Verkettung, sondern er ist ein selbständiges Einzel¬
wesen, das sich der Unendlichkeit gegenüberstellen und mit ihr ringen kann,
und das dem Kreis der bloßen Gesellschaft weit überlegen ist. Deshalb ist
es ein Widersinn, einem solchen Weltwesen das Geistesleben erst durch die
Gesellschaft vermitteln und es dabei an das Maß dessen binden zu wollen,
was der Zusammenschluß der Kräfte an Geistigkeit erreicht hat. Ein Wesen,
das aus seinem Grundverhältnis zur Geisteswelt einen unendlichen Wert besitzt,
kann sich seinen Wert unmöglich erst von menschlicher Schätzung zusprechen
lassen und damit alle Unabhängigkeit der Gesinnung verlieren; vor allem kann
es auch seine Wertung geistiger Güter nicht von der Schützung abhängig machen,
die die jeweilige Gesellschaft ihnen zukommen läßt. Ihm muß vielmehr der
Ewigkeitswert der geistig sittlichen Persönlichkeit dem Relativismus der Masse
weit überlegen erscheinen. Er erkennt nicht in dieser Masse, sondern gerade
in dem hervorragenden Individuum den Träger des Lebens, wenigstens allen
Fortschritts in ihm. Er sieht, daß der Fortschritt im Kulturleben nicht, wie
die Vertreter der Sozialkultur annehmen, einer einfachen Summierung der
Vernunft in der Gesellschaft entspringt, daß er vielmehr von der Richtung ab¬
hängig ist, in der diese Summierung erfolgt, und daß jener Summierung die
entscheidende Richtung durch die führenden Individuen, und nicht durch die
Masse gegeben wird. "Was an Tüchtigen an einzelnen Stellen aufstrebt, das
findet sich oft nicht zusammen und ist daher für das Ganze wie verloren.
Daß die Verbindung der aufstrebenden Kräfte nicht gelingen will, das kann
eine Zeit mit schwerem Druck belasten, und solcher Druck liegt auf unserer
eigenen Zeit. Das aber ist das Werk der Großen, durch glückliche Ausprägung
eines geistigen Charakters und mutiges Vordringen eine Summierung in be¬
stimmter und erhöhender Richtung anzubahnen und durchzusetzen; so waren sie
die Herren, nicht die Diener der Zeit." (Eucken.) Weil aber das Jndividium
für das Geistesleben diese fundamentale Bedeutung gewinnen kann, so muß
der Versuch der Sozialkultur, es überall bloß zu einem Mittel für die Zwecke


Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung

Eigenleben ausgestattet und zur Eigenartigkeit berufen sind. Sie übertrage
den Kommunismus auf wirtschaftlichem Gebiete auf das geistige Gebiet und
schalte damit das Individuum als solches aus der Erziehung aus. Damit
sei aber auch zugleich die Grundlage der gesamten Erziehung ebenso verschoben,
als wenn ein einseitiger Individualismus die Gesamtheit mit dem frechen
Wort der Vielzuvielen verächtlich mache und das Recht der Existenz schlie߬
lich nur einer Geistesaristokratie zuerkenne, die, auf wenige Übermenschen
beschränkt, keiner Herdenmoral zu folgen verpflichtet ist.

Das geschah in der individualistischen Philosophie Nietzsches und in der
aus ihr hervorgegangenen individualistischen Pädagogik unserer Zeit. Im Rechte
ist dieser Individualismus mit seinem Widerstand gegen die alle individuelle
Art einengendem Bestrebungen der Sozialkultur. Er geht bei diesem Wider¬
stand von folgenden ohne Frage richtigen Erwägungen aus: Der Mensch ist
kein bloßes Glied einer Verkettung, sondern er ist ein selbständiges Einzel¬
wesen, das sich der Unendlichkeit gegenüberstellen und mit ihr ringen kann,
und das dem Kreis der bloßen Gesellschaft weit überlegen ist. Deshalb ist
es ein Widersinn, einem solchen Weltwesen das Geistesleben erst durch die
Gesellschaft vermitteln und es dabei an das Maß dessen binden zu wollen,
was der Zusammenschluß der Kräfte an Geistigkeit erreicht hat. Ein Wesen,
das aus seinem Grundverhältnis zur Geisteswelt einen unendlichen Wert besitzt,
kann sich seinen Wert unmöglich erst von menschlicher Schätzung zusprechen
lassen und damit alle Unabhängigkeit der Gesinnung verlieren; vor allem kann
es auch seine Wertung geistiger Güter nicht von der Schützung abhängig machen,
die die jeweilige Gesellschaft ihnen zukommen läßt. Ihm muß vielmehr der
Ewigkeitswert der geistig sittlichen Persönlichkeit dem Relativismus der Masse
weit überlegen erscheinen. Er erkennt nicht in dieser Masse, sondern gerade
in dem hervorragenden Individuum den Träger des Lebens, wenigstens allen
Fortschritts in ihm. Er sieht, daß der Fortschritt im Kulturleben nicht, wie
die Vertreter der Sozialkultur annehmen, einer einfachen Summierung der
Vernunft in der Gesellschaft entspringt, daß er vielmehr von der Richtung ab¬
hängig ist, in der diese Summierung erfolgt, und daß jener Summierung die
entscheidende Richtung durch die führenden Individuen, und nicht durch die
Masse gegeben wird. „Was an Tüchtigen an einzelnen Stellen aufstrebt, das
findet sich oft nicht zusammen und ist daher für das Ganze wie verloren.
Daß die Verbindung der aufstrebenden Kräfte nicht gelingen will, das kann
eine Zeit mit schwerem Druck belasten, und solcher Druck liegt auf unserer
eigenen Zeit. Das aber ist das Werk der Großen, durch glückliche Ausprägung
eines geistigen Charakters und mutiges Vordringen eine Summierung in be¬
stimmter und erhöhender Richtung anzubahnen und durchzusetzen; so waren sie
die Herren, nicht die Diener der Zeit." (Eucken.) Weil aber das Jndividium
für das Geistesleben diese fundamentale Bedeutung gewinnen kann, so muß
der Versuch der Sozialkultur, es überall bloß zu einem Mittel für die Zwecke


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/323>, abgerufen am 25.08.2024.