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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Zur ruthenischen Frage

Erscheinen gedruckter Schriften in dieser Sprache, ebenso alle dramatischen Vor¬
stellungen und Vorträge ruthenischer Lieder verboten. Erst nach der Revolution
von 1905 und nach der Einführung 6er Verfassung trat eine Wendung zum
Besseren ein. Aber der Schaden, den die Ruthenen durch die lange Unter¬
drückung erlitten haben, ist unendlich groß und nicht so leicht und rasch zu
überwinden. Zu den schwersten Schäden zählt das Fehlen ruthenischer Volks¬
schulen, wie dies schon Cleinow scharf betont hat.

Besser gestaltete sich die Lage der Ruthenen in Galizien. Die absolutistische
österreichische Regierung förderte sie als Gegengewicht gegen die Polen, ihre
alten Bedränger. Diese Förderung des Bauernvolkes der Ruthenen ergab sich
übrigens schon aus der von der österreichischen Regierung allgemein angestrebten
Verbesserung der Lage der Bauern in Galizien, die auch für die polnischen sehr
drückend war. Die Ruthenen erwiesen sich für diese Obsorge dankbar; man
begann von den "Tirolern des Ostens" zu sprechen. Die Polen machten dafür
der österreichischen Regierung den Borwurf, die Ruthenen erst "entdeckt" zu
haben, denn bis dahin galten sie als eine Art griechisch-katholischer Polen.
Als dann Ende der 1860 er Jahre die Polen zur Herrschaft kamen und durch
ihre kluge Politik in Wien zu ungemessenem Einfluß gelangten, begann die
bekannte Bedrückung der Ruthenen und Deutschen in Galizen. Nun vermochte
die Zentralregierung wenig mehr zu helfen. "Gott ist hoch, der Kaiser ist
weit, Gerechtigkeit kann man nicht erreichen" wurde beim ruthenischen Bauern
eine geflügelte Redensart. In dieser Not griffen sie zum Wanderstab. Tausende
verließen ihre Heimat und wanderten nach Amerika. Vorwiegend in der
ruthenischen Intelligenz machten sich dagegen zwei Richtungen bemerkbar. Die
eine -- meist mißvergnügte Pfarrer, Lehrer, Advokaten u. tgi. -- ließen sich
von Rußland gewinnen. Die russische Propaganda hat schon seit mehr als
sieben Jahrzehnten in Galizien eingesetzt und unausgesetzt gewühlt. Als Vor¬
wand benutzte mau anfangs die Pflege der russischen Sprache und Literatur,
später die Herstellung des orthodoxen Glaubens, dem die Ruthenen entfremdet
worden waren. Die Anhänger Rußlands nannten sich "Altruthenen". Im
Gegensatz zu ihnen stand die jungruthenische Richtung, welche im Geiste des
ukrainischen Dichters Schewtschenko für die bedrückten Ruthenen den Kampf
gegen Rußland aufnahm. Die Jungruthenen traten zugleich für die Rechte
der Ruthenen in Galizien gegen die Polen auf. Unter ihrer Führung erfolgte
eine nationale und wirtschaftliche Organisation, die, zeitweilig von der öster¬
reichischen Regierung unterstützt, schöne Erfolge errang. Auch die Erforschung
ihrer Geschichte, Sprache und ihres Volktums schrieben sie auf ihr Programm
und gründeten als eine Akademie der Wissenschaften die Schewtschenko-
gesellschaft in Lemberg. Die jungruthenischen Schutzorganisationen in Galizien
wurden auch der Hort der russischen Ruthenen. Um ihre Stellung zu stärken,
suchten die Jungruthenen auch Anschluß an die Deutschen. Ihr höchstes politisches
Ziel bildet die Wiedererrichtung eines ruthenischen Staates -- der Ukraina.


Zur ruthenischen Frage

Erscheinen gedruckter Schriften in dieser Sprache, ebenso alle dramatischen Vor¬
stellungen und Vorträge ruthenischer Lieder verboten. Erst nach der Revolution
von 1905 und nach der Einführung 6er Verfassung trat eine Wendung zum
Besseren ein. Aber der Schaden, den die Ruthenen durch die lange Unter¬
drückung erlitten haben, ist unendlich groß und nicht so leicht und rasch zu
überwinden. Zu den schwersten Schäden zählt das Fehlen ruthenischer Volks¬
schulen, wie dies schon Cleinow scharf betont hat.

Besser gestaltete sich die Lage der Ruthenen in Galizien. Die absolutistische
österreichische Regierung förderte sie als Gegengewicht gegen die Polen, ihre
alten Bedränger. Diese Förderung des Bauernvolkes der Ruthenen ergab sich
übrigens schon aus der von der österreichischen Regierung allgemein angestrebten
Verbesserung der Lage der Bauern in Galizien, die auch für die polnischen sehr
drückend war. Die Ruthenen erwiesen sich für diese Obsorge dankbar; man
begann von den „Tirolern des Ostens" zu sprechen. Die Polen machten dafür
der österreichischen Regierung den Borwurf, die Ruthenen erst „entdeckt" zu
haben, denn bis dahin galten sie als eine Art griechisch-katholischer Polen.
Als dann Ende der 1860 er Jahre die Polen zur Herrschaft kamen und durch
ihre kluge Politik in Wien zu ungemessenem Einfluß gelangten, begann die
bekannte Bedrückung der Ruthenen und Deutschen in Galizen. Nun vermochte
die Zentralregierung wenig mehr zu helfen. „Gott ist hoch, der Kaiser ist
weit, Gerechtigkeit kann man nicht erreichen" wurde beim ruthenischen Bauern
eine geflügelte Redensart. In dieser Not griffen sie zum Wanderstab. Tausende
verließen ihre Heimat und wanderten nach Amerika. Vorwiegend in der
ruthenischen Intelligenz machten sich dagegen zwei Richtungen bemerkbar. Die
eine — meist mißvergnügte Pfarrer, Lehrer, Advokaten u. tgi. — ließen sich
von Rußland gewinnen. Die russische Propaganda hat schon seit mehr als
sieben Jahrzehnten in Galizien eingesetzt und unausgesetzt gewühlt. Als Vor¬
wand benutzte mau anfangs die Pflege der russischen Sprache und Literatur,
später die Herstellung des orthodoxen Glaubens, dem die Ruthenen entfremdet
worden waren. Die Anhänger Rußlands nannten sich „Altruthenen". Im
Gegensatz zu ihnen stand die jungruthenische Richtung, welche im Geiste des
ukrainischen Dichters Schewtschenko für die bedrückten Ruthenen den Kampf
gegen Rußland aufnahm. Die Jungruthenen traten zugleich für die Rechte
der Ruthenen in Galizien gegen die Polen auf. Unter ihrer Führung erfolgte
eine nationale und wirtschaftliche Organisation, die, zeitweilig von der öster¬
reichischen Regierung unterstützt, schöne Erfolge errang. Auch die Erforschung
ihrer Geschichte, Sprache und ihres Volktums schrieben sie auf ihr Programm
und gründeten als eine Akademie der Wissenschaften die Schewtschenko-
gesellschaft in Lemberg. Die jungruthenischen Schutzorganisationen in Galizien
wurden auch der Hort der russischen Ruthenen. Um ihre Stellung zu stärken,
suchten die Jungruthenen auch Anschluß an die Deutschen. Ihr höchstes politisches
Ziel bildet die Wiedererrichtung eines ruthenischen Staates — der Ukraina.


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[0409] Zur ruthenischen Frage Erscheinen gedruckter Schriften in dieser Sprache, ebenso alle dramatischen Vor¬ stellungen und Vorträge ruthenischer Lieder verboten. Erst nach der Revolution von 1905 und nach der Einführung 6er Verfassung trat eine Wendung zum Besseren ein. Aber der Schaden, den die Ruthenen durch die lange Unter¬ drückung erlitten haben, ist unendlich groß und nicht so leicht und rasch zu überwinden. Zu den schwersten Schäden zählt das Fehlen ruthenischer Volks¬ schulen, wie dies schon Cleinow scharf betont hat. Besser gestaltete sich die Lage der Ruthenen in Galizien. Die absolutistische österreichische Regierung förderte sie als Gegengewicht gegen die Polen, ihre alten Bedränger. Diese Förderung des Bauernvolkes der Ruthenen ergab sich übrigens schon aus der von der österreichischen Regierung allgemein angestrebten Verbesserung der Lage der Bauern in Galizien, die auch für die polnischen sehr drückend war. Die Ruthenen erwiesen sich für diese Obsorge dankbar; man begann von den „Tirolern des Ostens" zu sprechen. Die Polen machten dafür der österreichischen Regierung den Borwurf, die Ruthenen erst „entdeckt" zu haben, denn bis dahin galten sie als eine Art griechisch-katholischer Polen. Als dann Ende der 1860 er Jahre die Polen zur Herrschaft kamen und durch ihre kluge Politik in Wien zu ungemessenem Einfluß gelangten, begann die bekannte Bedrückung der Ruthenen und Deutschen in Galizen. Nun vermochte die Zentralregierung wenig mehr zu helfen. „Gott ist hoch, der Kaiser ist weit, Gerechtigkeit kann man nicht erreichen" wurde beim ruthenischen Bauern eine geflügelte Redensart. In dieser Not griffen sie zum Wanderstab. Tausende verließen ihre Heimat und wanderten nach Amerika. Vorwiegend in der ruthenischen Intelligenz machten sich dagegen zwei Richtungen bemerkbar. Die eine — meist mißvergnügte Pfarrer, Lehrer, Advokaten u. tgi. — ließen sich von Rußland gewinnen. Die russische Propaganda hat schon seit mehr als sieben Jahrzehnten in Galizien eingesetzt und unausgesetzt gewühlt. Als Vor¬ wand benutzte mau anfangs die Pflege der russischen Sprache und Literatur, später die Herstellung des orthodoxen Glaubens, dem die Ruthenen entfremdet worden waren. Die Anhänger Rußlands nannten sich „Altruthenen". Im Gegensatz zu ihnen stand die jungruthenische Richtung, welche im Geiste des ukrainischen Dichters Schewtschenko für die bedrückten Ruthenen den Kampf gegen Rußland aufnahm. Die Jungruthenen traten zugleich für die Rechte der Ruthenen in Galizien gegen die Polen auf. Unter ihrer Führung erfolgte eine nationale und wirtschaftliche Organisation, die, zeitweilig von der öster¬ reichischen Regierung unterstützt, schöne Erfolge errang. Auch die Erforschung ihrer Geschichte, Sprache und ihres Volktums schrieben sie auf ihr Programm und gründeten als eine Akademie der Wissenschaften die Schewtschenko- gesellschaft in Lemberg. Die jungruthenischen Schutzorganisationen in Galizien wurden auch der Hort der russischen Ruthenen. Um ihre Stellung zu stärken, suchten die Jungruthenen auch Anschluß an die Deutschen. Ihr höchstes politisches Ziel bildet die Wiedererrichtung eines ruthenischen Staates — der Ukraina.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/409>, abgerufen am 23.07.2024.