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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung

Stande bemißt sich auch die Art und das Wohl des individuellen Daseins; bis
in seine Wünsche und Träume hinein ist jeder an seine Umgebung, an das
soziale "Milieu" gebunden. Das Bewußtsein, an erster Stelle ein Glied des
Ganzen zu sein, muß mehr Kraft und Eindringlichkeit erlangen; es muß die
altruistischen Triebe gegenüber den egoistischen stärken, die nicht schlechthin ver¬
werflich sind, die aber gewöhnlich zu sehr die Oberhand haben. Niemand fühle
sich als bloßer Privatmann, jeder vielmehr als ein öffentlicher Beamter, der
Reiche sich als "Depositär des gemeinsamen Besitzes". Die Comtesche Soziologie
ist eifrigst bemüht, die völlige Bedingtheit des Menschen durch die soziale Um¬
gebung, das "Milieu" zu zeigen. Zugleich tritt der Begriff des gesellschaft¬
lichen Durchschnitts, des mittleren Menschen, in den Vordergrund; es wird
nachgewiesen, daß die Abweichungen der Individuen, soweit meßbar, sich
innerhalb weit engerer Grenzen bewegen, als der erste Eindruck uns annehmen
läßt. "So verweilt die Aufmerksamkeit weit weniger bei der Verschiedenheit
der Individuen; und die Analyse des individuellen Seelenlebens, diese Stärke
unserer großen Dichter, weicht der Massenbeobachtung mit ihrer Statistik."
Eine solche Weltanschauung macht zur Hauptsache, was der Mensch für die
Gesamtheit leistet, nicht aber, was er im eigenen Bereiche denkt und tut. Die
Verbesserung der gesellschaftlichen Lage wird das allüberragende Ziel. "Die
Moral wird zum Wirken für die Gesellschaft, die Kunst setzt sich zur Aufgabe
die Vergegenwärtigung der gesellschaftlichen Zustände, und die Erziehung erstrebt
nicht die Entwicklung individueller Art, sondern die Hebung des gemeinsamen
Bildmigsstandes."

Überall wird so das Individuum zurückgedrängt. Dazu trieb einmal die
wirtschaftliche Entwicklung, der gegenüber alle Anstrengungen des bloßen In¬
dividuums nichtig zu sein schienen, andererseits aber auch die technische Ge¬
staltung der gesamten Kultur, welche ein straffes'Ineinandergreifen und ein
williges Sichfügen der einzelnen Kräfte zugunsten der Organisation des Ganzen
verlangt.

Wer wollte und könnte bestreiten, daß diese moderne Sozialkultur manche
schätzenswerte Leistungen aufzuweisen hat? Sie lehrt, daß wir ganz auf die
Gesellschaft angewiesen sind und von ihrem Gedeihen auch das Glück des
einzelnen abhängt. Da muß es ihr natürlich besonders wichtig erscheinen, daß
der Stand der Gesellschaft gehoben und alle in ihr vorhandene Kraft zur vollen
Wirkung gebracht wird. Das kann aber nur durch engen Zusammenschluß
geschehen. Durch diese engere Verbindung wurde jeder einzelne gehoben,
wurden reiche Quellen moralischer Gesinnung erschlossen, wurde die gegenseitige
Teilnahme gesteigert und ein Bewußtsein durchgängiger Solidarität erzeugt.
Auch hat die Forderung des Sichfügens und des Sicheinordnens des einzelnen
in die Gesamtorganisation mehr Disziplin und dadurch mehr Kraft und Mann¬
haftigkeit in das Leben gebracht. Das alles sind ganz unverkennbar Vorteile
und Vorzüge der Sozialkultur. Sie sollen voll anerkannt und bewertet werden;


Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung

Stande bemißt sich auch die Art und das Wohl des individuellen Daseins; bis
in seine Wünsche und Träume hinein ist jeder an seine Umgebung, an das
soziale „Milieu" gebunden. Das Bewußtsein, an erster Stelle ein Glied des
Ganzen zu sein, muß mehr Kraft und Eindringlichkeit erlangen; es muß die
altruistischen Triebe gegenüber den egoistischen stärken, die nicht schlechthin ver¬
werflich sind, die aber gewöhnlich zu sehr die Oberhand haben. Niemand fühle
sich als bloßer Privatmann, jeder vielmehr als ein öffentlicher Beamter, der
Reiche sich als „Depositär des gemeinsamen Besitzes". Die Comtesche Soziologie
ist eifrigst bemüht, die völlige Bedingtheit des Menschen durch die soziale Um¬
gebung, das „Milieu" zu zeigen. Zugleich tritt der Begriff des gesellschaft¬
lichen Durchschnitts, des mittleren Menschen, in den Vordergrund; es wird
nachgewiesen, daß die Abweichungen der Individuen, soweit meßbar, sich
innerhalb weit engerer Grenzen bewegen, als der erste Eindruck uns annehmen
läßt. „So verweilt die Aufmerksamkeit weit weniger bei der Verschiedenheit
der Individuen; und die Analyse des individuellen Seelenlebens, diese Stärke
unserer großen Dichter, weicht der Massenbeobachtung mit ihrer Statistik."
Eine solche Weltanschauung macht zur Hauptsache, was der Mensch für die
Gesamtheit leistet, nicht aber, was er im eigenen Bereiche denkt und tut. Die
Verbesserung der gesellschaftlichen Lage wird das allüberragende Ziel. „Die
Moral wird zum Wirken für die Gesellschaft, die Kunst setzt sich zur Aufgabe
die Vergegenwärtigung der gesellschaftlichen Zustände, und die Erziehung erstrebt
nicht die Entwicklung individueller Art, sondern die Hebung des gemeinsamen
Bildmigsstandes."

Überall wird so das Individuum zurückgedrängt. Dazu trieb einmal die
wirtschaftliche Entwicklung, der gegenüber alle Anstrengungen des bloßen In¬
dividuums nichtig zu sein schienen, andererseits aber auch die technische Ge¬
staltung der gesamten Kultur, welche ein straffes'Ineinandergreifen und ein
williges Sichfügen der einzelnen Kräfte zugunsten der Organisation des Ganzen
verlangt.

Wer wollte und könnte bestreiten, daß diese moderne Sozialkultur manche
schätzenswerte Leistungen aufzuweisen hat? Sie lehrt, daß wir ganz auf die
Gesellschaft angewiesen sind und von ihrem Gedeihen auch das Glück des
einzelnen abhängt. Da muß es ihr natürlich besonders wichtig erscheinen, daß
der Stand der Gesellschaft gehoben und alle in ihr vorhandene Kraft zur vollen
Wirkung gebracht wird. Das kann aber nur durch engen Zusammenschluß
geschehen. Durch diese engere Verbindung wurde jeder einzelne gehoben,
wurden reiche Quellen moralischer Gesinnung erschlossen, wurde die gegenseitige
Teilnahme gesteigert und ein Bewußtsein durchgängiger Solidarität erzeugt.
Auch hat die Forderung des Sichfügens und des Sicheinordnens des einzelnen
in die Gesamtorganisation mehr Disziplin und dadurch mehr Kraft und Mann¬
haftigkeit in das Leben gebracht. Das alles sind ganz unverkennbar Vorteile
und Vorzüge der Sozialkultur. Sie sollen voll anerkannt und bewertet werden;


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[0321] Gesellschaft und Einzelwesen in der Erziehung Stande bemißt sich auch die Art und das Wohl des individuellen Daseins; bis in seine Wünsche und Träume hinein ist jeder an seine Umgebung, an das soziale „Milieu" gebunden. Das Bewußtsein, an erster Stelle ein Glied des Ganzen zu sein, muß mehr Kraft und Eindringlichkeit erlangen; es muß die altruistischen Triebe gegenüber den egoistischen stärken, die nicht schlechthin ver¬ werflich sind, die aber gewöhnlich zu sehr die Oberhand haben. Niemand fühle sich als bloßer Privatmann, jeder vielmehr als ein öffentlicher Beamter, der Reiche sich als „Depositär des gemeinsamen Besitzes". Die Comtesche Soziologie ist eifrigst bemüht, die völlige Bedingtheit des Menschen durch die soziale Um¬ gebung, das „Milieu" zu zeigen. Zugleich tritt der Begriff des gesellschaft¬ lichen Durchschnitts, des mittleren Menschen, in den Vordergrund; es wird nachgewiesen, daß die Abweichungen der Individuen, soweit meßbar, sich innerhalb weit engerer Grenzen bewegen, als der erste Eindruck uns annehmen läßt. „So verweilt die Aufmerksamkeit weit weniger bei der Verschiedenheit der Individuen; und die Analyse des individuellen Seelenlebens, diese Stärke unserer großen Dichter, weicht der Massenbeobachtung mit ihrer Statistik." Eine solche Weltanschauung macht zur Hauptsache, was der Mensch für die Gesamtheit leistet, nicht aber, was er im eigenen Bereiche denkt und tut. Die Verbesserung der gesellschaftlichen Lage wird das allüberragende Ziel. „Die Moral wird zum Wirken für die Gesellschaft, die Kunst setzt sich zur Aufgabe die Vergegenwärtigung der gesellschaftlichen Zustände, und die Erziehung erstrebt nicht die Entwicklung individueller Art, sondern die Hebung des gemeinsamen Bildmigsstandes." Überall wird so das Individuum zurückgedrängt. Dazu trieb einmal die wirtschaftliche Entwicklung, der gegenüber alle Anstrengungen des bloßen In¬ dividuums nichtig zu sein schienen, andererseits aber auch die technische Ge¬ staltung der gesamten Kultur, welche ein straffes'Ineinandergreifen und ein williges Sichfügen der einzelnen Kräfte zugunsten der Organisation des Ganzen verlangt. Wer wollte und könnte bestreiten, daß diese moderne Sozialkultur manche schätzenswerte Leistungen aufzuweisen hat? Sie lehrt, daß wir ganz auf die Gesellschaft angewiesen sind und von ihrem Gedeihen auch das Glück des einzelnen abhängt. Da muß es ihr natürlich besonders wichtig erscheinen, daß der Stand der Gesellschaft gehoben und alle in ihr vorhandene Kraft zur vollen Wirkung gebracht wird. Das kann aber nur durch engen Zusammenschluß geschehen. Durch diese engere Verbindung wurde jeder einzelne gehoben, wurden reiche Quellen moralischer Gesinnung erschlossen, wurde die gegenseitige Teilnahme gesteigert und ein Bewußtsein durchgängiger Solidarität erzeugt. Auch hat die Forderung des Sichfügens und des Sicheinordnens des einzelnen in die Gesamtorganisation mehr Disziplin und dadurch mehr Kraft und Mann¬ haftigkeit in das Leben gebracht. Das alles sind ganz unverkennbar Vorteile und Vorzüge der Sozialkultur. Sie sollen voll anerkannt und bewertet werden;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/321>, abgerufen am 23.07.2024.