Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur ideologischen Deutung der Gegenwart

Und zwar mit jungen triebkräftigen Ideen. Was hat denn die Sozialdemokratie
in ihr Dilemma, in ihre tragikomische Ratlosigkeit während des Krieges gestürzt?
Auch ihre Gegner müssen zugeben, daß sie sich vorteilhaft vor anderen Parteien
der letzten Jahrzehnte dadurch auszeichnete, daß sie eine den Parteienkampf
vertiefende Doktrin besaß, in deren Kern durch alle Verschlackung hindurch die edlen
Erzadern hegelischer Dialektik glänzten. Nicht daß sie eine solche Doktrin besaß,
führte zu ihrer Katastrophe, sondern vielmehr der Zwiespalt, der sich zwischen
dieser und den lebenskräftigen politischen Instinkten der Partei aufgetan hatte.
Ihre Führer waren der Versuchung erlegen, diese Ideen, zur lockenden utopischen
Phrase aufgeputzt, auch dann noch agitatorisch zu verwenden, als sie selber nicht
mehr zu innerst an sie glaubten. Daher denn die Spaltung, die der Krieg
zwischen den halsstarrig reaktionären Dogmengläubigen und denen innerhalb der
Sozialdemokratie aufreißen mußte, die sich in später Stunde zum ehrlichen Be¬
kenntnis einer Entfremdung von dieser heiliggehaltenen Ideologie bekannten:
auf dem edelsten Wege sich dazu bekannten, nämlich durch die Tat, durch den
entschlossenen Einsatz der eigenen Person für die bisher steifnackig verleugneten
vaterländischen Ideale. Ludwig Franks Gestalt ist das leuchtende Symbol für
diesen Vorgang eines Triumphes der lebendigen Sozialdemokraten über die in
der Idee erstarrende Sozialdemokratie. Denn dies letztere konnte auch bei ihr nicht
ausbleiben. Wie alle Parteien hat eben auch die Sozialdemokratie an dem
Verhängnis der letzten Jahrzehnte teilgenommen, deren Posttivismus weder die
schöpferische noch auch nur die fortbildende ideologische Kraft besaß, um dem
neuen Hineinwachsen in die nationalen Aufgaben in der Idee gerecht zu werden.

Es ist ein müßiger Streit, ob eine solche der Wirklichkeit entfremdete Ideologie
das größere Übel sei oder das gänzliche Fehlen einer solchen. Wenn man
von Naumanns Schriften absieht, die doch übrigens auch mehr Programm als
eigentliche Ideologie bedeuten, fehlte auch den anderen Parteien eine weltan¬
schauliche Begründung ihres Parteiprogramms, die den letzten Jahrzehnten ent¬
sprossen wäre, so gut wie vollkommen. Während in Rußland Dostojewski und
seine Freunde der aufkommenden nationalistischen Bewegung einen hinreißenden
ideologischen Ausdruck verliehen, beschäftigte sich der deutsche Geist damit, über
den toten Hegel herzufallen, sowie den Kantianismus auf Erkenntnistheorie zu
reduzieren und die Aufklärung zurückzuinterpretieren. Politik wurde mehr und
mehr geistlos. Sie beschränkte sich auf wirtschaftliche und organisatorische
Probleme, in deren Grenzen vor allem die Bürokratie Hervorragendes leistete,
während der Parlamentarismus dem führenden Staatsmann Bismarck allerhand
Steine in den Weg warf. Vom lebendigen politischen Interesse wandten sich
die geistigsten Köpfe immer mehr ab, da ihnen das ideenlose, in Nutzhastig-
keiten verstrickte Parteigezänk intellektuell wie moralisch in gleichem Maße
widerstand.

Soll nach dem gewaltigen Aufflammen der politischen Anteilnahme unseres
ganzen Volkes nach dem Krieg wieder alles ins alte Gleis zurück? Niemand


Zur ideologischen Deutung der Gegenwart

Und zwar mit jungen triebkräftigen Ideen. Was hat denn die Sozialdemokratie
in ihr Dilemma, in ihre tragikomische Ratlosigkeit während des Krieges gestürzt?
Auch ihre Gegner müssen zugeben, daß sie sich vorteilhaft vor anderen Parteien
der letzten Jahrzehnte dadurch auszeichnete, daß sie eine den Parteienkampf
vertiefende Doktrin besaß, in deren Kern durch alle Verschlackung hindurch die edlen
Erzadern hegelischer Dialektik glänzten. Nicht daß sie eine solche Doktrin besaß,
führte zu ihrer Katastrophe, sondern vielmehr der Zwiespalt, der sich zwischen
dieser und den lebenskräftigen politischen Instinkten der Partei aufgetan hatte.
Ihre Führer waren der Versuchung erlegen, diese Ideen, zur lockenden utopischen
Phrase aufgeputzt, auch dann noch agitatorisch zu verwenden, als sie selber nicht
mehr zu innerst an sie glaubten. Daher denn die Spaltung, die der Krieg
zwischen den halsstarrig reaktionären Dogmengläubigen und denen innerhalb der
Sozialdemokratie aufreißen mußte, die sich in später Stunde zum ehrlichen Be¬
kenntnis einer Entfremdung von dieser heiliggehaltenen Ideologie bekannten:
auf dem edelsten Wege sich dazu bekannten, nämlich durch die Tat, durch den
entschlossenen Einsatz der eigenen Person für die bisher steifnackig verleugneten
vaterländischen Ideale. Ludwig Franks Gestalt ist das leuchtende Symbol für
diesen Vorgang eines Triumphes der lebendigen Sozialdemokraten über die in
der Idee erstarrende Sozialdemokratie. Denn dies letztere konnte auch bei ihr nicht
ausbleiben. Wie alle Parteien hat eben auch die Sozialdemokratie an dem
Verhängnis der letzten Jahrzehnte teilgenommen, deren Posttivismus weder die
schöpferische noch auch nur die fortbildende ideologische Kraft besaß, um dem
neuen Hineinwachsen in die nationalen Aufgaben in der Idee gerecht zu werden.

Es ist ein müßiger Streit, ob eine solche der Wirklichkeit entfremdete Ideologie
das größere Übel sei oder das gänzliche Fehlen einer solchen. Wenn man
von Naumanns Schriften absieht, die doch übrigens auch mehr Programm als
eigentliche Ideologie bedeuten, fehlte auch den anderen Parteien eine weltan¬
schauliche Begründung ihres Parteiprogramms, die den letzten Jahrzehnten ent¬
sprossen wäre, so gut wie vollkommen. Während in Rußland Dostojewski und
seine Freunde der aufkommenden nationalistischen Bewegung einen hinreißenden
ideologischen Ausdruck verliehen, beschäftigte sich der deutsche Geist damit, über
den toten Hegel herzufallen, sowie den Kantianismus auf Erkenntnistheorie zu
reduzieren und die Aufklärung zurückzuinterpretieren. Politik wurde mehr und
mehr geistlos. Sie beschränkte sich auf wirtschaftliche und organisatorische
Probleme, in deren Grenzen vor allem die Bürokratie Hervorragendes leistete,
während der Parlamentarismus dem führenden Staatsmann Bismarck allerhand
Steine in den Weg warf. Vom lebendigen politischen Interesse wandten sich
die geistigsten Köpfe immer mehr ab, da ihnen das ideenlose, in Nutzhastig-
keiten verstrickte Parteigezänk intellektuell wie moralisch in gleichem Maße
widerstand.

Soll nach dem gewaltigen Aufflammen der politischen Anteilnahme unseres
ganzen Volkes nach dem Krieg wieder alles ins alte Gleis zurück? Niemand


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0260" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331232"/>
            <fw type="header" place="top"> Zur ideologischen Deutung der Gegenwart</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_880" prev="#ID_879"> Und zwar mit jungen triebkräftigen Ideen. Was hat denn die Sozialdemokratie<lb/>
in ihr Dilemma, in ihre tragikomische Ratlosigkeit während des Krieges gestürzt?<lb/>
Auch ihre Gegner müssen zugeben, daß sie sich vorteilhaft vor anderen Parteien<lb/>
der letzten Jahrzehnte dadurch auszeichnete, daß sie eine den Parteienkampf<lb/>
vertiefende Doktrin besaß, in deren Kern durch alle Verschlackung hindurch die edlen<lb/>
Erzadern hegelischer Dialektik glänzten. Nicht daß sie eine solche Doktrin besaß,<lb/>
führte zu ihrer Katastrophe, sondern vielmehr der Zwiespalt, der sich zwischen<lb/>
dieser und den lebenskräftigen politischen Instinkten der Partei aufgetan hatte.<lb/>
Ihre Führer waren der Versuchung erlegen, diese Ideen, zur lockenden utopischen<lb/>
Phrase aufgeputzt, auch dann noch agitatorisch zu verwenden, als sie selber nicht<lb/>
mehr zu innerst an sie glaubten. Daher denn die Spaltung, die der Krieg<lb/>
zwischen den halsstarrig reaktionären Dogmengläubigen und denen innerhalb der<lb/>
Sozialdemokratie aufreißen mußte, die sich in später Stunde zum ehrlichen Be¬<lb/>
kenntnis einer Entfremdung von dieser heiliggehaltenen Ideologie bekannten:<lb/>
auf dem edelsten Wege sich dazu bekannten, nämlich durch die Tat, durch den<lb/>
entschlossenen Einsatz der eigenen Person für die bisher steifnackig verleugneten<lb/>
vaterländischen Ideale. Ludwig Franks Gestalt ist das leuchtende Symbol für<lb/>
diesen Vorgang eines Triumphes der lebendigen Sozialdemokraten über die in<lb/>
der Idee erstarrende Sozialdemokratie. Denn dies letztere konnte auch bei ihr nicht<lb/>
ausbleiben. Wie alle Parteien hat eben auch die Sozialdemokratie an dem<lb/>
Verhängnis der letzten Jahrzehnte teilgenommen, deren Posttivismus weder die<lb/>
schöpferische noch auch nur die fortbildende ideologische Kraft besaß, um dem<lb/>
neuen Hineinwachsen in die nationalen Aufgaben in der Idee gerecht zu werden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_881"> Es ist ein müßiger Streit, ob eine solche der Wirklichkeit entfremdete Ideologie<lb/>
das größere Übel sei oder das gänzliche Fehlen einer solchen. Wenn man<lb/>
von Naumanns Schriften absieht, die doch übrigens auch mehr Programm als<lb/>
eigentliche Ideologie bedeuten, fehlte auch den anderen Parteien eine weltan¬<lb/>
schauliche Begründung ihres Parteiprogramms, die den letzten Jahrzehnten ent¬<lb/>
sprossen wäre, so gut wie vollkommen. Während in Rußland Dostojewski und<lb/>
seine Freunde der aufkommenden nationalistischen Bewegung einen hinreißenden<lb/>
ideologischen Ausdruck verliehen, beschäftigte sich der deutsche Geist damit, über<lb/>
den toten Hegel herzufallen, sowie den Kantianismus auf Erkenntnistheorie zu<lb/>
reduzieren und die Aufklärung zurückzuinterpretieren. Politik wurde mehr und<lb/>
mehr geistlos. Sie beschränkte sich auf wirtschaftliche und organisatorische<lb/>
Probleme, in deren Grenzen vor allem die Bürokratie Hervorragendes leistete,<lb/>
während der Parlamentarismus dem führenden Staatsmann Bismarck allerhand<lb/>
Steine in den Weg warf. Vom lebendigen politischen Interesse wandten sich<lb/>
die geistigsten Köpfe immer mehr ab, da ihnen das ideenlose, in Nutzhastig-<lb/>
keiten verstrickte Parteigezänk intellektuell wie moralisch in gleichem Maße<lb/>
widerstand.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_882" next="#ID_883"> Soll nach dem gewaltigen Aufflammen der politischen Anteilnahme unseres<lb/>
ganzen Volkes nach dem Krieg wieder alles ins alte Gleis zurück? Niemand</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0260] Zur ideologischen Deutung der Gegenwart Und zwar mit jungen triebkräftigen Ideen. Was hat denn die Sozialdemokratie in ihr Dilemma, in ihre tragikomische Ratlosigkeit während des Krieges gestürzt? Auch ihre Gegner müssen zugeben, daß sie sich vorteilhaft vor anderen Parteien der letzten Jahrzehnte dadurch auszeichnete, daß sie eine den Parteienkampf vertiefende Doktrin besaß, in deren Kern durch alle Verschlackung hindurch die edlen Erzadern hegelischer Dialektik glänzten. Nicht daß sie eine solche Doktrin besaß, führte zu ihrer Katastrophe, sondern vielmehr der Zwiespalt, der sich zwischen dieser und den lebenskräftigen politischen Instinkten der Partei aufgetan hatte. Ihre Führer waren der Versuchung erlegen, diese Ideen, zur lockenden utopischen Phrase aufgeputzt, auch dann noch agitatorisch zu verwenden, als sie selber nicht mehr zu innerst an sie glaubten. Daher denn die Spaltung, die der Krieg zwischen den halsstarrig reaktionären Dogmengläubigen und denen innerhalb der Sozialdemokratie aufreißen mußte, die sich in später Stunde zum ehrlichen Be¬ kenntnis einer Entfremdung von dieser heiliggehaltenen Ideologie bekannten: auf dem edelsten Wege sich dazu bekannten, nämlich durch die Tat, durch den entschlossenen Einsatz der eigenen Person für die bisher steifnackig verleugneten vaterländischen Ideale. Ludwig Franks Gestalt ist das leuchtende Symbol für diesen Vorgang eines Triumphes der lebendigen Sozialdemokraten über die in der Idee erstarrende Sozialdemokratie. Denn dies letztere konnte auch bei ihr nicht ausbleiben. Wie alle Parteien hat eben auch die Sozialdemokratie an dem Verhängnis der letzten Jahrzehnte teilgenommen, deren Posttivismus weder die schöpferische noch auch nur die fortbildende ideologische Kraft besaß, um dem neuen Hineinwachsen in die nationalen Aufgaben in der Idee gerecht zu werden. Es ist ein müßiger Streit, ob eine solche der Wirklichkeit entfremdete Ideologie das größere Übel sei oder das gänzliche Fehlen einer solchen. Wenn man von Naumanns Schriften absieht, die doch übrigens auch mehr Programm als eigentliche Ideologie bedeuten, fehlte auch den anderen Parteien eine weltan¬ schauliche Begründung ihres Parteiprogramms, die den letzten Jahrzehnten ent¬ sprossen wäre, so gut wie vollkommen. Während in Rußland Dostojewski und seine Freunde der aufkommenden nationalistischen Bewegung einen hinreißenden ideologischen Ausdruck verliehen, beschäftigte sich der deutsche Geist damit, über den toten Hegel herzufallen, sowie den Kantianismus auf Erkenntnistheorie zu reduzieren und die Aufklärung zurückzuinterpretieren. Politik wurde mehr und mehr geistlos. Sie beschränkte sich auf wirtschaftliche und organisatorische Probleme, in deren Grenzen vor allem die Bürokratie Hervorragendes leistete, während der Parlamentarismus dem führenden Staatsmann Bismarck allerhand Steine in den Weg warf. Vom lebendigen politischen Interesse wandten sich die geistigsten Köpfe immer mehr ab, da ihnen das ideenlose, in Nutzhastig- keiten verstrickte Parteigezänk intellektuell wie moralisch in gleichem Maße widerstand. Soll nach dem gewaltigen Aufflammen der politischen Anteilnahme unseres ganzen Volkes nach dem Krieg wieder alles ins alte Gleis zurück? Niemand

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/260
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/260>, abgerufen am 23.07.2024.