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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Der germanische Schönheitsbegriff

immer wieder ans Licht gerungen hat, obwohl man ihr oft genug im eigenen
Vaterlande das Bürgerrecht versagt hat. Ja, nicht einmal einen Namen hat
diese deutsche Art in der Dichtung und in der Musik; allein in der bildenden
Kunst zeitigt sie als "Gotik" ein oft nur geduldetes Begriffsdasein. Aber sie
ist auch dort, wo man sie nicht in ihrer Besonderheit erkannt hat, nicht weniger
vorhanden, und wir werden versuchen, eben das Gotische in seiner Eigenart
zu kennzeichnen und auch in jenen Künsten sein Dasein zu erweisen, wo man
es bisher nicht beachtet hat.




Um die Eigenart des gotischen Schönheitsbegriff zu erkennen, stellen wir
ihn zunächst dein klassischen Schönheitsbegriff gegenüber, der Ästhetikern wie
Laien vielfach als Schönheitsbegriff schlechthin gegolten hat. Was ist klassisch?
Worin besteht das Wesen der klassischen Form? -- Zunächst in einer vollendeten
Abgeschlossenheit und Abrundung, einer inneren Ausgeglichenheit und Harmonie,
in Klarheit und Faßlichkeit aller Elemente. Das kennzeichnet das klassische
Kunstwerk jeden Gebietes. Einheit in Ort, Zeit und Handlung erstrebt das
klassische Drama, ein fester innerer Bau ist ihm eigen. Klarheit und Übersichtlichkeit
kennzeichnet das Geschehen wie die auftretenden Menschen. -- Ein Muster
harmonischer Geschlossenheit ist auch der griechische TempelI Alles ist im Gleich¬
gewicht! Die Horizontalen und Vertikalen, die lastenden Massen wie die tragenden
Kräfte sind ins Gleichgewicht gebracht, mit einem Blick überschaut man die
Gliederung. -- Und die gleichen Prinzipien beherrschen die griechische Plastik
und die Malerei, soweit wir sie kennen. Auch hier werden überall in sich
ruhende Geschlossenheit, Harmonie und Klarheit angestrebt. -- Zu diesen rein
formalen Grundtatsachen tritt noch das Inhaltliche. Die klassische Kunst hat
als Inhalt die Darstellung der Natur und des Lebens, freilich die auf das
Typische und Idealisierte ausgehende Darstellung. Wie den griechischen Philo¬
sophen in ihrer Mehrzahl nur der Begriff, das jenseits der wechselnden Erscheinung
gleichmäßig Beharrende, die "Idee", wahres Sein zu haben schien, so suchten
die klassischen Künstler das Typische und Ideale in ihren Darstellungen heraus¬
zuarbeiten.

So kommt es, daß unzähligen Theoretikern das Herausarbeiten des
Typischen, das "Idealisieren" als das Schönheitsbilden schlechthin erschien. --
Alle diese Kennzeichen der griechischen Kunst kehren wieder, nicht bloß aus
Nachahmung, auch aus innerer Verwandtschaft heraus bei den Italienern der
Renaissance und den Franzosen der Bourbonenzeit; ja oft genug werden die
griechischen Tendenzen in diesen Ländern noch schroffer formuliert und zu
abstrakten Forderungen erhoben.

Gewiß wird niemand den Wert und die Größe dessen, was im klassische"
Geiste geschaffen ist, leugnen wollen: aber man braucht alles das nicht als das
einzige anzusehen, das möglich ist. Gerade die Gotik erbringt den Beweis,
daß sie nicht durch, nein gegen die Forderungen der Klassik zu siegen versteht,


Der germanische Schönheitsbegriff

immer wieder ans Licht gerungen hat, obwohl man ihr oft genug im eigenen
Vaterlande das Bürgerrecht versagt hat. Ja, nicht einmal einen Namen hat
diese deutsche Art in der Dichtung und in der Musik; allein in der bildenden
Kunst zeitigt sie als „Gotik" ein oft nur geduldetes Begriffsdasein. Aber sie
ist auch dort, wo man sie nicht in ihrer Besonderheit erkannt hat, nicht weniger
vorhanden, und wir werden versuchen, eben das Gotische in seiner Eigenart
zu kennzeichnen und auch in jenen Künsten sein Dasein zu erweisen, wo man
es bisher nicht beachtet hat.




Um die Eigenart des gotischen Schönheitsbegriff zu erkennen, stellen wir
ihn zunächst dein klassischen Schönheitsbegriff gegenüber, der Ästhetikern wie
Laien vielfach als Schönheitsbegriff schlechthin gegolten hat. Was ist klassisch?
Worin besteht das Wesen der klassischen Form? — Zunächst in einer vollendeten
Abgeschlossenheit und Abrundung, einer inneren Ausgeglichenheit und Harmonie,
in Klarheit und Faßlichkeit aller Elemente. Das kennzeichnet das klassische
Kunstwerk jeden Gebietes. Einheit in Ort, Zeit und Handlung erstrebt das
klassische Drama, ein fester innerer Bau ist ihm eigen. Klarheit und Übersichtlichkeit
kennzeichnet das Geschehen wie die auftretenden Menschen. — Ein Muster
harmonischer Geschlossenheit ist auch der griechische TempelI Alles ist im Gleich¬
gewicht! Die Horizontalen und Vertikalen, die lastenden Massen wie die tragenden
Kräfte sind ins Gleichgewicht gebracht, mit einem Blick überschaut man die
Gliederung. — Und die gleichen Prinzipien beherrschen die griechische Plastik
und die Malerei, soweit wir sie kennen. Auch hier werden überall in sich
ruhende Geschlossenheit, Harmonie und Klarheit angestrebt. — Zu diesen rein
formalen Grundtatsachen tritt noch das Inhaltliche. Die klassische Kunst hat
als Inhalt die Darstellung der Natur und des Lebens, freilich die auf das
Typische und Idealisierte ausgehende Darstellung. Wie den griechischen Philo¬
sophen in ihrer Mehrzahl nur der Begriff, das jenseits der wechselnden Erscheinung
gleichmäßig Beharrende, die „Idee", wahres Sein zu haben schien, so suchten
die klassischen Künstler das Typische und Ideale in ihren Darstellungen heraus¬
zuarbeiten.

So kommt es, daß unzähligen Theoretikern das Herausarbeiten des
Typischen, das „Idealisieren" als das Schönheitsbilden schlechthin erschien. —
Alle diese Kennzeichen der griechischen Kunst kehren wieder, nicht bloß aus
Nachahmung, auch aus innerer Verwandtschaft heraus bei den Italienern der
Renaissance und den Franzosen der Bourbonenzeit; ja oft genug werden die
griechischen Tendenzen in diesen Ländern noch schroffer formuliert und zu
abstrakten Forderungen erhoben.

Gewiß wird niemand den Wert und die Größe dessen, was im klassische«
Geiste geschaffen ist, leugnen wollen: aber man braucht alles das nicht als das
einzige anzusehen, das möglich ist. Gerade die Gotik erbringt den Beweis,
daß sie nicht durch, nein gegen die Forderungen der Klassik zu siegen versteht,


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[0229] Der germanische Schönheitsbegriff immer wieder ans Licht gerungen hat, obwohl man ihr oft genug im eigenen Vaterlande das Bürgerrecht versagt hat. Ja, nicht einmal einen Namen hat diese deutsche Art in der Dichtung und in der Musik; allein in der bildenden Kunst zeitigt sie als „Gotik" ein oft nur geduldetes Begriffsdasein. Aber sie ist auch dort, wo man sie nicht in ihrer Besonderheit erkannt hat, nicht weniger vorhanden, und wir werden versuchen, eben das Gotische in seiner Eigenart zu kennzeichnen und auch in jenen Künsten sein Dasein zu erweisen, wo man es bisher nicht beachtet hat. Um die Eigenart des gotischen Schönheitsbegriff zu erkennen, stellen wir ihn zunächst dein klassischen Schönheitsbegriff gegenüber, der Ästhetikern wie Laien vielfach als Schönheitsbegriff schlechthin gegolten hat. Was ist klassisch? Worin besteht das Wesen der klassischen Form? — Zunächst in einer vollendeten Abgeschlossenheit und Abrundung, einer inneren Ausgeglichenheit und Harmonie, in Klarheit und Faßlichkeit aller Elemente. Das kennzeichnet das klassische Kunstwerk jeden Gebietes. Einheit in Ort, Zeit und Handlung erstrebt das klassische Drama, ein fester innerer Bau ist ihm eigen. Klarheit und Übersichtlichkeit kennzeichnet das Geschehen wie die auftretenden Menschen. — Ein Muster harmonischer Geschlossenheit ist auch der griechische TempelI Alles ist im Gleich¬ gewicht! Die Horizontalen und Vertikalen, die lastenden Massen wie die tragenden Kräfte sind ins Gleichgewicht gebracht, mit einem Blick überschaut man die Gliederung. — Und die gleichen Prinzipien beherrschen die griechische Plastik und die Malerei, soweit wir sie kennen. Auch hier werden überall in sich ruhende Geschlossenheit, Harmonie und Klarheit angestrebt. — Zu diesen rein formalen Grundtatsachen tritt noch das Inhaltliche. Die klassische Kunst hat als Inhalt die Darstellung der Natur und des Lebens, freilich die auf das Typische und Idealisierte ausgehende Darstellung. Wie den griechischen Philo¬ sophen in ihrer Mehrzahl nur der Begriff, das jenseits der wechselnden Erscheinung gleichmäßig Beharrende, die „Idee", wahres Sein zu haben schien, so suchten die klassischen Künstler das Typische und Ideale in ihren Darstellungen heraus¬ zuarbeiten. So kommt es, daß unzähligen Theoretikern das Herausarbeiten des Typischen, das „Idealisieren" als das Schönheitsbilden schlechthin erschien. — Alle diese Kennzeichen der griechischen Kunst kehren wieder, nicht bloß aus Nachahmung, auch aus innerer Verwandtschaft heraus bei den Italienern der Renaissance und den Franzosen der Bourbonenzeit; ja oft genug werden die griechischen Tendenzen in diesen Ländern noch schroffer formuliert und zu abstrakten Forderungen erhoben. Gewiß wird niemand den Wert und die Größe dessen, was im klassische« Geiste geschaffen ist, leugnen wollen: aber man braucht alles das nicht als das einzige anzusehen, das möglich ist. Gerade die Gotik erbringt den Beweis, daß sie nicht durch, nein gegen die Forderungen der Klassik zu siegen versteht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/229>, abgerufen am 23.07.2024.