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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Der germanische Schönheitsbegriff

des gotischen Kunstwollens, das eben nicht auf maßvolle, ausgeglichene Schön¬
heit ausgeht, sondern auf verzückten Hochschwung, gepaart mit einem Humor,
der mit den Dingen der Welt groteske Spiele treibt.

Vielleicht ist in diesen Werken der gotische Geist zu reinerer Entfaltung
gelangt als dort, wo mit bewußter Absicht die gotische Tradition aufgenommen
wurde: in der Romantik. Es ist das keine ganz unbefangene und deshalb
oft eine gefärbte und frisierte Gotik, aber einen Hauch des gotischen Form¬
willens haben auch die Romantiker verspürt. Nur ist es eben eine Wendung
ins Sentimentale und Schwächliche, den der gotische Gedanke in der Romantik
oft erhalten hat; und eben darum müssen wir uns hüten, in der Romantik das
Gegenspiel gegen die Klassik zu sehen. Das kann allein der gotische Kunst-
wille sein, dem nicht das Treibhaushaste und Unkräftige der Romantik an¬
haftet. Immerhin aber dürfen wir in allen Äußerungen des romantischen
Geistes im neunzehnten Jahrhundert wenigstens Ableger der Gotik sehen, und
so ist also auch das neunzehnte Jahrhundert durchwoben von gotischen Tendenzen,
wenn sie auch selten nur ganz frei sich zu äußern vermögen.




Nicht weniger gewaltig als in den andern Künsten hat sich der gotische
Geist in der Musik geregt. Was wir von der Tonkunst der Griechen wissen,
stimmt ganz zu dem sonstigen klassischen Kunstideal. Diese monophonen Ton¬
gebilde in ihrer durchsichtigen Klarheit strebten eine eindeutige Gefühlswirkung
an. Erst die polyphone Musik des germanischen Mittelalters erging sich in
verschlungeneren Gebilden, die in ihrer geheimnisvollen Verwobenheit an die
typische Bandornamentik des Nordens erinnert. Und die konsequente Weiter¬
entwicklung dieser Stilmittel führt dann zur Musik der Schütz und Buxtehude.
der Händel und Bach, die in so grandioser Weise einen Stil entwickelten, der
in seinein geheimnisvoll verschlungenen Linienspiel, dem allmählichen Empor¬
türmen gewaltiger Tonmassen, seinen grellen Kontrasten ein echter Ausdruck
desselben gotischen Geistes ist, der überall in der germanischen Kunst waltet.
Haydn und Mozart, stärker beeinflußt von dem benachbarten Süden, nähern
sich dem durchsichtigen, harmonischen Schönheitsideal der Klassik, aber im
späteren Beethoven bricht sich der gotische Geist wieder Bahn, der ins Unend¬
liche und Transzendente hinstrebt. Alles, was man dieser Musik und fast aller
deutschen Musik vorgeworfen hat. sind dieselben Vorwürfe, die die Klassik stets
für die Gotik hat. Mangel an Klarheit und einfacher ausgeglichener und ab¬
gerundeter Schönheit (in der Musik vertreten durch die diatonische Melodie),
Schwerfaßlichkeit des Gefühlsausdrucks zum Selbstzweck gewordene konstruktive
Gelehrsamkeit, übertriebenes Streben nach Charakteristik, der rücksichtslos das
Gleichgewicht geopfert wird. Wenn man, in vager Anlehnung an literarischen
Stil in der Musik von Romantik spricht, so meint man eben dies. Die Musik
der Schumann und Brahms, der Bruckner und Reger fällt ganz unter diese
musikalische Gotik und selbst das Mufikdrama Wagners, das allerdings seinem


Der germanische Schönheitsbegriff

des gotischen Kunstwollens, das eben nicht auf maßvolle, ausgeglichene Schön¬
heit ausgeht, sondern auf verzückten Hochschwung, gepaart mit einem Humor,
der mit den Dingen der Welt groteske Spiele treibt.

Vielleicht ist in diesen Werken der gotische Geist zu reinerer Entfaltung
gelangt als dort, wo mit bewußter Absicht die gotische Tradition aufgenommen
wurde: in der Romantik. Es ist das keine ganz unbefangene und deshalb
oft eine gefärbte und frisierte Gotik, aber einen Hauch des gotischen Form¬
willens haben auch die Romantiker verspürt. Nur ist es eben eine Wendung
ins Sentimentale und Schwächliche, den der gotische Gedanke in der Romantik
oft erhalten hat; und eben darum müssen wir uns hüten, in der Romantik das
Gegenspiel gegen die Klassik zu sehen. Das kann allein der gotische Kunst-
wille sein, dem nicht das Treibhaushaste und Unkräftige der Romantik an¬
haftet. Immerhin aber dürfen wir in allen Äußerungen des romantischen
Geistes im neunzehnten Jahrhundert wenigstens Ableger der Gotik sehen, und
so ist also auch das neunzehnte Jahrhundert durchwoben von gotischen Tendenzen,
wenn sie auch selten nur ganz frei sich zu äußern vermögen.




Nicht weniger gewaltig als in den andern Künsten hat sich der gotische
Geist in der Musik geregt. Was wir von der Tonkunst der Griechen wissen,
stimmt ganz zu dem sonstigen klassischen Kunstideal. Diese monophonen Ton¬
gebilde in ihrer durchsichtigen Klarheit strebten eine eindeutige Gefühlswirkung
an. Erst die polyphone Musik des germanischen Mittelalters erging sich in
verschlungeneren Gebilden, die in ihrer geheimnisvollen Verwobenheit an die
typische Bandornamentik des Nordens erinnert. Und die konsequente Weiter¬
entwicklung dieser Stilmittel führt dann zur Musik der Schütz und Buxtehude.
der Händel und Bach, die in so grandioser Weise einen Stil entwickelten, der
in seinein geheimnisvoll verschlungenen Linienspiel, dem allmählichen Empor¬
türmen gewaltiger Tonmassen, seinen grellen Kontrasten ein echter Ausdruck
desselben gotischen Geistes ist, der überall in der germanischen Kunst waltet.
Haydn und Mozart, stärker beeinflußt von dem benachbarten Süden, nähern
sich dem durchsichtigen, harmonischen Schönheitsideal der Klassik, aber im
späteren Beethoven bricht sich der gotische Geist wieder Bahn, der ins Unend¬
liche und Transzendente hinstrebt. Alles, was man dieser Musik und fast aller
deutschen Musik vorgeworfen hat. sind dieselben Vorwürfe, die die Klassik stets
für die Gotik hat. Mangel an Klarheit und einfacher ausgeglichener und ab¬
gerundeter Schönheit (in der Musik vertreten durch die diatonische Melodie),
Schwerfaßlichkeit des Gefühlsausdrucks zum Selbstzweck gewordene konstruktive
Gelehrsamkeit, übertriebenes Streben nach Charakteristik, der rücksichtslos das
Gleichgewicht geopfert wird. Wenn man, in vager Anlehnung an literarischen
Stil in der Musik von Romantik spricht, so meint man eben dies. Die Musik
der Schumann und Brahms, der Bruckner und Reger fällt ganz unter diese
musikalische Gotik und selbst das Mufikdrama Wagners, das allerdings seinem


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[0233] Der germanische Schönheitsbegriff des gotischen Kunstwollens, das eben nicht auf maßvolle, ausgeglichene Schön¬ heit ausgeht, sondern auf verzückten Hochschwung, gepaart mit einem Humor, der mit den Dingen der Welt groteske Spiele treibt. Vielleicht ist in diesen Werken der gotische Geist zu reinerer Entfaltung gelangt als dort, wo mit bewußter Absicht die gotische Tradition aufgenommen wurde: in der Romantik. Es ist das keine ganz unbefangene und deshalb oft eine gefärbte und frisierte Gotik, aber einen Hauch des gotischen Form¬ willens haben auch die Romantiker verspürt. Nur ist es eben eine Wendung ins Sentimentale und Schwächliche, den der gotische Gedanke in der Romantik oft erhalten hat; und eben darum müssen wir uns hüten, in der Romantik das Gegenspiel gegen die Klassik zu sehen. Das kann allein der gotische Kunst- wille sein, dem nicht das Treibhaushaste und Unkräftige der Romantik an¬ haftet. Immerhin aber dürfen wir in allen Äußerungen des romantischen Geistes im neunzehnten Jahrhundert wenigstens Ableger der Gotik sehen, und so ist also auch das neunzehnte Jahrhundert durchwoben von gotischen Tendenzen, wenn sie auch selten nur ganz frei sich zu äußern vermögen. Nicht weniger gewaltig als in den andern Künsten hat sich der gotische Geist in der Musik geregt. Was wir von der Tonkunst der Griechen wissen, stimmt ganz zu dem sonstigen klassischen Kunstideal. Diese monophonen Ton¬ gebilde in ihrer durchsichtigen Klarheit strebten eine eindeutige Gefühlswirkung an. Erst die polyphone Musik des germanischen Mittelalters erging sich in verschlungeneren Gebilden, die in ihrer geheimnisvollen Verwobenheit an die typische Bandornamentik des Nordens erinnert. Und die konsequente Weiter¬ entwicklung dieser Stilmittel führt dann zur Musik der Schütz und Buxtehude. der Händel und Bach, die in so grandioser Weise einen Stil entwickelten, der in seinein geheimnisvoll verschlungenen Linienspiel, dem allmählichen Empor¬ türmen gewaltiger Tonmassen, seinen grellen Kontrasten ein echter Ausdruck desselben gotischen Geistes ist, der überall in der germanischen Kunst waltet. Haydn und Mozart, stärker beeinflußt von dem benachbarten Süden, nähern sich dem durchsichtigen, harmonischen Schönheitsideal der Klassik, aber im späteren Beethoven bricht sich der gotische Geist wieder Bahn, der ins Unend¬ liche und Transzendente hinstrebt. Alles, was man dieser Musik und fast aller deutschen Musik vorgeworfen hat. sind dieselben Vorwürfe, die die Klassik stets für die Gotik hat. Mangel an Klarheit und einfacher ausgeglichener und ab¬ gerundeter Schönheit (in der Musik vertreten durch die diatonische Melodie), Schwerfaßlichkeit des Gefühlsausdrucks zum Selbstzweck gewordene konstruktive Gelehrsamkeit, übertriebenes Streben nach Charakteristik, der rücksichtslos das Gleichgewicht geopfert wird. Wenn man, in vager Anlehnung an literarischen Stil in der Musik von Romantik spricht, so meint man eben dies. Die Musik der Schumann und Brahms, der Bruckner und Reger fällt ganz unter diese musikalische Gotik und selbst das Mufikdrama Wagners, das allerdings seinem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/233>, abgerufen am 23.07.2024.