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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Rudolf Gneist

Wie kam der Romanist von den Pandekten auf das Staatsrecht, der
Deutsche nach England? Gneist war auch in dieser Hinsicht ein Kind seiner
Zeit. Noch war das revolutionär zerrissene Parteitreiben Deutschlands zu
schwach, um auf eigenen Füßen zu stehen. Die konservative Richtung mit
ihren absolustisch-altständischen Bestrebungen hoffte auf die starke Stütze des
Kaisers Nikolaus des Ersten von Rußland als des Felsen, an dem sich die Wogen
der Revolution brachen. Umgekehrt mußten die Liberalen den konstitutionellen
Ausbau des Staates und die künftige deutsche Einheit im engsten Anschlusse an
das Mutterland des Konstitutionalismus, an England, suchen, das damals noch
mit einer wohlwollenden Herablassung auf den armseligen deutschen Vetter blickte.

Nun hatten freilich die verfassungsmäßigen Freiheiten Englands, die man
auf den fremden Boden des Festlandes verpflanzt hatte, zunächst allgemein
enttäuscht. Die schärfste Reaktion des Polizeistaates bewegte sich unbezwungen
im Rahmen der neuen Verfassung. Wie war das möglich? Gneist glaubte
die Antwort gefunden zu haben, weil man nur die Grundzüge englischen Ver¬
fassungslebens, aber nicht die englische Verwaltung angenommen habe. So
entstand die Forderung des Rechtsstaates, einer Verwaltung nach Gesetzen, die
wenigstens in allen wichtigeren Fällen unter dem Schutze einer besonderen
Verwaltungsgerichtsbarkeit stehen sollte. Dieses politische Bedürfnis des Liberalen,
der die Verwirklichung seiner politischen Ideale erstrebte, rechtfertigte die wissen¬
schaftliche Darstellung des englischen Verwaltungsrechtes, führte den Pandektisten
zum Staatsrechte.

Die staatsrechtlichen Schriften Greises, die sich fast ausschließlich um
englisches Verwaltungsrecht mit deutschen Parallelen und deutschen Zukunfts¬
aufgaben drehen, sind daher nicht vom wissenschaftlichen Standpunkte, sondern
als politische Tendenzschriften zu würdigen. Sie sollten der Durchführung des
liberalen Staatsideals dienen. Die Anknüpfung an England war dabei vielfach
eine rein äußerliche. In England sah er wie einst ähnlich sein großer Vor¬
gänger Montesquieu das verwirklicht, was er für sein Vaterland erstrebte.
Daß das wirkliche England ein anderes war und ist, als beide sich dachten, ist
heute namentlich nach den Erfahrungen des Weltkrieges eine Binsenwahrheit.
Weder aus Montesquieu kann man englisches Staatsrecht noch aus Gneist
englisches Verwaltungsrecht selbst für ihre Zeit kennen lernen. Insoweit haben
ihre Schriften nur eine Bedeutung in der Geschichte der menschlichen Irrtümer.
Doch in der Geschichte der menschlichen Entwicklung spielen Irrtümer oft eine
größere Rolle als Wahrheiten.

So haben denn auch Greises Schriften über England mit dem wirklichen
England kaum mehr gemein als den Namen. Erst die nach Gneist entstandenen
Schriften, wie verschieden auch ihr Wert sein mag, haben uns das wirkliche
England kennen lernen.

Der Gedanke des Rechtsstaates, einer Verwaltung nach Gesetzen, sollte
aus England nach Deutschland herüberstrahlen. Und doch war das, was in


Rudolf Gneist

Wie kam der Romanist von den Pandekten auf das Staatsrecht, der
Deutsche nach England? Gneist war auch in dieser Hinsicht ein Kind seiner
Zeit. Noch war das revolutionär zerrissene Parteitreiben Deutschlands zu
schwach, um auf eigenen Füßen zu stehen. Die konservative Richtung mit
ihren absolustisch-altständischen Bestrebungen hoffte auf die starke Stütze des
Kaisers Nikolaus des Ersten von Rußland als des Felsen, an dem sich die Wogen
der Revolution brachen. Umgekehrt mußten die Liberalen den konstitutionellen
Ausbau des Staates und die künftige deutsche Einheit im engsten Anschlusse an
das Mutterland des Konstitutionalismus, an England, suchen, das damals noch
mit einer wohlwollenden Herablassung auf den armseligen deutschen Vetter blickte.

Nun hatten freilich die verfassungsmäßigen Freiheiten Englands, die man
auf den fremden Boden des Festlandes verpflanzt hatte, zunächst allgemein
enttäuscht. Die schärfste Reaktion des Polizeistaates bewegte sich unbezwungen
im Rahmen der neuen Verfassung. Wie war das möglich? Gneist glaubte
die Antwort gefunden zu haben, weil man nur die Grundzüge englischen Ver¬
fassungslebens, aber nicht die englische Verwaltung angenommen habe. So
entstand die Forderung des Rechtsstaates, einer Verwaltung nach Gesetzen, die
wenigstens in allen wichtigeren Fällen unter dem Schutze einer besonderen
Verwaltungsgerichtsbarkeit stehen sollte. Dieses politische Bedürfnis des Liberalen,
der die Verwirklichung seiner politischen Ideale erstrebte, rechtfertigte die wissen¬
schaftliche Darstellung des englischen Verwaltungsrechtes, führte den Pandektisten
zum Staatsrechte.

Die staatsrechtlichen Schriften Greises, die sich fast ausschließlich um
englisches Verwaltungsrecht mit deutschen Parallelen und deutschen Zukunfts¬
aufgaben drehen, sind daher nicht vom wissenschaftlichen Standpunkte, sondern
als politische Tendenzschriften zu würdigen. Sie sollten der Durchführung des
liberalen Staatsideals dienen. Die Anknüpfung an England war dabei vielfach
eine rein äußerliche. In England sah er wie einst ähnlich sein großer Vor¬
gänger Montesquieu das verwirklicht, was er für sein Vaterland erstrebte.
Daß das wirkliche England ein anderes war und ist, als beide sich dachten, ist
heute namentlich nach den Erfahrungen des Weltkrieges eine Binsenwahrheit.
Weder aus Montesquieu kann man englisches Staatsrecht noch aus Gneist
englisches Verwaltungsrecht selbst für ihre Zeit kennen lernen. Insoweit haben
ihre Schriften nur eine Bedeutung in der Geschichte der menschlichen Irrtümer.
Doch in der Geschichte der menschlichen Entwicklung spielen Irrtümer oft eine
größere Rolle als Wahrheiten.

So haben denn auch Greises Schriften über England mit dem wirklichen
England kaum mehr gemein als den Namen. Erst die nach Gneist entstandenen
Schriften, wie verschieden auch ihr Wert sein mag, haben uns das wirkliche
England kennen lernen.

Der Gedanke des Rechtsstaates, einer Verwaltung nach Gesetzen, sollte
aus England nach Deutschland herüberstrahlen. Und doch war das, was in


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[0185] Rudolf Gneist Wie kam der Romanist von den Pandekten auf das Staatsrecht, der Deutsche nach England? Gneist war auch in dieser Hinsicht ein Kind seiner Zeit. Noch war das revolutionär zerrissene Parteitreiben Deutschlands zu schwach, um auf eigenen Füßen zu stehen. Die konservative Richtung mit ihren absolustisch-altständischen Bestrebungen hoffte auf die starke Stütze des Kaisers Nikolaus des Ersten von Rußland als des Felsen, an dem sich die Wogen der Revolution brachen. Umgekehrt mußten die Liberalen den konstitutionellen Ausbau des Staates und die künftige deutsche Einheit im engsten Anschlusse an das Mutterland des Konstitutionalismus, an England, suchen, das damals noch mit einer wohlwollenden Herablassung auf den armseligen deutschen Vetter blickte. Nun hatten freilich die verfassungsmäßigen Freiheiten Englands, die man auf den fremden Boden des Festlandes verpflanzt hatte, zunächst allgemein enttäuscht. Die schärfste Reaktion des Polizeistaates bewegte sich unbezwungen im Rahmen der neuen Verfassung. Wie war das möglich? Gneist glaubte die Antwort gefunden zu haben, weil man nur die Grundzüge englischen Ver¬ fassungslebens, aber nicht die englische Verwaltung angenommen habe. So entstand die Forderung des Rechtsstaates, einer Verwaltung nach Gesetzen, die wenigstens in allen wichtigeren Fällen unter dem Schutze einer besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit stehen sollte. Dieses politische Bedürfnis des Liberalen, der die Verwirklichung seiner politischen Ideale erstrebte, rechtfertigte die wissen¬ schaftliche Darstellung des englischen Verwaltungsrechtes, führte den Pandektisten zum Staatsrechte. Die staatsrechtlichen Schriften Greises, die sich fast ausschließlich um englisches Verwaltungsrecht mit deutschen Parallelen und deutschen Zukunfts¬ aufgaben drehen, sind daher nicht vom wissenschaftlichen Standpunkte, sondern als politische Tendenzschriften zu würdigen. Sie sollten der Durchführung des liberalen Staatsideals dienen. Die Anknüpfung an England war dabei vielfach eine rein äußerliche. In England sah er wie einst ähnlich sein großer Vor¬ gänger Montesquieu das verwirklicht, was er für sein Vaterland erstrebte. Daß das wirkliche England ein anderes war und ist, als beide sich dachten, ist heute namentlich nach den Erfahrungen des Weltkrieges eine Binsenwahrheit. Weder aus Montesquieu kann man englisches Staatsrecht noch aus Gneist englisches Verwaltungsrecht selbst für ihre Zeit kennen lernen. Insoweit haben ihre Schriften nur eine Bedeutung in der Geschichte der menschlichen Irrtümer. Doch in der Geschichte der menschlichen Entwicklung spielen Irrtümer oft eine größere Rolle als Wahrheiten. So haben denn auch Greises Schriften über England mit dem wirklichen England kaum mehr gemein als den Namen. Erst die nach Gneist entstandenen Schriften, wie verschieden auch ihr Wert sein mag, haben uns das wirkliche England kennen lernen. Der Gedanke des Rechtsstaates, einer Verwaltung nach Gesetzen, sollte aus England nach Deutschland herüberstrahlen. Und doch war das, was in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/185>, abgerufen am 23.07.2024.