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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Die koloniale Alternative

Kolonisationsarbeit des Mittelalters, die Eindeutschung des Ostens, weiter¬
zuführen, die russische Gefahr von den Mittelpunkten deutschen Lebens immer
weiter abzubringen.

So weisen uns geographische und politische Lage gleichermaßen dahin,
für unsere kolonialen Bestrebungen künftighin vorwiegend das kontinentale
System zu wählen. Dieser Krieg sollte uns die Gelegenheit dazu bieten. Was
uns im Osten an kolonialen Möglichkeiten zuwächst, bedeutet eine unmittelbare
Verstärkung unserer Kraft, und es führt uns aus der Unnatur unserer ein¬
geschlossenen Lage heraus, die in der wachsenden Verstädterung und in der
ungesunden sozialen Schichtung -- auch in jenem Bildungsproletariat -- ihren
augenfälligen Ausdruck findet; denn sie bietet klimatisch brauchbare, mit unseren
Wohnsitzen geographisch verbundene, daher durch keine Seemacht lösbare
Siedlungsgebiete.

Die Folgerungen, die man aus der Öffnung des Weges nach Konstantinopel
gezogen hat, bedeuten nichts anderes, als daß man für den Wert von Land¬
verbindungen jetzt erst den richtigen Blick bekommt, während man vorher, von
Englands Vorbild verblendet, die jenem eigene, aber auch von ihm beherrschte
"Hochstraße der See" überschätzte. Schon gehen koloniale Theoretiker soweit,
ein zu Lande erreichbares Kolonialreich vom oberen Nil bis nach dem Westen
Afrikas als Ertrag dieses Krieges für uns auszudenken*). Flete uns diese
Frucht zu, umso besser für uns, denn als Kontinentalvolk sind wir den Eng¬
ländern, die auf die Seeverbindung angewiesen sind, überlegen. Aber ein
solches Reich darf in keiner Weise durch hie Schmälerung unserer Volkskraft
und unserer Ellbogenfreiheit in Europa erkauft werden.

Unsere bisherigen Kolonie in Afrika werden wir wohl beim Friedensschluß
zurückerhalten. Davon aber sollten uns die Erfahrungen des Krieges abgebracht
haben, daß wir sie allein auf die Seeverbindung durch den -- morgen wie
heute -- englischen Kanal fundieren. Zuviel gutes deutsches Blut ist bei der
Verteidigung jener verlorenen Posten geflossen. Ob wir durch die Beherrschung
des östlichen Mittelmeeres unserem Ziele näher kämen, hängt davon ab, wie
stark wir Englands Weltstellung schwächen können. Von einem geschriebenen
Abkommen über die Freiheit der Meere kann man sich nichts versprechen;
solche Pflanzen vertragen den rauhen Wind des Krieges nicht. Die Londoner
Deklaration wurde in London außer Kraft gesetzt. Und die Kongoakte, hinter
der selbst Bismarck einen Teil unserer Schutzgebiete gesichert glaubte, hat die
erste Kriegswoche nicht überlebt.





*) Hettner a. a. O. S> 113.
Die koloniale Alternative

Kolonisationsarbeit des Mittelalters, die Eindeutschung des Ostens, weiter¬
zuführen, die russische Gefahr von den Mittelpunkten deutschen Lebens immer
weiter abzubringen.

So weisen uns geographische und politische Lage gleichermaßen dahin,
für unsere kolonialen Bestrebungen künftighin vorwiegend das kontinentale
System zu wählen. Dieser Krieg sollte uns die Gelegenheit dazu bieten. Was
uns im Osten an kolonialen Möglichkeiten zuwächst, bedeutet eine unmittelbare
Verstärkung unserer Kraft, und es führt uns aus der Unnatur unserer ein¬
geschlossenen Lage heraus, die in der wachsenden Verstädterung und in der
ungesunden sozialen Schichtung — auch in jenem Bildungsproletariat — ihren
augenfälligen Ausdruck findet; denn sie bietet klimatisch brauchbare, mit unseren
Wohnsitzen geographisch verbundene, daher durch keine Seemacht lösbare
Siedlungsgebiete.

Die Folgerungen, die man aus der Öffnung des Weges nach Konstantinopel
gezogen hat, bedeuten nichts anderes, als daß man für den Wert von Land¬
verbindungen jetzt erst den richtigen Blick bekommt, während man vorher, von
Englands Vorbild verblendet, die jenem eigene, aber auch von ihm beherrschte
„Hochstraße der See" überschätzte. Schon gehen koloniale Theoretiker soweit,
ein zu Lande erreichbares Kolonialreich vom oberen Nil bis nach dem Westen
Afrikas als Ertrag dieses Krieges für uns auszudenken*). Flete uns diese
Frucht zu, umso besser für uns, denn als Kontinentalvolk sind wir den Eng¬
ländern, die auf die Seeverbindung angewiesen sind, überlegen. Aber ein
solches Reich darf in keiner Weise durch hie Schmälerung unserer Volkskraft
und unserer Ellbogenfreiheit in Europa erkauft werden.

Unsere bisherigen Kolonie in Afrika werden wir wohl beim Friedensschluß
zurückerhalten. Davon aber sollten uns die Erfahrungen des Krieges abgebracht
haben, daß wir sie allein auf die Seeverbindung durch den — morgen wie
heute — englischen Kanal fundieren. Zuviel gutes deutsches Blut ist bei der
Verteidigung jener verlorenen Posten geflossen. Ob wir durch die Beherrschung
des östlichen Mittelmeeres unserem Ziele näher kämen, hängt davon ab, wie
stark wir Englands Weltstellung schwächen können. Von einem geschriebenen
Abkommen über die Freiheit der Meere kann man sich nichts versprechen;
solche Pflanzen vertragen den rauhen Wind des Krieges nicht. Die Londoner
Deklaration wurde in London außer Kraft gesetzt. Und die Kongoakte, hinter
der selbst Bismarck einen Teil unserer Schutzgebiete gesichert glaubte, hat die
erste Kriegswoche nicht überlebt.





*) Hettner a. a. O. S> 113.
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[0213] Die koloniale Alternative Kolonisationsarbeit des Mittelalters, die Eindeutschung des Ostens, weiter¬ zuführen, die russische Gefahr von den Mittelpunkten deutschen Lebens immer weiter abzubringen. So weisen uns geographische und politische Lage gleichermaßen dahin, für unsere kolonialen Bestrebungen künftighin vorwiegend das kontinentale System zu wählen. Dieser Krieg sollte uns die Gelegenheit dazu bieten. Was uns im Osten an kolonialen Möglichkeiten zuwächst, bedeutet eine unmittelbare Verstärkung unserer Kraft, und es führt uns aus der Unnatur unserer ein¬ geschlossenen Lage heraus, die in der wachsenden Verstädterung und in der ungesunden sozialen Schichtung — auch in jenem Bildungsproletariat — ihren augenfälligen Ausdruck findet; denn sie bietet klimatisch brauchbare, mit unseren Wohnsitzen geographisch verbundene, daher durch keine Seemacht lösbare Siedlungsgebiete. Die Folgerungen, die man aus der Öffnung des Weges nach Konstantinopel gezogen hat, bedeuten nichts anderes, als daß man für den Wert von Land¬ verbindungen jetzt erst den richtigen Blick bekommt, während man vorher, von Englands Vorbild verblendet, die jenem eigene, aber auch von ihm beherrschte „Hochstraße der See" überschätzte. Schon gehen koloniale Theoretiker soweit, ein zu Lande erreichbares Kolonialreich vom oberen Nil bis nach dem Westen Afrikas als Ertrag dieses Krieges für uns auszudenken*). Flete uns diese Frucht zu, umso besser für uns, denn als Kontinentalvolk sind wir den Eng¬ ländern, die auf die Seeverbindung angewiesen sind, überlegen. Aber ein solches Reich darf in keiner Weise durch hie Schmälerung unserer Volkskraft und unserer Ellbogenfreiheit in Europa erkauft werden. Unsere bisherigen Kolonie in Afrika werden wir wohl beim Friedensschluß zurückerhalten. Davon aber sollten uns die Erfahrungen des Krieges abgebracht haben, daß wir sie allein auf die Seeverbindung durch den — morgen wie heute — englischen Kanal fundieren. Zuviel gutes deutsches Blut ist bei der Verteidigung jener verlorenen Posten geflossen. Ob wir durch die Beherrschung des östlichen Mittelmeeres unserem Ziele näher kämen, hängt davon ab, wie stark wir Englands Weltstellung schwächen können. Von einem geschriebenen Abkommen über die Freiheit der Meere kann man sich nichts versprechen; solche Pflanzen vertragen den rauhen Wind des Krieges nicht. Die Londoner Deklaration wurde in London außer Kraft gesetzt. Und die Kongoakte, hinter der selbst Bismarck einen Teil unserer Schutzgebiete gesichert glaubte, hat die erste Kriegswoche nicht überlebt. *) Hettner a. a. O. S> 113.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/213>, abgerufen am 23.07.2024.