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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Zum Uamxfe um das Bildungsideal

deutsche Dichtung, die unmittelbar unter der Einwirkung des siebenjährigen
Krieges stand, mit Ausnahme von Lessings "Minna von Barnhelm" nicht eben
von bleibendem, künstlerischem Werte -- aus die Dauer konnte die Summe der
Lebensarbeit des großen Königs seinem Volke nicht verloren gehen. Und auch
die formale Hinneigung der klassischen Dichtung zum Altertum konnte daran
nicht viel ändern: wie Goethes "Iphigenie" trotz des "antiken", in Wahrheit
gleich allem sagenhaften allgemein menschlichen Stoffes, ihrem innersten Gehalt
nach grunddeutsch, d. h. künstlerischer Ausdruck des innersten Lebens der neu¬
gewonnenen und in jenen Tagen so überaus kräftig sich gebährenden deutschen
Kultureinheit ist, so hat auch das politische Bewußtsein, das uns schließlich von
der Kulturnation zur Staatsnation führen sollte, gerade bei den großen Führern
der ganzen Bewegung den reichsten Widerhall gefunden. Goethe freilich stand
der Erhebung gegen Napoleon innerlich fern, aber den heimkehrenden Kriegern
rief er im "Epimenides" zu:

Kräftiger aber hatte sich Schiller unter dem Einfluß der Napoleonischen
Kriege von der Not des Vaterlandes rühren lassen und seit dem Frieden von
Luneville wieder und wieder mit mächtiger Hand vaterländische Töne angeschlagen,
die den tiefsten Widerhall im Volke weckten. Niemand hat sie kräftiger auf¬
genommen, als Heinrich vonKleist, der sich von verbissenem Künstlerindividualismus
durch schmerzhafte Erfahrungen zum Vertreter des vaterländischen Gedankens in
seiner höchsten Form, ja zum entschlossenen Verfechter des preußischen Staats¬
bürgertums in reinster Ausprägung durchgerungen hatte. Wir dürfen aber
von hier aus um einen Schritt weitergehen: Kleist hat das große Problem
"Der Einzelne und die Gesamtheit" und die Grundlinien zu seiner Lösung, die
freilich immer von neuem innerlich erlebt werden wollten, an die deutsche Dichtung
des neunzehnten Jahrhunderts weitergegeben; und so spielen, um nur eines
zu erwähnen, die schweren politischen Kämpfe des Jahrhunderts, das Sehnen
nach völkischer Einheit und Größe, nach einem Ausgleich zwischen den Forderungen
des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft immer wieder in das Drama
dieses Zeitabschnittes hinein. Ich denke da nicht sowohl an die politischen
Bühnenwerke im engeren Sinne, etwa an gewisse Erzeugnisse der jungdeutschen
Schule, die unmittelbar oder unter sehr durchsichtiger Hülle öffentliche Tages¬
fragen in einseitigem Parteisinne "behandeln" wollten. Ich möchte vielmehr
an einen Grillparzer erinnern, dessen innige Hingabe an Volk und Staat
durch andauernde Zurücksetzung, wohl auch durch die Folgen eigener Mißgriffe
auf die härteste Probe gestellt wurde und der doch in seinen Dramen diese
Hingabe in immer wechselnden und in immer reineren Formen aus innerstem
Erleben heraus gestaltet hat -- am schönsten wohl in der Gestalt seines Rudolf


Zum Uamxfe um das Bildungsideal

deutsche Dichtung, die unmittelbar unter der Einwirkung des siebenjährigen
Krieges stand, mit Ausnahme von Lessings „Minna von Barnhelm" nicht eben
von bleibendem, künstlerischem Werte — aus die Dauer konnte die Summe der
Lebensarbeit des großen Königs seinem Volke nicht verloren gehen. Und auch
die formale Hinneigung der klassischen Dichtung zum Altertum konnte daran
nicht viel ändern: wie Goethes „Iphigenie" trotz des „antiken", in Wahrheit
gleich allem sagenhaften allgemein menschlichen Stoffes, ihrem innersten Gehalt
nach grunddeutsch, d. h. künstlerischer Ausdruck des innersten Lebens der neu¬
gewonnenen und in jenen Tagen so überaus kräftig sich gebährenden deutschen
Kultureinheit ist, so hat auch das politische Bewußtsein, das uns schließlich von
der Kulturnation zur Staatsnation führen sollte, gerade bei den großen Führern
der ganzen Bewegung den reichsten Widerhall gefunden. Goethe freilich stand
der Erhebung gegen Napoleon innerlich fern, aber den heimkehrenden Kriegern
rief er im „Epimenides" zu:

Kräftiger aber hatte sich Schiller unter dem Einfluß der Napoleonischen
Kriege von der Not des Vaterlandes rühren lassen und seit dem Frieden von
Luneville wieder und wieder mit mächtiger Hand vaterländische Töne angeschlagen,
die den tiefsten Widerhall im Volke weckten. Niemand hat sie kräftiger auf¬
genommen, als Heinrich vonKleist, der sich von verbissenem Künstlerindividualismus
durch schmerzhafte Erfahrungen zum Vertreter des vaterländischen Gedankens in
seiner höchsten Form, ja zum entschlossenen Verfechter des preußischen Staats¬
bürgertums in reinster Ausprägung durchgerungen hatte. Wir dürfen aber
von hier aus um einen Schritt weitergehen: Kleist hat das große Problem
„Der Einzelne und die Gesamtheit" und die Grundlinien zu seiner Lösung, die
freilich immer von neuem innerlich erlebt werden wollten, an die deutsche Dichtung
des neunzehnten Jahrhunderts weitergegeben; und so spielen, um nur eines
zu erwähnen, die schweren politischen Kämpfe des Jahrhunderts, das Sehnen
nach völkischer Einheit und Größe, nach einem Ausgleich zwischen den Forderungen
des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft immer wieder in das Drama
dieses Zeitabschnittes hinein. Ich denke da nicht sowohl an die politischen
Bühnenwerke im engeren Sinne, etwa an gewisse Erzeugnisse der jungdeutschen
Schule, die unmittelbar oder unter sehr durchsichtiger Hülle öffentliche Tages¬
fragen in einseitigem Parteisinne „behandeln" wollten. Ich möchte vielmehr
an einen Grillparzer erinnern, dessen innige Hingabe an Volk und Staat
durch andauernde Zurücksetzung, wohl auch durch die Folgen eigener Mißgriffe
auf die härteste Probe gestellt wurde und der doch in seinen Dramen diese
Hingabe in immer wechselnden und in immer reineren Formen aus innerstem
Erleben heraus gestaltet hat — am schönsten wohl in der Gestalt seines Rudolf


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[0025] Zum Uamxfe um das Bildungsideal deutsche Dichtung, die unmittelbar unter der Einwirkung des siebenjährigen Krieges stand, mit Ausnahme von Lessings „Minna von Barnhelm" nicht eben von bleibendem, künstlerischem Werte — aus die Dauer konnte die Summe der Lebensarbeit des großen Königs seinem Volke nicht verloren gehen. Und auch die formale Hinneigung der klassischen Dichtung zum Altertum konnte daran nicht viel ändern: wie Goethes „Iphigenie" trotz des „antiken", in Wahrheit gleich allem sagenhaften allgemein menschlichen Stoffes, ihrem innersten Gehalt nach grunddeutsch, d. h. künstlerischer Ausdruck des innersten Lebens der neu¬ gewonnenen und in jenen Tagen so überaus kräftig sich gebährenden deutschen Kultureinheit ist, so hat auch das politische Bewußtsein, das uns schließlich von der Kulturnation zur Staatsnation führen sollte, gerade bei den großen Führern der ganzen Bewegung den reichsten Widerhall gefunden. Goethe freilich stand der Erhebung gegen Napoleon innerlich fern, aber den heimkehrenden Kriegern rief er im „Epimenides" zu: Kräftiger aber hatte sich Schiller unter dem Einfluß der Napoleonischen Kriege von der Not des Vaterlandes rühren lassen und seit dem Frieden von Luneville wieder und wieder mit mächtiger Hand vaterländische Töne angeschlagen, die den tiefsten Widerhall im Volke weckten. Niemand hat sie kräftiger auf¬ genommen, als Heinrich vonKleist, der sich von verbissenem Künstlerindividualismus durch schmerzhafte Erfahrungen zum Vertreter des vaterländischen Gedankens in seiner höchsten Form, ja zum entschlossenen Verfechter des preußischen Staats¬ bürgertums in reinster Ausprägung durchgerungen hatte. Wir dürfen aber von hier aus um einen Schritt weitergehen: Kleist hat das große Problem „Der Einzelne und die Gesamtheit" und die Grundlinien zu seiner Lösung, die freilich immer von neuem innerlich erlebt werden wollten, an die deutsche Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts weitergegeben; und so spielen, um nur eines zu erwähnen, die schweren politischen Kämpfe des Jahrhunderts, das Sehnen nach völkischer Einheit und Größe, nach einem Ausgleich zwischen den Forderungen des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft immer wieder in das Drama dieses Zeitabschnittes hinein. Ich denke da nicht sowohl an die politischen Bühnenwerke im engeren Sinne, etwa an gewisse Erzeugnisse der jungdeutschen Schule, die unmittelbar oder unter sehr durchsichtiger Hülle öffentliche Tages¬ fragen in einseitigem Parteisinne „behandeln" wollten. Ich möchte vielmehr an einen Grillparzer erinnern, dessen innige Hingabe an Volk und Staat durch andauernde Zurücksetzung, wohl auch durch die Folgen eigener Mißgriffe auf die härteste Probe gestellt wurde und der doch in seinen Dramen diese Hingabe in immer wechselnden und in immer reineren Formen aus innerstem Erleben heraus gestaltet hat — am schönsten wohl in der Gestalt seines Rudolf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/25>, abgerufen am 23.07.2024.