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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und die Koalition

das Schlachtfeld die erste Station des Krieges ist, so ist das Gefangenenlager
die letzte Station. Hinter dieser letzten Station breitet sich schon nur mehr
eine allerletzte Station aus -- die Friedhöfe der Gefallenen. Zwischen den
beiden Polen braust die Welle des Krieges. Von der Front der kriegerischen
Vorgänge, zurück durch die zweite und dritte Befestigungslinie, durch Wagen¬
park und Nachhut der Armeen bis tief hinein ins Land, vom Feuer der ein¬
schlagenden Geschosse, durch Munitionslager und Waffenfabriken bis zu den
Metall- und Kohlengruben, von den Feldbäckereien über die Werkstätten des
Handwerks bis zu der Feldarbeit: alles pulsiert und ist geschäftig für den
Krieg. Das Gefangenenlager aber ist ein Ort der Ruhe, wo der Krieg er¬
stirbt. Die, die es bewohnen, befinden sich schon außerhalb des Krieges; sie
sind die ersten, die des Friedens teilhaftig wurden; sie sind diejenigen, die
schon faktisch Frieden geschlossen haben. Ihre Hände, frei von Gewehr und
Säbel, suchen nach Hammer und Pflug. Die Gefangenenlager sind ein durch
die Kriegsflut angeschwemmter Niederschlag, aber sie tragen in sich den Vor¬
geschmack des Friedens und eine rasende Sehnsucht nach dem Frieden. Zu
der Fülle der durch den Krieg verursachten Leiden fügen sie ein neues Argument
für den Frieden hinzu: den Umfang der durch den Krieg verursachten Taten¬
losigkeit, der Tatenlosigkeit dieser Hunderttausende von Arbeitshänden, die in
der Kriegsgefangenschaft gebunden bleiben.

Diese Welt der Unfreiheit, die Welt der Kriegsgefangenen, erheischt vor
allem Aufmerksamkeit durch ihre imponierender Zahlen. Die Koalition, die
empfindliche Opfer an Gefallenen bringen mußte, hat auch erschütternde Heka¬
tomben an Gefangenen lassen müssen. Nach der Statistik, die immer neue
Posten zu zählen hat, gibt es in Deutschland über anderthalbhundert Gefan¬
genenlager, von denen jedes mehrere Zehntausende Soldaten zählt. Sie bilden
eine eigene, abgeschlossene, in ihre Art besondere millionenköpfige Welt, die, von
allen anderen Welten abgeschlossen, Menschenexemplare von allen Punkten der
Erde enthält. Und deshalb ist sie so unerschöpflich lehrreich für jeden, der für
die menschliche Natur und für die menschlichen Charaktere auch nur ein
Quentchen Teilnahme besitzt. Sie erstand vor nicht ganz zwei Jahren, kann
jeden Monat der Auflösung verfallen und wird in ihrer mosaikartigen,
märchenhaften und wie der Turm zu Babel legendenhaften Architektur nicht
wieder aufleben. Nicht nur für den Politiker, fondern auch für den Psychologen
und Künstler, für den Ethnographen und Soziologen eine unschätzbare und in
ihrer Art einzige Ernte!

Das Material, das da heranreift, wird sich mit der Zeit auf den
Blättern der Tagebücher, die gewiß in der künftigen Literatur unter der Be¬
zeichnung "Gefangenen-Literatur" eine besondere, reiche Bibliothek bilden werden,
zum Gebrauche von Wissenschaft und Kunst eignen. Ehe indes dieses Material
für die Wissenschaft reif wird, ehe es sich für die Kunst kristallisiert, wollte ich
meinen Landsleuten in einer Skizze und in rohem Zustande ein kleines Bruch-


Deutschland und die Koalition

das Schlachtfeld die erste Station des Krieges ist, so ist das Gefangenenlager
die letzte Station. Hinter dieser letzten Station breitet sich schon nur mehr
eine allerletzte Station aus — die Friedhöfe der Gefallenen. Zwischen den
beiden Polen braust die Welle des Krieges. Von der Front der kriegerischen
Vorgänge, zurück durch die zweite und dritte Befestigungslinie, durch Wagen¬
park und Nachhut der Armeen bis tief hinein ins Land, vom Feuer der ein¬
schlagenden Geschosse, durch Munitionslager und Waffenfabriken bis zu den
Metall- und Kohlengruben, von den Feldbäckereien über die Werkstätten des
Handwerks bis zu der Feldarbeit: alles pulsiert und ist geschäftig für den
Krieg. Das Gefangenenlager aber ist ein Ort der Ruhe, wo der Krieg er¬
stirbt. Die, die es bewohnen, befinden sich schon außerhalb des Krieges; sie
sind die ersten, die des Friedens teilhaftig wurden; sie sind diejenigen, die
schon faktisch Frieden geschlossen haben. Ihre Hände, frei von Gewehr und
Säbel, suchen nach Hammer und Pflug. Die Gefangenenlager sind ein durch
die Kriegsflut angeschwemmter Niederschlag, aber sie tragen in sich den Vor¬
geschmack des Friedens und eine rasende Sehnsucht nach dem Frieden. Zu
der Fülle der durch den Krieg verursachten Leiden fügen sie ein neues Argument
für den Frieden hinzu: den Umfang der durch den Krieg verursachten Taten¬
losigkeit, der Tatenlosigkeit dieser Hunderttausende von Arbeitshänden, die in
der Kriegsgefangenschaft gebunden bleiben.

Diese Welt der Unfreiheit, die Welt der Kriegsgefangenen, erheischt vor
allem Aufmerksamkeit durch ihre imponierender Zahlen. Die Koalition, die
empfindliche Opfer an Gefallenen bringen mußte, hat auch erschütternde Heka¬
tomben an Gefangenen lassen müssen. Nach der Statistik, die immer neue
Posten zu zählen hat, gibt es in Deutschland über anderthalbhundert Gefan¬
genenlager, von denen jedes mehrere Zehntausende Soldaten zählt. Sie bilden
eine eigene, abgeschlossene, in ihre Art besondere millionenköpfige Welt, die, von
allen anderen Welten abgeschlossen, Menschenexemplare von allen Punkten der
Erde enthält. Und deshalb ist sie so unerschöpflich lehrreich für jeden, der für
die menschliche Natur und für die menschlichen Charaktere auch nur ein
Quentchen Teilnahme besitzt. Sie erstand vor nicht ganz zwei Jahren, kann
jeden Monat der Auflösung verfallen und wird in ihrer mosaikartigen,
märchenhaften und wie der Turm zu Babel legendenhaften Architektur nicht
wieder aufleben. Nicht nur für den Politiker, fondern auch für den Psychologen
und Künstler, für den Ethnographen und Soziologen eine unschätzbare und in
ihrer Art einzige Ernte!

Das Material, das da heranreift, wird sich mit der Zeit auf den
Blättern der Tagebücher, die gewiß in der künftigen Literatur unter der Be¬
zeichnung „Gefangenen-Literatur" eine besondere, reiche Bibliothek bilden werden,
zum Gebrauche von Wissenschaft und Kunst eignen. Ehe indes dieses Material
für die Wissenschaft reif wird, ehe es sich für die Kunst kristallisiert, wollte ich
meinen Landsleuten in einer Skizze und in rohem Zustande ein kleines Bruch-


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[0014] Deutschland und die Koalition das Schlachtfeld die erste Station des Krieges ist, so ist das Gefangenenlager die letzte Station. Hinter dieser letzten Station breitet sich schon nur mehr eine allerletzte Station aus — die Friedhöfe der Gefallenen. Zwischen den beiden Polen braust die Welle des Krieges. Von der Front der kriegerischen Vorgänge, zurück durch die zweite und dritte Befestigungslinie, durch Wagen¬ park und Nachhut der Armeen bis tief hinein ins Land, vom Feuer der ein¬ schlagenden Geschosse, durch Munitionslager und Waffenfabriken bis zu den Metall- und Kohlengruben, von den Feldbäckereien über die Werkstätten des Handwerks bis zu der Feldarbeit: alles pulsiert und ist geschäftig für den Krieg. Das Gefangenenlager aber ist ein Ort der Ruhe, wo der Krieg er¬ stirbt. Die, die es bewohnen, befinden sich schon außerhalb des Krieges; sie sind die ersten, die des Friedens teilhaftig wurden; sie sind diejenigen, die schon faktisch Frieden geschlossen haben. Ihre Hände, frei von Gewehr und Säbel, suchen nach Hammer und Pflug. Die Gefangenenlager sind ein durch die Kriegsflut angeschwemmter Niederschlag, aber sie tragen in sich den Vor¬ geschmack des Friedens und eine rasende Sehnsucht nach dem Frieden. Zu der Fülle der durch den Krieg verursachten Leiden fügen sie ein neues Argument für den Frieden hinzu: den Umfang der durch den Krieg verursachten Taten¬ losigkeit, der Tatenlosigkeit dieser Hunderttausende von Arbeitshänden, die in der Kriegsgefangenschaft gebunden bleiben. Diese Welt der Unfreiheit, die Welt der Kriegsgefangenen, erheischt vor allem Aufmerksamkeit durch ihre imponierender Zahlen. Die Koalition, die empfindliche Opfer an Gefallenen bringen mußte, hat auch erschütternde Heka¬ tomben an Gefangenen lassen müssen. Nach der Statistik, die immer neue Posten zu zählen hat, gibt es in Deutschland über anderthalbhundert Gefan¬ genenlager, von denen jedes mehrere Zehntausende Soldaten zählt. Sie bilden eine eigene, abgeschlossene, in ihre Art besondere millionenköpfige Welt, die, von allen anderen Welten abgeschlossen, Menschenexemplare von allen Punkten der Erde enthält. Und deshalb ist sie so unerschöpflich lehrreich für jeden, der für die menschliche Natur und für die menschlichen Charaktere auch nur ein Quentchen Teilnahme besitzt. Sie erstand vor nicht ganz zwei Jahren, kann jeden Monat der Auflösung verfallen und wird in ihrer mosaikartigen, märchenhaften und wie der Turm zu Babel legendenhaften Architektur nicht wieder aufleben. Nicht nur für den Politiker, fondern auch für den Psychologen und Künstler, für den Ethnographen und Soziologen eine unschätzbare und in ihrer Art einzige Ernte! Das Material, das da heranreift, wird sich mit der Zeit auf den Blättern der Tagebücher, die gewiß in der künftigen Literatur unter der Be¬ zeichnung „Gefangenen-Literatur" eine besondere, reiche Bibliothek bilden werden, zum Gebrauche von Wissenschaft und Kunst eignen. Ehe indes dieses Material für die Wissenschaft reif wird, ehe es sich für die Kunst kristallisiert, wollte ich meinen Landsleuten in einer Skizze und in rohem Zustande ein kleines Bruch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/14>, abgerufen am 22.07.2024.