Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutsche Schutzgebiete in Europa

Widerspruch mit dem Schutze der kleinen Völker, weil diese eben nicht im deutschen
Nationalstaate aufgehen sollen.

Zunächst wird jene russische Zunge verschwinden, die sich zwischen Preußen
und Galizien nach Posen vorstreckte. Die gemeinsame Eroberung von Kongreß-
Polen durch Deutschland und Osterreich brachte es mit sich, daß die polnische
Frage nicht von Deutschland allein gelöst werden konnte. Angesichts der voll¬
zogenen Tatsache ist es müßig zu erörtern, ob die Errichtung des Königreichs
Polen die beste Lösung war. Jedenfalls war sie besser als die von Österreich
gewünschte Angliederung von Kongreß-Polen an Galizien, wodurch Deutschland
von Eydtkuhnen bis Lindau an Osterreich gegrenzt, und dieses Schlesien völlig
umklammert hätte. Doch zwei Vorbehalte müssen dabei gemacht werden, ein
geographischer und ein sachlicher.

Noch ist die Grenze des neuen Polenstaates nach Osten nicht bestiMMt.
Die Polen schwelgen dabei schon in überschwenglichen Hoffnungen, sprechen von
Warschau und Wilna als den zwei Städten, die jedem polnischen Herzen teuer
find, und von den Ländern, die nach Polen gravitieren, d. h. nach denen Polen
seine Hand ausstreckt. Davon kann keine Rede sein. Der polnischen Nationalität
wird ihre staatliche Selbständigkeit zurückgegeben, aber nicht um wie im alten
Polenreiche über andere Nationalitäten zu herrschen und sie zu unterdrücken.
Die östliche Grenze des Polenstaates wird daher nicht weiter gehen können als
die der polnischen Nationalität, d. h. ungefähr bis zu einer Linie, die Lyck und
Lemberg verbindet.

Politisch ist der neue Polenstaat eine Schöpfung Deutschlands und
Österreichs, muß also auch unter deren Einflüsse bleiben. Dankbarkeit ist eine
schöne Tugend, auf die man leider in der Politik nicht rechnen kann, am
wenigsten nach den schon gemachten Erfahrungen bei den Polen. Ein selbst¬
ständiger Polenstaat wird wirtschaftlich und politisch die Neigung haben, sich an
Rußland anzuschließen, und zwar um so mehr, je weiter seine Grenzen nach
Osten ausgedehnt werden, und er von Rußland nichts mehr zu erwerben
hat-- wirtschaftlich, weil die entwickelte polnische Industrie in Rußland ihr
Absatzgebiet hat, politisch, weil nur im Anschlusse an Rußland die Befreiung
der preußischen und österreichischen Polen und ihre Vereinigung mit dem König¬
reiche möglich ist. Ein selbständiges Polen müßte für Rußland sofort das
werden, was Belgien für England und Frankreich war. Gegen die Gefahr,
daß ein künftiger Krieg wieder mit der Überflutung Ostpreußens und mit dem
Kampfe um die Weichsel- und Narewfestungm beginnt, bedarf es realer Sicher¬
heiten. Diese Festungen dürfen also nicht dem neuen polnischen Heer über¬
antwortet werden, sondern müssen von Deutschland und Österreich besetzt bleiben.
Diesen steht auch als Schutzmächten die Vertretung des Landes nach außen zu.

Damit ergibt sich für Polen ganz naturgemäß die Stellung eines gemeinsam
deutsch-österreichischen Schutzstaates mit eigener staatsrechtlicher Persönlichkeit, aber
unter dem politischen und militärischen Schutze der beiden Mächte, deren maß^


Deutsche Schutzgebiete in Europa

Widerspruch mit dem Schutze der kleinen Völker, weil diese eben nicht im deutschen
Nationalstaate aufgehen sollen.

Zunächst wird jene russische Zunge verschwinden, die sich zwischen Preußen
und Galizien nach Posen vorstreckte. Die gemeinsame Eroberung von Kongreß-
Polen durch Deutschland und Osterreich brachte es mit sich, daß die polnische
Frage nicht von Deutschland allein gelöst werden konnte. Angesichts der voll¬
zogenen Tatsache ist es müßig zu erörtern, ob die Errichtung des Königreichs
Polen die beste Lösung war. Jedenfalls war sie besser als die von Österreich
gewünschte Angliederung von Kongreß-Polen an Galizien, wodurch Deutschland
von Eydtkuhnen bis Lindau an Osterreich gegrenzt, und dieses Schlesien völlig
umklammert hätte. Doch zwei Vorbehalte müssen dabei gemacht werden, ein
geographischer und ein sachlicher.

Noch ist die Grenze des neuen Polenstaates nach Osten nicht bestiMMt.
Die Polen schwelgen dabei schon in überschwenglichen Hoffnungen, sprechen von
Warschau und Wilna als den zwei Städten, die jedem polnischen Herzen teuer
find, und von den Ländern, die nach Polen gravitieren, d. h. nach denen Polen
seine Hand ausstreckt. Davon kann keine Rede sein. Der polnischen Nationalität
wird ihre staatliche Selbständigkeit zurückgegeben, aber nicht um wie im alten
Polenreiche über andere Nationalitäten zu herrschen und sie zu unterdrücken.
Die östliche Grenze des Polenstaates wird daher nicht weiter gehen können als
die der polnischen Nationalität, d. h. ungefähr bis zu einer Linie, die Lyck und
Lemberg verbindet.

Politisch ist der neue Polenstaat eine Schöpfung Deutschlands und
Österreichs, muß also auch unter deren Einflüsse bleiben. Dankbarkeit ist eine
schöne Tugend, auf die man leider in der Politik nicht rechnen kann, am
wenigsten nach den schon gemachten Erfahrungen bei den Polen. Ein selbst¬
ständiger Polenstaat wird wirtschaftlich und politisch die Neigung haben, sich an
Rußland anzuschließen, und zwar um so mehr, je weiter seine Grenzen nach
Osten ausgedehnt werden, und er von Rußland nichts mehr zu erwerben
hat— wirtschaftlich, weil die entwickelte polnische Industrie in Rußland ihr
Absatzgebiet hat, politisch, weil nur im Anschlusse an Rußland die Befreiung
der preußischen und österreichischen Polen und ihre Vereinigung mit dem König¬
reiche möglich ist. Ein selbständiges Polen müßte für Rußland sofort das
werden, was Belgien für England und Frankreich war. Gegen die Gefahr,
daß ein künftiger Krieg wieder mit der Überflutung Ostpreußens und mit dem
Kampfe um die Weichsel- und Narewfestungm beginnt, bedarf es realer Sicher¬
heiten. Diese Festungen dürfen also nicht dem neuen polnischen Heer über¬
antwortet werden, sondern müssen von Deutschland und Österreich besetzt bleiben.
Diesen steht auch als Schutzmächten die Vertretung des Landes nach außen zu.

Damit ergibt sich für Polen ganz naturgemäß die Stellung eines gemeinsam
deutsch-österreichischen Schutzstaates mit eigener staatsrechtlicher Persönlichkeit, aber
unter dem politischen und militärischen Schutze der beiden Mächte, deren maß^


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0304" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331712"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutsche Schutzgebiete in Europa</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_960" prev="#ID_959"> Widerspruch mit dem Schutze der kleinen Völker, weil diese eben nicht im deutschen<lb/>
Nationalstaate aufgehen sollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_961"> Zunächst wird jene russische Zunge verschwinden, die sich zwischen Preußen<lb/>
und Galizien nach Posen vorstreckte. Die gemeinsame Eroberung von Kongreß-<lb/>
Polen durch Deutschland und Osterreich brachte es mit sich, daß die polnische<lb/>
Frage nicht von Deutschland allein gelöst werden konnte. Angesichts der voll¬<lb/>
zogenen Tatsache ist es müßig zu erörtern, ob die Errichtung des Königreichs<lb/>
Polen die beste Lösung war. Jedenfalls war sie besser als die von Österreich<lb/>
gewünschte Angliederung von Kongreß-Polen an Galizien, wodurch Deutschland<lb/>
von Eydtkuhnen bis Lindau an Osterreich gegrenzt, und dieses Schlesien völlig<lb/>
umklammert hätte. Doch zwei Vorbehalte müssen dabei gemacht werden, ein<lb/>
geographischer und ein sachlicher.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_962"> Noch ist die Grenze des neuen Polenstaates nach Osten nicht bestiMMt.<lb/>
Die Polen schwelgen dabei schon in überschwenglichen Hoffnungen, sprechen von<lb/>
Warschau und Wilna als den zwei Städten, die jedem polnischen Herzen teuer<lb/>
find, und von den Ländern, die nach Polen gravitieren, d. h. nach denen Polen<lb/>
seine Hand ausstreckt. Davon kann keine Rede sein. Der polnischen Nationalität<lb/>
wird ihre staatliche Selbständigkeit zurückgegeben, aber nicht um wie im alten<lb/>
Polenreiche über andere Nationalitäten zu herrschen und sie zu unterdrücken.<lb/>
Die östliche Grenze des Polenstaates wird daher nicht weiter gehen können als<lb/>
die der polnischen Nationalität, d. h. ungefähr bis zu einer Linie, die Lyck und<lb/>
Lemberg verbindet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_963"> Politisch ist der neue Polenstaat eine Schöpfung Deutschlands und<lb/>
Österreichs, muß also auch unter deren Einflüsse bleiben. Dankbarkeit ist eine<lb/>
schöne Tugend, auf die man leider in der Politik nicht rechnen kann, am<lb/>
wenigsten nach den schon gemachten Erfahrungen bei den Polen. Ein selbst¬<lb/>
ständiger Polenstaat wird wirtschaftlich und politisch die Neigung haben, sich an<lb/>
Rußland anzuschließen, und zwar um so mehr, je weiter seine Grenzen nach<lb/>
Osten ausgedehnt werden, und er von Rußland nichts mehr zu erwerben<lb/>
hat&#x2014; wirtschaftlich, weil die entwickelte polnische Industrie in Rußland ihr<lb/>
Absatzgebiet hat, politisch, weil nur im Anschlusse an Rußland die Befreiung<lb/>
der preußischen und österreichischen Polen und ihre Vereinigung mit dem König¬<lb/>
reiche möglich ist. Ein selbständiges Polen müßte für Rußland sofort das<lb/>
werden, was Belgien für England und Frankreich war. Gegen die Gefahr,<lb/>
daß ein künftiger Krieg wieder mit der Überflutung Ostpreußens und mit dem<lb/>
Kampfe um die Weichsel- und Narewfestungm beginnt, bedarf es realer Sicher¬<lb/>
heiten. Diese Festungen dürfen also nicht dem neuen polnischen Heer über¬<lb/>
antwortet werden, sondern müssen von Deutschland und Österreich besetzt bleiben.<lb/>
Diesen steht auch als Schutzmächten die Vertretung des Landes nach außen zu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_964" next="#ID_965"> Damit ergibt sich für Polen ganz naturgemäß die Stellung eines gemeinsam<lb/>
deutsch-österreichischen Schutzstaates mit eigener staatsrechtlicher Persönlichkeit, aber<lb/>
unter dem politischen und militärischen Schutze der beiden Mächte, deren maß^</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0304] Deutsche Schutzgebiete in Europa Widerspruch mit dem Schutze der kleinen Völker, weil diese eben nicht im deutschen Nationalstaate aufgehen sollen. Zunächst wird jene russische Zunge verschwinden, die sich zwischen Preußen und Galizien nach Posen vorstreckte. Die gemeinsame Eroberung von Kongreß- Polen durch Deutschland und Osterreich brachte es mit sich, daß die polnische Frage nicht von Deutschland allein gelöst werden konnte. Angesichts der voll¬ zogenen Tatsache ist es müßig zu erörtern, ob die Errichtung des Königreichs Polen die beste Lösung war. Jedenfalls war sie besser als die von Österreich gewünschte Angliederung von Kongreß-Polen an Galizien, wodurch Deutschland von Eydtkuhnen bis Lindau an Osterreich gegrenzt, und dieses Schlesien völlig umklammert hätte. Doch zwei Vorbehalte müssen dabei gemacht werden, ein geographischer und ein sachlicher. Noch ist die Grenze des neuen Polenstaates nach Osten nicht bestiMMt. Die Polen schwelgen dabei schon in überschwenglichen Hoffnungen, sprechen von Warschau und Wilna als den zwei Städten, die jedem polnischen Herzen teuer find, und von den Ländern, die nach Polen gravitieren, d. h. nach denen Polen seine Hand ausstreckt. Davon kann keine Rede sein. Der polnischen Nationalität wird ihre staatliche Selbständigkeit zurückgegeben, aber nicht um wie im alten Polenreiche über andere Nationalitäten zu herrschen und sie zu unterdrücken. Die östliche Grenze des Polenstaates wird daher nicht weiter gehen können als die der polnischen Nationalität, d. h. ungefähr bis zu einer Linie, die Lyck und Lemberg verbindet. Politisch ist der neue Polenstaat eine Schöpfung Deutschlands und Österreichs, muß also auch unter deren Einflüsse bleiben. Dankbarkeit ist eine schöne Tugend, auf die man leider in der Politik nicht rechnen kann, am wenigsten nach den schon gemachten Erfahrungen bei den Polen. Ein selbst¬ ständiger Polenstaat wird wirtschaftlich und politisch die Neigung haben, sich an Rußland anzuschließen, und zwar um so mehr, je weiter seine Grenzen nach Osten ausgedehnt werden, und er von Rußland nichts mehr zu erwerben hat— wirtschaftlich, weil die entwickelte polnische Industrie in Rußland ihr Absatzgebiet hat, politisch, weil nur im Anschlusse an Rußland die Befreiung der preußischen und österreichischen Polen und ihre Vereinigung mit dem König¬ reiche möglich ist. Ein selbständiges Polen müßte für Rußland sofort das werden, was Belgien für England und Frankreich war. Gegen die Gefahr, daß ein künftiger Krieg wieder mit der Überflutung Ostpreußens und mit dem Kampfe um die Weichsel- und Narewfestungm beginnt, bedarf es realer Sicher¬ heiten. Diese Festungen dürfen also nicht dem neuen polnischen Heer über¬ antwortet werden, sondern müssen von Deutschland und Österreich besetzt bleiben. Diesen steht auch als Schutzmächten die Vertretung des Landes nach außen zu. Damit ergibt sich für Polen ganz naturgemäß die Stellung eines gemeinsam deutsch-österreichischen Schutzstaates mit eigener staatsrechtlicher Persönlichkeit, aber unter dem politischen und militärischen Schutze der beiden Mächte, deren maß^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/304
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/304>, abgerufen am 23.07.2024.