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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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N?ohin geht Rußland?

Rußland hat zwei Seelen: eine asiatische, östliche, und eine europäische,
westliche. Im Osten herrscht die Religion, im Westen -- die Wissenschaft.
Die Religion behauptet das, was nicht existiert (das Dasein Gottes, das Leben
nach dem Tode und anderen "Aberglauben", "Phantasten"); Religion ist Lüge.
Die Wissenschaft behauptet das, was existiert (die "Naturgesetze"); Wissenschaft
ist Wahrheit. Rußland geht unter oder befindet sich am Rande des Verderbens,
weil es zwischen zwei Seelen, der östlichen und der westlichen, Schwank. Um
sich zu retten, muß es zu schwanken aufhören, muß es eine Wahl treffen: sich
von Osten, von der religiösen Lüge lossagen, und sich dem Westen, der wissen¬
schaftlichen Wahrheit hingeben.

Wie fo einfach ist das, und wenn nicht von Gorki die Rede wäre, so
könnte man sagen: wie so einfältig ist es bis zur Kindlichkeit.

Lohnt es zu widersprechen? Muß denn bewiesen werden, daß zwischen
"Aberglaube", "Phantasie", Betrug der Einbildung und religiöser Erfahrung
ein Gleichungszeichen nicht gesetzt werden kann? Daß nach der Kant'schen
"Kritik" auf Grund wissenschaftlicher Erfahrung oder philosophischer Vernunft
das Dasein Gottes und das Nichtdasein Gottes zu behaupten, zwei gleich un¬
sinnige Dinge sind?

Wenn Gorki ein Dogmatiker des Atheismus ist, so kann er nicht vom "wissen¬
schaftlichen Denken" als von der einzigen Art und Weise der Erkenntnis reden,
weil jeder Dogmatiker, gleichviel ob er ein negativer oder ein positiver ist, -- jeder
Glaube, gleichviel ob an das Dasein oder Nichtsein Gottes -- den Gesetzen des
"wissenschaftlichen Denkens" widerspricht. Ist er aber ein Positivist und Agnostiker,
wie kann er dann das "Nichterkannte" mit dem "Nichterkennbaren" verwechseln?
Er müßte einen Blick in "Die ersten Anfänge" Spencers, des Begründers des
Agnostizismus, werfen, um zu sehen, daß das "Nichterkennbare" nach dem Wesen
der wissenschaftlichen Erfahrung niemals erkannt werden kann. Derart ist die
philosophische Unwissenheit GorkiS.

Eine historische Unwissenheit zeigt er, wenn er den religiösen Osten dem
wissenschaftlichen Westen als zwei in der Weltgeschichte einander entgegen¬
wirkende Dinge gegenüberstellt. Wenn man die Religion in unserem euro¬
päischen Sinne als Theismus, Bestätigung Gottes auffaßt. -- nämlich so faßt
Gorki sie auf, -- so ist der größte Teil des Ostens, der buddhistische, irreligiös
atheistisch, weil der Buddhismus der reinste Atheismus ist. Nur bei Annäherung
an den Westen wird der Osten religiös in unserem europäischen Sinne, --
theistisch (Zoroasterismus. Judaismus, Islamismus); und je weiter vom Westen,
je östlicher, desto atheistischer. Alle Religion sowie übrigens auch alle wissenschaft¬
lichen Systeme (die ägyptischen, die assyro-babylonischen Grundlagen des griechisch¬
römischen Wissens) werden im Osten geboren, aber wachsen und reifen im
Westen. Dort liegt die religiöse Vergangenheit der Menschheit, hier -- die
Gegenwart, die Zukunft. Das Christentum ist im Osten entstanden, im Westen
großgewachsen. Und wenn das Christentum insonderheit eine historische


N?ohin geht Rußland?

Rußland hat zwei Seelen: eine asiatische, östliche, und eine europäische,
westliche. Im Osten herrscht die Religion, im Westen — die Wissenschaft.
Die Religion behauptet das, was nicht existiert (das Dasein Gottes, das Leben
nach dem Tode und anderen „Aberglauben", „Phantasten"); Religion ist Lüge.
Die Wissenschaft behauptet das, was existiert (die „Naturgesetze"); Wissenschaft
ist Wahrheit. Rußland geht unter oder befindet sich am Rande des Verderbens,
weil es zwischen zwei Seelen, der östlichen und der westlichen, Schwank. Um
sich zu retten, muß es zu schwanken aufhören, muß es eine Wahl treffen: sich
von Osten, von der religiösen Lüge lossagen, und sich dem Westen, der wissen¬
schaftlichen Wahrheit hingeben.

Wie fo einfach ist das, und wenn nicht von Gorki die Rede wäre, so
könnte man sagen: wie so einfältig ist es bis zur Kindlichkeit.

Lohnt es zu widersprechen? Muß denn bewiesen werden, daß zwischen
„Aberglaube", „Phantasie", Betrug der Einbildung und religiöser Erfahrung
ein Gleichungszeichen nicht gesetzt werden kann? Daß nach der Kant'schen
„Kritik" auf Grund wissenschaftlicher Erfahrung oder philosophischer Vernunft
das Dasein Gottes und das Nichtdasein Gottes zu behaupten, zwei gleich un¬
sinnige Dinge sind?

Wenn Gorki ein Dogmatiker des Atheismus ist, so kann er nicht vom „wissen¬
schaftlichen Denken" als von der einzigen Art und Weise der Erkenntnis reden,
weil jeder Dogmatiker, gleichviel ob er ein negativer oder ein positiver ist, — jeder
Glaube, gleichviel ob an das Dasein oder Nichtsein Gottes — den Gesetzen des
„wissenschaftlichen Denkens" widerspricht. Ist er aber ein Positivist und Agnostiker,
wie kann er dann das „Nichterkannte" mit dem „Nichterkennbaren" verwechseln?
Er müßte einen Blick in „Die ersten Anfänge" Spencers, des Begründers des
Agnostizismus, werfen, um zu sehen, daß das „Nichterkennbare" nach dem Wesen
der wissenschaftlichen Erfahrung niemals erkannt werden kann. Derart ist die
philosophische Unwissenheit GorkiS.

Eine historische Unwissenheit zeigt er, wenn er den religiösen Osten dem
wissenschaftlichen Westen als zwei in der Weltgeschichte einander entgegen¬
wirkende Dinge gegenüberstellt. Wenn man die Religion in unserem euro¬
päischen Sinne als Theismus, Bestätigung Gottes auffaßt. — nämlich so faßt
Gorki sie auf, — so ist der größte Teil des Ostens, der buddhistische, irreligiös
atheistisch, weil der Buddhismus der reinste Atheismus ist. Nur bei Annäherung
an den Westen wird der Osten religiös in unserem europäischen Sinne, —
theistisch (Zoroasterismus. Judaismus, Islamismus); und je weiter vom Westen,
je östlicher, desto atheistischer. Alle Religion sowie übrigens auch alle wissenschaft¬
lichen Systeme (die ägyptischen, die assyro-babylonischen Grundlagen des griechisch¬
römischen Wissens) werden im Osten geboren, aber wachsen und reifen im
Westen. Dort liegt die religiöse Vergangenheit der Menschheit, hier — die
Gegenwart, die Zukunft. Das Christentum ist im Osten entstanden, im Westen
großgewachsen. Und wenn das Christentum insonderheit eine historische


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[0129] N?ohin geht Rußland? Rußland hat zwei Seelen: eine asiatische, östliche, und eine europäische, westliche. Im Osten herrscht die Religion, im Westen — die Wissenschaft. Die Religion behauptet das, was nicht existiert (das Dasein Gottes, das Leben nach dem Tode und anderen „Aberglauben", „Phantasten"); Religion ist Lüge. Die Wissenschaft behauptet das, was existiert (die „Naturgesetze"); Wissenschaft ist Wahrheit. Rußland geht unter oder befindet sich am Rande des Verderbens, weil es zwischen zwei Seelen, der östlichen und der westlichen, Schwank. Um sich zu retten, muß es zu schwanken aufhören, muß es eine Wahl treffen: sich von Osten, von der religiösen Lüge lossagen, und sich dem Westen, der wissen¬ schaftlichen Wahrheit hingeben. Wie fo einfach ist das, und wenn nicht von Gorki die Rede wäre, so könnte man sagen: wie so einfältig ist es bis zur Kindlichkeit. Lohnt es zu widersprechen? Muß denn bewiesen werden, daß zwischen „Aberglaube", „Phantasie", Betrug der Einbildung und religiöser Erfahrung ein Gleichungszeichen nicht gesetzt werden kann? Daß nach der Kant'schen „Kritik" auf Grund wissenschaftlicher Erfahrung oder philosophischer Vernunft das Dasein Gottes und das Nichtdasein Gottes zu behaupten, zwei gleich un¬ sinnige Dinge sind? Wenn Gorki ein Dogmatiker des Atheismus ist, so kann er nicht vom „wissen¬ schaftlichen Denken" als von der einzigen Art und Weise der Erkenntnis reden, weil jeder Dogmatiker, gleichviel ob er ein negativer oder ein positiver ist, — jeder Glaube, gleichviel ob an das Dasein oder Nichtsein Gottes — den Gesetzen des „wissenschaftlichen Denkens" widerspricht. Ist er aber ein Positivist und Agnostiker, wie kann er dann das „Nichterkannte" mit dem „Nichterkennbaren" verwechseln? Er müßte einen Blick in „Die ersten Anfänge" Spencers, des Begründers des Agnostizismus, werfen, um zu sehen, daß das „Nichterkennbare" nach dem Wesen der wissenschaftlichen Erfahrung niemals erkannt werden kann. Derart ist die philosophische Unwissenheit GorkiS. Eine historische Unwissenheit zeigt er, wenn er den religiösen Osten dem wissenschaftlichen Westen als zwei in der Weltgeschichte einander entgegen¬ wirkende Dinge gegenüberstellt. Wenn man die Religion in unserem euro¬ päischen Sinne als Theismus, Bestätigung Gottes auffaßt. — nämlich so faßt Gorki sie auf, — so ist der größte Teil des Ostens, der buddhistische, irreligiös atheistisch, weil der Buddhismus der reinste Atheismus ist. Nur bei Annäherung an den Westen wird der Osten religiös in unserem europäischen Sinne, — theistisch (Zoroasterismus. Judaismus, Islamismus); und je weiter vom Westen, je östlicher, desto atheistischer. Alle Religion sowie übrigens auch alle wissenschaft¬ lichen Systeme (die ägyptischen, die assyro-babylonischen Grundlagen des griechisch¬ römischen Wissens) werden im Osten geboren, aber wachsen und reifen im Westen. Dort liegt die religiöse Vergangenheit der Menschheit, hier — die Gegenwart, die Zukunft. Das Christentum ist im Osten entstanden, im Westen großgewachsen. Und wenn das Christentum insonderheit eine historische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/129>, abgerufen am 23.07.2024.