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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wohin geht Rußland?

Die Großmutter hat er also vergessen, und wenn er sie nicht vergessen
hat, so hat er sie verflucht; ebenso wie der Großvater: "Alte Närrin, unver¬
nünftige, ungelshrte".

"Zwei Seelen" sind geschrieben worden aus Anlaß des Krieges, "einer
von der Welt noch niemals erlittenen, das Leben Europas erschütternden und
vernichtenden Katastrophe", nach den Worten Gorkis selbst. Woher kam die
Katastrophe? Von dem religiösen Osten oder von dem "wissenschaftlichen"
Westen? Es scheint klar zu sein, daß "Wissenschaft" ohne Religion, halbe
Wissenschaft, die Welt vor der Katastrophe nicht gerettet hat, sondern vielleicht
die Hauptursache derselben war. Wenn der menschliche Verstand behauptet, daß
er alles sei, und im Menschen nichts mehr nötig sei, so wird der Verstand selbst
zum Unverstand.

Er war doch früher recht gut. unser Großvater. Als er aber wähnt?,
daß niemand klüger sei als er, seitdem wurde er böse und dumm.

Welche unmenschliche Greuel und Scheußlichkeiten dieser böse und dumm
gewordene sinnlose Unverstand verrichten kann, haben wir jetzt vor Augen. Es
ist er, der Großvater, der kleine, listige, raubgierige "Iltis", der die gewaltige
Großmutter "vom Morgen bis zum Abend schlägt, bis er müde wird, und,
nachher, nachdem er ausgeruht hat, von neuem anfängt, und zwar mit Stricken
und allem anderen". Er schlägt, und sie schweigt, duldet; nur bedauert die
"Unvernünftige" den "Halbvernünstigen":

Ach Großvater. Großvater. Du bist ein kleines Stäubchen im Auge Gottes!

Die Weisheit der Großmutter hat Gorki vergessen, jedoch wird er sich
ihrer wieder erinnern: er ist von ihr gegangen, wird aber zu ihr zurückkehren.

Vielleicht hat nicht nur Rußland, sondern Gorki selbst "zwei Seelen", und
er schwankt zwischen ihnen: bald zum Osten, bald zum Westen, bald zur
Großmutter, bald zum Großvater. Welche von diesen zwei Seelen retten,
welche dem Verderben anheimgeben?

Vielleicht soll man aber keine von ihnen verderben lassen, sondern beide
retten, "zwei Seelen" in eine vereinigen. Vielleicht ist Rußland nicht Osten
und nicht Westen, sondern eine Vereinigung des Ostens mit dem Westen.

Um zu vereinigen, muß nicht vermischt werden; und um nicht zu ver¬
mischen, muß bis zu Ende geteilt werden. Das tut Gorki auch: er trennt,
zerreißt die zwei Seelen Rußlands in seiner eigenen Seele. Und wenn seine
Seele von diesem Riß verderben wird, so geschieht dies nicht umsonst: sie wird
verderben, um andere Seelen zu retten.

So treibt er, der "Gottlose", Gottes Werk. Die Trennung zweier Seelen,
-- des Westens vom Osten, der Tätigkeit von der Beschaulichkeit, der Erde
vom Himmel, -- ist eine unvollständige, unvollendete, unewige Wahrheit. Es
gibt aber keinen anderen Weg zur ewigen Wahrheit, als das Opfer einer von
den zwei urewigen; und man muß wissen, womit und wozu wir opfern. Gorki
weiß dies noch nicht, vielleicht wird er es einst erfahren.


Wohin geht Rußland?

Die Großmutter hat er also vergessen, und wenn er sie nicht vergessen
hat, so hat er sie verflucht; ebenso wie der Großvater: „Alte Närrin, unver¬
nünftige, ungelshrte".

„Zwei Seelen" sind geschrieben worden aus Anlaß des Krieges, „einer
von der Welt noch niemals erlittenen, das Leben Europas erschütternden und
vernichtenden Katastrophe", nach den Worten Gorkis selbst. Woher kam die
Katastrophe? Von dem religiösen Osten oder von dem „wissenschaftlichen"
Westen? Es scheint klar zu sein, daß „Wissenschaft" ohne Religion, halbe
Wissenschaft, die Welt vor der Katastrophe nicht gerettet hat, sondern vielleicht
die Hauptursache derselben war. Wenn der menschliche Verstand behauptet, daß
er alles sei, und im Menschen nichts mehr nötig sei, so wird der Verstand selbst
zum Unverstand.

Er war doch früher recht gut. unser Großvater. Als er aber wähnt?,
daß niemand klüger sei als er, seitdem wurde er böse und dumm.

Welche unmenschliche Greuel und Scheußlichkeiten dieser böse und dumm
gewordene sinnlose Unverstand verrichten kann, haben wir jetzt vor Augen. Es
ist er, der Großvater, der kleine, listige, raubgierige „Iltis", der die gewaltige
Großmutter „vom Morgen bis zum Abend schlägt, bis er müde wird, und,
nachher, nachdem er ausgeruht hat, von neuem anfängt, und zwar mit Stricken
und allem anderen". Er schlägt, und sie schweigt, duldet; nur bedauert die
„Unvernünftige" den „Halbvernünstigen":

Ach Großvater. Großvater. Du bist ein kleines Stäubchen im Auge Gottes!

Die Weisheit der Großmutter hat Gorki vergessen, jedoch wird er sich
ihrer wieder erinnern: er ist von ihr gegangen, wird aber zu ihr zurückkehren.

Vielleicht hat nicht nur Rußland, sondern Gorki selbst „zwei Seelen", und
er schwankt zwischen ihnen: bald zum Osten, bald zum Westen, bald zur
Großmutter, bald zum Großvater. Welche von diesen zwei Seelen retten,
welche dem Verderben anheimgeben?

Vielleicht soll man aber keine von ihnen verderben lassen, sondern beide
retten, „zwei Seelen" in eine vereinigen. Vielleicht ist Rußland nicht Osten
und nicht Westen, sondern eine Vereinigung des Ostens mit dem Westen.

Um zu vereinigen, muß nicht vermischt werden; und um nicht zu ver¬
mischen, muß bis zu Ende geteilt werden. Das tut Gorki auch: er trennt,
zerreißt die zwei Seelen Rußlands in seiner eigenen Seele. Und wenn seine
Seele von diesem Riß verderben wird, so geschieht dies nicht umsonst: sie wird
verderben, um andere Seelen zu retten.

So treibt er, der „Gottlose", Gottes Werk. Die Trennung zweier Seelen,
— des Westens vom Osten, der Tätigkeit von der Beschaulichkeit, der Erde
vom Himmel, — ist eine unvollständige, unvollendete, unewige Wahrheit. Es
gibt aber keinen anderen Weg zur ewigen Wahrheit, als das Opfer einer von
den zwei urewigen; und man muß wissen, womit und wozu wir opfern. Gorki
weiß dies noch nicht, vielleicht wird er es einst erfahren.


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[0131] Wohin geht Rußland? Die Großmutter hat er also vergessen, und wenn er sie nicht vergessen hat, so hat er sie verflucht; ebenso wie der Großvater: „Alte Närrin, unver¬ nünftige, ungelshrte". „Zwei Seelen" sind geschrieben worden aus Anlaß des Krieges, „einer von der Welt noch niemals erlittenen, das Leben Europas erschütternden und vernichtenden Katastrophe", nach den Worten Gorkis selbst. Woher kam die Katastrophe? Von dem religiösen Osten oder von dem „wissenschaftlichen" Westen? Es scheint klar zu sein, daß „Wissenschaft" ohne Religion, halbe Wissenschaft, die Welt vor der Katastrophe nicht gerettet hat, sondern vielleicht die Hauptursache derselben war. Wenn der menschliche Verstand behauptet, daß er alles sei, und im Menschen nichts mehr nötig sei, so wird der Verstand selbst zum Unverstand. Er war doch früher recht gut. unser Großvater. Als er aber wähnt?, daß niemand klüger sei als er, seitdem wurde er böse und dumm. Welche unmenschliche Greuel und Scheußlichkeiten dieser böse und dumm gewordene sinnlose Unverstand verrichten kann, haben wir jetzt vor Augen. Es ist er, der Großvater, der kleine, listige, raubgierige „Iltis", der die gewaltige Großmutter „vom Morgen bis zum Abend schlägt, bis er müde wird, und, nachher, nachdem er ausgeruht hat, von neuem anfängt, und zwar mit Stricken und allem anderen". Er schlägt, und sie schweigt, duldet; nur bedauert die „Unvernünftige" den „Halbvernünstigen": Ach Großvater. Großvater. Du bist ein kleines Stäubchen im Auge Gottes! Die Weisheit der Großmutter hat Gorki vergessen, jedoch wird er sich ihrer wieder erinnern: er ist von ihr gegangen, wird aber zu ihr zurückkehren. Vielleicht hat nicht nur Rußland, sondern Gorki selbst „zwei Seelen", und er schwankt zwischen ihnen: bald zum Osten, bald zum Westen, bald zur Großmutter, bald zum Großvater. Welche von diesen zwei Seelen retten, welche dem Verderben anheimgeben? Vielleicht soll man aber keine von ihnen verderben lassen, sondern beide retten, „zwei Seelen" in eine vereinigen. Vielleicht ist Rußland nicht Osten und nicht Westen, sondern eine Vereinigung des Ostens mit dem Westen. Um zu vereinigen, muß nicht vermischt werden; und um nicht zu ver¬ mischen, muß bis zu Ende geteilt werden. Das tut Gorki auch: er trennt, zerreißt die zwei Seelen Rußlands in seiner eigenen Seele. Und wenn seine Seele von diesem Riß verderben wird, so geschieht dies nicht umsonst: sie wird verderben, um andere Seelen zu retten. So treibt er, der „Gottlose", Gottes Werk. Die Trennung zweier Seelen, — des Westens vom Osten, der Tätigkeit von der Beschaulichkeit, der Erde vom Himmel, — ist eine unvollständige, unvollendete, unewige Wahrheit. Es gibt aber keinen anderen Weg zur ewigen Wahrheit, als das Opfer einer von den zwei urewigen; und man muß wissen, womit und wozu wir opfern. Gorki weiß dies noch nicht, vielleicht wird er es einst erfahren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/131>, abgerufen am 23.07.2024.