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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und die Koalition

haltende Band riß, hat sich der Mechanismus so gelöst, daß schon die Achsen
aus ihrem Gefüge treten und daß die Räder im Zahnrad nicht mehr in das
Getriebe greifen. Einzelne Räder mögen noch sausen, aber jedes nur für sich.
Die uns aus alten Zeiten so wohlbekannte Warschauer Polizei hat sich, wie
man hört, nach Osten begeben, um das Fürstentum Trapezunt in Besitz zu
nehmen. Das ist das einzige "Plus" in der Rechnung der russischen Bürokratie.
Weil sich die Moskaner Polizei in Warschau ebenso fremd fühlte, wie sie sich
heute in Trapezunt fühlen muß, hat sie ein moralisches Recht, umgekehrt auch
zu sagen, daß sie sich in Trapezunt ebenso heimisch fühlt wie in Warschau.
Und doch ist in jenem vorausgesehenen, in jenem erträumten Bilde von der
zerschmetterten Macht für den Polen etwas, was ihn verwundet und mit Sorge
erfüllt. Es ist das Geschick der Polen, die unter russischen Fahnen am Kriege
teilnahmen, daß sie auch die Gefangenschaft teilen mußten. Was immer den
Menschen vom Menschen trennt, was sie immer nach zwei entgegengesetzten
Richtungen stoßen kann, das alles stand in diesem Kriege unerbittlich zwischen
dem Polen und dem Mongolen. Es steht zwischen ihnen die Geschichte, es
stehen zwischen ihnen die größten und heiligsten Namen der Religion des
polnischen Märtyrertums, es stehen zwischen ihnen das Blut und die Tränen
des Cholmer Landes, der Brand Galiziens und die rauchende Asche des König¬
reichs: während der Bauer aus Podleste, durch eine momentane Lüge verführt,
als müsse er die heimische Erde schützen, sich an San und Bug schlug, ver¬
brannte der Russe hinter seinem Rücken sein Haus und führte die geschändeten
Frauen davon. Wenn wir bedenken, daß dieser Bauer, über den wahren Sach¬
verhalt aufgeklärt, heute mit dem Russen ein gemeinsames Geschick trägt, so
kann man sich wohl die brennende Unerträglichkeit dieser Gemeinsamkeit vor¬
stellen. Ärger als Wunden, die er im Kampfe für eine fremde Sache erlitten,
ärger als die Sehnsucht nach seinem Lande quält ihn der stete Umgang mit
dem Russen, in dem er seinen Bedrücker erkannt hat, den er als Brandstifter
haßt und über den er sich doch wie über einen armen Teufel erbarmen muß,
sich erbarmen mit dem Fluch der Verzweiflung und mit Flüchen unter Tränen. . .

Was ihm zweifellos Linderung schaffen könnte, wäre die Absonderung von
der Gesamtheit der Gefangenen des russischen Reiches und die Vereinigung in
besonderen Lagern, wo die Polen, abgeschlossen im eigenen Milieu, wie von
dem russischen Joch, so endlich auch von der russischen Gesellschaft befreit würden.

Zur Trennung von dem Lande, zur Gefangenschaft, zu dem strengen
Reglement der Entbehrungen und Beschränkungen, zu allem was quält und
zehrt, verurteilt, erträgt der Pole im deutschen Lager am schwersten die Taten¬
losigkeit. Nicht die Tatenlosigkeit, die im Händefalten besteht, weil dagegen
deutsche Wirtschaftlichkeit und Umsicht Rat weiß, in dem sie für jeden Arbeits¬
und Werkstätten eröffnet, sondern die, die in dem Fernsein von dem großen
Drama der kämpfenden Weltmächte besteht. Der polnische Gefangene im
deutschen Lager leidet für sich und für sein Land, für das Land, dem die Ereignisse


Deutschland und die Koalition

haltende Band riß, hat sich der Mechanismus so gelöst, daß schon die Achsen
aus ihrem Gefüge treten und daß die Räder im Zahnrad nicht mehr in das
Getriebe greifen. Einzelne Räder mögen noch sausen, aber jedes nur für sich.
Die uns aus alten Zeiten so wohlbekannte Warschauer Polizei hat sich, wie
man hört, nach Osten begeben, um das Fürstentum Trapezunt in Besitz zu
nehmen. Das ist das einzige „Plus" in der Rechnung der russischen Bürokratie.
Weil sich die Moskaner Polizei in Warschau ebenso fremd fühlte, wie sie sich
heute in Trapezunt fühlen muß, hat sie ein moralisches Recht, umgekehrt auch
zu sagen, daß sie sich in Trapezunt ebenso heimisch fühlt wie in Warschau.
Und doch ist in jenem vorausgesehenen, in jenem erträumten Bilde von der
zerschmetterten Macht für den Polen etwas, was ihn verwundet und mit Sorge
erfüllt. Es ist das Geschick der Polen, die unter russischen Fahnen am Kriege
teilnahmen, daß sie auch die Gefangenschaft teilen mußten. Was immer den
Menschen vom Menschen trennt, was sie immer nach zwei entgegengesetzten
Richtungen stoßen kann, das alles stand in diesem Kriege unerbittlich zwischen
dem Polen und dem Mongolen. Es steht zwischen ihnen die Geschichte, es
stehen zwischen ihnen die größten und heiligsten Namen der Religion des
polnischen Märtyrertums, es stehen zwischen ihnen das Blut und die Tränen
des Cholmer Landes, der Brand Galiziens und die rauchende Asche des König¬
reichs: während der Bauer aus Podleste, durch eine momentane Lüge verführt,
als müsse er die heimische Erde schützen, sich an San und Bug schlug, ver¬
brannte der Russe hinter seinem Rücken sein Haus und führte die geschändeten
Frauen davon. Wenn wir bedenken, daß dieser Bauer, über den wahren Sach¬
verhalt aufgeklärt, heute mit dem Russen ein gemeinsames Geschick trägt, so
kann man sich wohl die brennende Unerträglichkeit dieser Gemeinsamkeit vor¬
stellen. Ärger als Wunden, die er im Kampfe für eine fremde Sache erlitten,
ärger als die Sehnsucht nach seinem Lande quält ihn der stete Umgang mit
dem Russen, in dem er seinen Bedrücker erkannt hat, den er als Brandstifter
haßt und über den er sich doch wie über einen armen Teufel erbarmen muß,
sich erbarmen mit dem Fluch der Verzweiflung und mit Flüchen unter Tränen. . .

Was ihm zweifellos Linderung schaffen könnte, wäre die Absonderung von
der Gesamtheit der Gefangenen des russischen Reiches und die Vereinigung in
besonderen Lagern, wo die Polen, abgeschlossen im eigenen Milieu, wie von
dem russischen Joch, so endlich auch von der russischen Gesellschaft befreit würden.

Zur Trennung von dem Lande, zur Gefangenschaft, zu dem strengen
Reglement der Entbehrungen und Beschränkungen, zu allem was quält und
zehrt, verurteilt, erträgt der Pole im deutschen Lager am schwersten die Taten¬
losigkeit. Nicht die Tatenlosigkeit, die im Händefalten besteht, weil dagegen
deutsche Wirtschaftlichkeit und Umsicht Rat weiß, in dem sie für jeden Arbeits¬
und Werkstätten eröffnet, sondern die, die in dem Fernsein von dem großen
Drama der kämpfenden Weltmächte besteht. Der polnische Gefangene im
deutschen Lager leidet für sich und für sein Land, für das Land, dem die Ereignisse


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/24>, abgerufen am 23.07.2024.