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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und die Koalition

Nach mehrmonatiger Abwesenheit ins Land zurückgekehrt und mich auf
der Physiognomie Warschaus umsehend, bemerke ich einen in der Seele ange¬
häuften Niederschlag von Bitterkeit und Erregtheit, der hervorgerufen ist durch
all das Schlimme, das der Krieg mit sich bringt, der nach rechts und links
empfindliche Schläge, manchmal blindlings, austeilt. Aber neben dem Chöre
der täglichen Beschwerden, der kleineren oder größeren Klagen, empfand ich mit
Genugtuung, um nicht zu sagen mit Freude, jenen nie schweigenden großen
Schmerz, der der Schmerz des ganzen Volles ist. ein heilsamer Schmerz, weil
er in sich schließt den Herd unerschöpflicher Wünsche, den Quell unerschöpflicher
Opferbereitschaft, den Schmerz der Sehnsucht und kriegerischer Glut. Dieser
Schmerz, umgeben von der Majestät eines ganzen Jahrhunderts der Auf¬
opferung auf dem Altar des Vaterlandes, der Schmerz, der durch den Mund
unseres größten Dichters gierig nach dem Blute Moskaus rief, der von
Mickiewicz und Mochnacki bis zu Wvspanski nach dem großen Krieg rief, mit
der Stimme des sich wieder erneuernden Volkes nach dem großen Krieg der
Völker rief, in dem Polen wieder auferstehen solle, dieser Schmerz herrscht
heute im Herzen des Polen und dämpft und verschlingt in sich alle andere
Unbill und Bitterkeit. Aus ihm gehen alle Wünsche hervor. Er beseitige alle
Zweifel. Denn um welchen anderen Krieg hätte Polen mit leidenschaftlichem,
unterirdischem Geflüster gebetet, wenn nicht um den Krieg Deutschlands und
Österreich. Ungarns gegen Rußland? Nur dieser Krieg, nur ein für beide
Staaten siegreicher Krieg konnte den russischen Soldaten aushalten in seinem
Vormarsch nach Krakau, der auch war eine Strafexpedition gegen das Herz
Polens, das in den Mauern des Wawel schlägt.

Einer der bedeutendsten deutschen Staatsmänner hat jüngst im deutschen
Reichstage anläßlich der Gegenüberstellung von Krieg und sozialer Revolution
gesagt: "Der Krieg ist auch eine Revolution". Der tiefe Inhalt dieses Satzes
wird vor allem klar bei Anwendung auf die polnische Frage. Der gegen¬
wärtige Krieg, der Rußland eine Niederlage brachte, wurde zur Revolution im
Bereich der die polnische Frage angehenden Verhältnisse, zur Revolution, ohne
die unsere Rückkehr zu politischer Existenz weder zu verwirklichen noch zu denken
gewesen wäre. Sie erst ließ alle empfinden, wie ein Block erdrückend auf dem
Grabe des polnischen Staates lag und wer an diesem Grabe die Friedhofs¬
wache hielt. Alle die Wege unseres Todes, die Wege unserer nationalen und
Politischen Vernichtung, die noch vor anderthalb Jahren wie ein Abgrund zu
unseren Füßen klafften, sind heute, wie gesagt, für immer abgeschnitten und sie
wurden abgeschnitten in dem Augenblick, als unter den Schlägen Deutschlands
und Österreichs der politische Bau des Europas des Wiener Kongresses zerstört
in Trümmer sank.

Denn der Wiener Kongreß, der für hundert Jahre die Weltkarte bestimmte,
war der Regulator, der den Frieden Europas auf das Grab Polens stützte --
nur über seinem Ruin, nur durch Zerschmetterung seines sür uns tödlichen


Grenzboten II11916 2
Deutschland und die Koalition

Nach mehrmonatiger Abwesenheit ins Land zurückgekehrt und mich auf
der Physiognomie Warschaus umsehend, bemerke ich einen in der Seele ange¬
häuften Niederschlag von Bitterkeit und Erregtheit, der hervorgerufen ist durch
all das Schlimme, das der Krieg mit sich bringt, der nach rechts und links
empfindliche Schläge, manchmal blindlings, austeilt. Aber neben dem Chöre
der täglichen Beschwerden, der kleineren oder größeren Klagen, empfand ich mit
Genugtuung, um nicht zu sagen mit Freude, jenen nie schweigenden großen
Schmerz, der der Schmerz des ganzen Volles ist. ein heilsamer Schmerz, weil
er in sich schließt den Herd unerschöpflicher Wünsche, den Quell unerschöpflicher
Opferbereitschaft, den Schmerz der Sehnsucht und kriegerischer Glut. Dieser
Schmerz, umgeben von der Majestät eines ganzen Jahrhunderts der Auf¬
opferung auf dem Altar des Vaterlandes, der Schmerz, der durch den Mund
unseres größten Dichters gierig nach dem Blute Moskaus rief, der von
Mickiewicz und Mochnacki bis zu Wvspanski nach dem großen Krieg rief, mit
der Stimme des sich wieder erneuernden Volkes nach dem großen Krieg der
Völker rief, in dem Polen wieder auferstehen solle, dieser Schmerz herrscht
heute im Herzen des Polen und dämpft und verschlingt in sich alle andere
Unbill und Bitterkeit. Aus ihm gehen alle Wünsche hervor. Er beseitige alle
Zweifel. Denn um welchen anderen Krieg hätte Polen mit leidenschaftlichem,
unterirdischem Geflüster gebetet, wenn nicht um den Krieg Deutschlands und
Österreich. Ungarns gegen Rußland? Nur dieser Krieg, nur ein für beide
Staaten siegreicher Krieg konnte den russischen Soldaten aushalten in seinem
Vormarsch nach Krakau, der auch war eine Strafexpedition gegen das Herz
Polens, das in den Mauern des Wawel schlägt.

Einer der bedeutendsten deutschen Staatsmänner hat jüngst im deutschen
Reichstage anläßlich der Gegenüberstellung von Krieg und sozialer Revolution
gesagt: „Der Krieg ist auch eine Revolution". Der tiefe Inhalt dieses Satzes
wird vor allem klar bei Anwendung auf die polnische Frage. Der gegen¬
wärtige Krieg, der Rußland eine Niederlage brachte, wurde zur Revolution im
Bereich der die polnische Frage angehenden Verhältnisse, zur Revolution, ohne
die unsere Rückkehr zu politischer Existenz weder zu verwirklichen noch zu denken
gewesen wäre. Sie erst ließ alle empfinden, wie ein Block erdrückend auf dem
Grabe des polnischen Staates lag und wer an diesem Grabe die Friedhofs¬
wache hielt. Alle die Wege unseres Todes, die Wege unserer nationalen und
Politischen Vernichtung, die noch vor anderthalb Jahren wie ein Abgrund zu
unseren Füßen klafften, sind heute, wie gesagt, für immer abgeschnitten und sie
wurden abgeschnitten in dem Augenblick, als unter den Schlägen Deutschlands
und Österreichs der politische Bau des Europas des Wiener Kongresses zerstört
in Trümmer sank.

Denn der Wiener Kongreß, der für hundert Jahre die Weltkarte bestimmte,
war der Regulator, der den Frieden Europas auf das Grab Polens stützte —
nur über seinem Ruin, nur durch Zerschmetterung seines sür uns tödlichen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/29>, abgerufen am 23.07.2024.