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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Die Welt der Phänomene und der Fiktionen

Zweite Auffassung. Wenn ich von dem "wirklichen" grünen Baum rede,
so kann ich damit vernünftigerweise nichts anderes meinen, als den grünen
Baum, den ich wahrnehme. Der Baum, den ich wahrnehme, existiert aber
lediglich in seinem Vorhandensein in meinem Bewußtsein -- in seinem "Wahr¬
genommenwerden", wie Berkeley sagte. Also existiert der "wirkliche" grüne
Baum nur in seinem Vorhandensein in meinem Bewußtsein, in seinem Wahr¬
genommenwerden. Seine Wirklichkeit ist eine von meinem Bewußtsein, speziell
meinem Wahrnehmen abhängige, eine ideale Wirklichkeit. Ich bezeichne die
Auffassung, daß alle Wirklichkeit ideale Wirklichkeit sei, als (extremen) Idealismus.

Da die Wirklichkeit sich von mir und meinem Bewußtsein abhängig erweist,
so muß auch die Wahrheit meiner Erkenntnisse von dieser Wirklichkeit von mir,
dem erkennenden Subjekte, irgendwie abhängig sein. Ob mein Urteil: dieser
Baum ist grün -- wahr oder falsch ist, hängt lediglich von mir ab und von
den subjektiven Erkenntnisbedwgnngen, unter denen ich stehe. Die Wahrheit
meines Urteils hat nur subjektive Geltung. Meinem Idealismus im Wirklich¬
keitsproblem entspricht mein Subjektivismus im Wahrheitsproblem.

Eine dritte, moderne Auffassung kritisiert die beiden traditionellen ersten.
Sie sagt: Realismus-Objektivismus und Idealismus-Subjektivismus greifen
die in Frage kommenden Probleme viel zu plump an und gehen nicht in die
Tiefe. Es genügt nicht, zwischen dem wirklichen Baum einerseits und meinem
Baumwahrnehmen, Baumerkennen andererseits zu unterscheiden. Die Tatsache,
daß mein Baumwahrnehmen eben ein Baum wahrnehmen ist und sich insofern
vom Stuhlwahrnehmen, Bergwahrnehmen usw. unterscheidet, die Tatsache also,
daß mein Wahrnehmen (und mein Erkennen überhaupt) einen bestimmten
Inhalt hat, nötigt mich, neben wirklichem Baum und Baumwahrnehmen noch
ein drittes anzunehmen. Nämlich jenen Inhalt. Der Baum, so wie er Inhalt
meines Bewußtseins ist, so wie er von mir wahrgenommen wird, so wie er
mir "erscheint", ist etwas anderes als der realwirkliche Baum. Ich muß
zwischen die Welt der real-wirklichen Dinge und die Welt meiner Erlebnisse,
meiner Bewußtseinsfunktionen (Wahrnehmens, Erkennens usw.) noch gleichsam
eine Zwischenwelt schieben: die Welt der Erscheinungen, der Phänomene.

Damit habe ich die grundlegende Überlegung einer Auffassung grob
skizziert, die in der Gegenwart -- in immer anderen und anderen Wendungen --
eine wachsende Schar von Anhängern gefunden hat. Ich will sie den Phäno¬
menalismus nennen, wobei ich mir bewußt bin, einen vieldeutigen Ausdruck,
den viele in anderem Sinne verwenden, so wie es eben mir paßt, verwendet
zu haben. Der in diesem Sinne verstandene Phänomenalismus kann als eine
Auffassung des Wirklichkeitsproblems angesehen werden, die weder Realismus
noch Idealismus ist. Was entspricht ihm im Wahrheitsproblem? Hier kann
es kein Zwischending zwischen Objektivismus und Subjektivismus geben. Eine
Wahrheit, die weder vom erkennenden Subjekt noch vom erkannten Objekt
bestimmt werde, weder von diesem noch von jenem abhänge, also weder sub-


Die Welt der Phänomene und der Fiktionen

Zweite Auffassung. Wenn ich von dem „wirklichen" grünen Baum rede,
so kann ich damit vernünftigerweise nichts anderes meinen, als den grünen
Baum, den ich wahrnehme. Der Baum, den ich wahrnehme, existiert aber
lediglich in seinem Vorhandensein in meinem Bewußtsein — in seinem „Wahr¬
genommenwerden", wie Berkeley sagte. Also existiert der „wirkliche" grüne
Baum nur in seinem Vorhandensein in meinem Bewußtsein, in seinem Wahr¬
genommenwerden. Seine Wirklichkeit ist eine von meinem Bewußtsein, speziell
meinem Wahrnehmen abhängige, eine ideale Wirklichkeit. Ich bezeichne die
Auffassung, daß alle Wirklichkeit ideale Wirklichkeit sei, als (extremen) Idealismus.

Da die Wirklichkeit sich von mir und meinem Bewußtsein abhängig erweist,
so muß auch die Wahrheit meiner Erkenntnisse von dieser Wirklichkeit von mir,
dem erkennenden Subjekte, irgendwie abhängig sein. Ob mein Urteil: dieser
Baum ist grün — wahr oder falsch ist, hängt lediglich von mir ab und von
den subjektiven Erkenntnisbedwgnngen, unter denen ich stehe. Die Wahrheit
meines Urteils hat nur subjektive Geltung. Meinem Idealismus im Wirklich¬
keitsproblem entspricht mein Subjektivismus im Wahrheitsproblem.

Eine dritte, moderne Auffassung kritisiert die beiden traditionellen ersten.
Sie sagt: Realismus-Objektivismus und Idealismus-Subjektivismus greifen
die in Frage kommenden Probleme viel zu plump an und gehen nicht in die
Tiefe. Es genügt nicht, zwischen dem wirklichen Baum einerseits und meinem
Baumwahrnehmen, Baumerkennen andererseits zu unterscheiden. Die Tatsache,
daß mein Baumwahrnehmen eben ein Baum wahrnehmen ist und sich insofern
vom Stuhlwahrnehmen, Bergwahrnehmen usw. unterscheidet, die Tatsache also,
daß mein Wahrnehmen (und mein Erkennen überhaupt) einen bestimmten
Inhalt hat, nötigt mich, neben wirklichem Baum und Baumwahrnehmen noch
ein drittes anzunehmen. Nämlich jenen Inhalt. Der Baum, so wie er Inhalt
meines Bewußtseins ist, so wie er von mir wahrgenommen wird, so wie er
mir „erscheint", ist etwas anderes als der realwirkliche Baum. Ich muß
zwischen die Welt der real-wirklichen Dinge und die Welt meiner Erlebnisse,
meiner Bewußtseinsfunktionen (Wahrnehmens, Erkennens usw.) noch gleichsam
eine Zwischenwelt schieben: die Welt der Erscheinungen, der Phänomene.

Damit habe ich die grundlegende Überlegung einer Auffassung grob
skizziert, die in der Gegenwart — in immer anderen und anderen Wendungen —
eine wachsende Schar von Anhängern gefunden hat. Ich will sie den Phäno¬
menalismus nennen, wobei ich mir bewußt bin, einen vieldeutigen Ausdruck,
den viele in anderem Sinne verwenden, so wie es eben mir paßt, verwendet
zu haben. Der in diesem Sinne verstandene Phänomenalismus kann als eine
Auffassung des Wirklichkeitsproblems angesehen werden, die weder Realismus
noch Idealismus ist. Was entspricht ihm im Wahrheitsproblem? Hier kann
es kein Zwischending zwischen Objektivismus und Subjektivismus geben. Eine
Wahrheit, die weder vom erkennenden Subjekt noch vom erkannten Objekt
bestimmt werde, weder von diesem noch von jenem abhänge, also weder sub-


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[0325] Die Welt der Phänomene und der Fiktionen Zweite Auffassung. Wenn ich von dem „wirklichen" grünen Baum rede, so kann ich damit vernünftigerweise nichts anderes meinen, als den grünen Baum, den ich wahrnehme. Der Baum, den ich wahrnehme, existiert aber lediglich in seinem Vorhandensein in meinem Bewußtsein — in seinem „Wahr¬ genommenwerden", wie Berkeley sagte. Also existiert der „wirkliche" grüne Baum nur in seinem Vorhandensein in meinem Bewußtsein, in seinem Wahr¬ genommenwerden. Seine Wirklichkeit ist eine von meinem Bewußtsein, speziell meinem Wahrnehmen abhängige, eine ideale Wirklichkeit. Ich bezeichne die Auffassung, daß alle Wirklichkeit ideale Wirklichkeit sei, als (extremen) Idealismus. Da die Wirklichkeit sich von mir und meinem Bewußtsein abhängig erweist, so muß auch die Wahrheit meiner Erkenntnisse von dieser Wirklichkeit von mir, dem erkennenden Subjekte, irgendwie abhängig sein. Ob mein Urteil: dieser Baum ist grün — wahr oder falsch ist, hängt lediglich von mir ab und von den subjektiven Erkenntnisbedwgnngen, unter denen ich stehe. Die Wahrheit meines Urteils hat nur subjektive Geltung. Meinem Idealismus im Wirklich¬ keitsproblem entspricht mein Subjektivismus im Wahrheitsproblem. Eine dritte, moderne Auffassung kritisiert die beiden traditionellen ersten. Sie sagt: Realismus-Objektivismus und Idealismus-Subjektivismus greifen die in Frage kommenden Probleme viel zu plump an und gehen nicht in die Tiefe. Es genügt nicht, zwischen dem wirklichen Baum einerseits und meinem Baumwahrnehmen, Baumerkennen andererseits zu unterscheiden. Die Tatsache, daß mein Baumwahrnehmen eben ein Baum wahrnehmen ist und sich insofern vom Stuhlwahrnehmen, Bergwahrnehmen usw. unterscheidet, die Tatsache also, daß mein Wahrnehmen (und mein Erkennen überhaupt) einen bestimmten Inhalt hat, nötigt mich, neben wirklichem Baum und Baumwahrnehmen noch ein drittes anzunehmen. Nämlich jenen Inhalt. Der Baum, so wie er Inhalt meines Bewußtseins ist, so wie er von mir wahrgenommen wird, so wie er mir „erscheint", ist etwas anderes als der realwirkliche Baum. Ich muß zwischen die Welt der real-wirklichen Dinge und die Welt meiner Erlebnisse, meiner Bewußtseinsfunktionen (Wahrnehmens, Erkennens usw.) noch gleichsam eine Zwischenwelt schieben: die Welt der Erscheinungen, der Phänomene. Damit habe ich die grundlegende Überlegung einer Auffassung grob skizziert, die in der Gegenwart — in immer anderen und anderen Wendungen — eine wachsende Schar von Anhängern gefunden hat. Ich will sie den Phäno¬ menalismus nennen, wobei ich mir bewußt bin, einen vieldeutigen Ausdruck, den viele in anderem Sinne verwenden, so wie es eben mir paßt, verwendet zu haben. Der in diesem Sinne verstandene Phänomenalismus kann als eine Auffassung des Wirklichkeitsproblems angesehen werden, die weder Realismus noch Idealismus ist. Was entspricht ihm im Wahrheitsproblem? Hier kann es kein Zwischending zwischen Objektivismus und Subjektivismus geben. Eine Wahrheit, die weder vom erkennenden Subjekt noch vom erkannten Objekt bestimmt werde, weder von diesem noch von jenem abhänge, also weder sub-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/325>, abgerufen am 23.07.2024.