Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
politische Probleme des Weltkrieges

Kjellen macht den großen Versuch, die Probleme des Weltkrieges nach
vier Gesichtspunkten zu erforschen. Er nennt den ersten den geopolitischen. Dieser
berücksichtigt die großen geographischen Grundbedingungen des Völkerzusammen¬
seins. Der zweite ist der ethnopolitische Gesichtspunkt. Hier wird die große
Abrechnung gehalten zwischen dem Nationalitätenprinzip und der ihm gegen¬
überstehenden Staatsidee. Das Rassenproblem schiebt sich als das größere
und wichtigere über das Nationalitätenproblem; es nimmt in der Darstellung
Kjellens, ich möchte beinahe sagen, den Mittelpunkt ein. Wie Schlußakkorde
reihen sich an das geopolitische und ethnopolitische Problem, die Untersuchungen
über die soziopolitischen Probleme und die Verfassungsgegensätze in den krieg¬
führenden Staaten.

Wir sehen die Protagonisten des Weltkrieges Deutschland, England, Ru߬
land (von Frankreich ist einmal ganz nebenbei, von Italien sast nicht, von
Japan überhaupt nicht die Rede) wie lebende Wesen vor unseren Augen, sehen
ihre körperlichen Bedürfnisse und Leiden, erkennen ihre physiologische Eigenart
und dringen bis zu dem letzten Problem ihrer seelischen Äußerungen vor.

Das Körperliche, das Geopolitische der Staaten führt schließlich zu drei
Hauptfragen: Ausdehnung, Bewegung, innerer Zusammenhalt. Weil jeder der
Protagonisten in einem dieser Punkte einen bedenklichen Mangel hatte, ist nach
Kjellen der Weltkrieg entstanden: Deutschland sehlt es an Ausdehnung.

Rußland fehlt es an Bewegungsfreiheit, an dem Ausweg nach dem Meere.
Es drängt nach Öffnung gerade in dem Punkte, den Deutschland stark erhalten
muß. Der nicht zu überwindende Streitpunkt zwischen den Parteien ist
Konstantinopel.

England endlich sehlt es an Verbindung zwischen Hauptpunkten seines
Reiches, zwischen Kairo und Kap, zwischen Indien und Ägypten. Auf beiden
Wegen ist ihm Deutschland oder dessen politische Zukunftshoffnungen hinderlich.

Diese großen geopolitischen Gegensätze sind zweifellos richtig und treffend
dargestellt. Das Berlin--Bagdadprogramm, das eine Erstarkung der Türkei
und ein Bündnis Deutschlands mit der Türkei zur unbedingten Voraussetzung
hat, ist die Mittelaxe, gegen die sowohl die russischen wie die englischen Pläne
eines Tages stoßen mußten.

Die Nationalitätenfragen, die im Völkerleben, wenn auch nicht die
wichtigste, so doch eine der bedeutendsten Rollen spielen, zeigen uns, nach Kjellen,
zwei große und unüberwindliche Probleme: das serbische und das ukrainische.
Das serbische war unheilbar, nachdem der serbische Ministerpräsident Nowa-
kowitsch 1910 die Losung gegeben hatte: Vom Tinot bis zur Norm und vom
Vardar bis Krain. 12 Millionen Serben, "wovon sieben aus dem Körper
Österreich-Ungarns herausgeschnitten werden mußten", hatten sich in Bewegung
gesetzt, "wie ein modernes Unterseeboot gegenüber einem veralteten Schlachtschiffe".
Die Frage der Ukraine betrachtet Kjellen zunächst von Rußland her. Die
Ku88la irreclenta, die in den Beziehungen zwischen den staatsverräterischen


politische Probleme des Weltkrieges

Kjellen macht den großen Versuch, die Probleme des Weltkrieges nach
vier Gesichtspunkten zu erforschen. Er nennt den ersten den geopolitischen. Dieser
berücksichtigt die großen geographischen Grundbedingungen des Völkerzusammen¬
seins. Der zweite ist der ethnopolitische Gesichtspunkt. Hier wird die große
Abrechnung gehalten zwischen dem Nationalitätenprinzip und der ihm gegen¬
überstehenden Staatsidee. Das Rassenproblem schiebt sich als das größere
und wichtigere über das Nationalitätenproblem; es nimmt in der Darstellung
Kjellens, ich möchte beinahe sagen, den Mittelpunkt ein. Wie Schlußakkorde
reihen sich an das geopolitische und ethnopolitische Problem, die Untersuchungen
über die soziopolitischen Probleme und die Verfassungsgegensätze in den krieg¬
führenden Staaten.

Wir sehen die Protagonisten des Weltkrieges Deutschland, England, Ru߬
land (von Frankreich ist einmal ganz nebenbei, von Italien sast nicht, von
Japan überhaupt nicht die Rede) wie lebende Wesen vor unseren Augen, sehen
ihre körperlichen Bedürfnisse und Leiden, erkennen ihre physiologische Eigenart
und dringen bis zu dem letzten Problem ihrer seelischen Äußerungen vor.

Das Körperliche, das Geopolitische der Staaten führt schließlich zu drei
Hauptfragen: Ausdehnung, Bewegung, innerer Zusammenhalt. Weil jeder der
Protagonisten in einem dieser Punkte einen bedenklichen Mangel hatte, ist nach
Kjellen der Weltkrieg entstanden: Deutschland sehlt es an Ausdehnung.

Rußland fehlt es an Bewegungsfreiheit, an dem Ausweg nach dem Meere.
Es drängt nach Öffnung gerade in dem Punkte, den Deutschland stark erhalten
muß. Der nicht zu überwindende Streitpunkt zwischen den Parteien ist
Konstantinopel.

England endlich sehlt es an Verbindung zwischen Hauptpunkten seines
Reiches, zwischen Kairo und Kap, zwischen Indien und Ägypten. Auf beiden
Wegen ist ihm Deutschland oder dessen politische Zukunftshoffnungen hinderlich.

Diese großen geopolitischen Gegensätze sind zweifellos richtig und treffend
dargestellt. Das Berlin—Bagdadprogramm, das eine Erstarkung der Türkei
und ein Bündnis Deutschlands mit der Türkei zur unbedingten Voraussetzung
hat, ist die Mittelaxe, gegen die sowohl die russischen wie die englischen Pläne
eines Tages stoßen mußten.

Die Nationalitätenfragen, die im Völkerleben, wenn auch nicht die
wichtigste, so doch eine der bedeutendsten Rollen spielen, zeigen uns, nach Kjellen,
zwei große und unüberwindliche Probleme: das serbische und das ukrainische.
Das serbische war unheilbar, nachdem der serbische Ministerpräsident Nowa-
kowitsch 1910 die Losung gegeben hatte: Vom Tinot bis zur Norm und vom
Vardar bis Krain. 12 Millionen Serben, „wovon sieben aus dem Körper
Österreich-Ungarns herausgeschnitten werden mußten", hatten sich in Bewegung
gesetzt, „wie ein modernes Unterseeboot gegenüber einem veralteten Schlachtschiffe".
Die Frage der Ukraine betrachtet Kjellen zunächst von Rußland her. Die
Ku88la irreclenta, die in den Beziehungen zwischen den staatsverräterischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0418" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330518"/>
          <fw type="header" place="top"> politische Probleme des Weltkrieges</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1737"> Kjellen macht den großen Versuch, die Probleme des Weltkrieges nach<lb/>
vier Gesichtspunkten zu erforschen. Er nennt den ersten den geopolitischen. Dieser<lb/>
berücksichtigt die großen geographischen Grundbedingungen des Völkerzusammen¬<lb/>
seins. Der zweite ist der ethnopolitische Gesichtspunkt. Hier wird die große<lb/>
Abrechnung gehalten zwischen dem Nationalitätenprinzip und der ihm gegen¬<lb/>
überstehenden Staatsidee. Das Rassenproblem schiebt sich als das größere<lb/>
und wichtigere über das Nationalitätenproblem; es nimmt in der Darstellung<lb/>
Kjellens, ich möchte beinahe sagen, den Mittelpunkt ein. Wie Schlußakkorde<lb/>
reihen sich an das geopolitische und ethnopolitische Problem, die Untersuchungen<lb/>
über die soziopolitischen Probleme und die Verfassungsgegensätze in den krieg¬<lb/>
führenden Staaten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1738"> Wir sehen die Protagonisten des Weltkrieges Deutschland, England, Ru߬<lb/>
land (von Frankreich ist einmal ganz nebenbei, von Italien sast nicht, von<lb/>
Japan überhaupt nicht die Rede) wie lebende Wesen vor unseren Augen, sehen<lb/>
ihre körperlichen Bedürfnisse und Leiden, erkennen ihre physiologische Eigenart<lb/>
und dringen bis zu dem letzten Problem ihrer seelischen Äußerungen vor.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1739"> Das Körperliche, das Geopolitische der Staaten führt schließlich zu drei<lb/>
Hauptfragen: Ausdehnung, Bewegung, innerer Zusammenhalt. Weil jeder der<lb/>
Protagonisten in einem dieser Punkte einen bedenklichen Mangel hatte, ist nach<lb/>
Kjellen der Weltkrieg entstanden: Deutschland sehlt es an Ausdehnung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1740"> Rußland fehlt es an Bewegungsfreiheit, an dem Ausweg nach dem Meere.<lb/>
Es drängt nach Öffnung gerade in dem Punkte, den Deutschland stark erhalten<lb/>
muß. Der nicht zu überwindende Streitpunkt zwischen den Parteien ist<lb/>
Konstantinopel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1741"> England endlich sehlt es an Verbindung zwischen Hauptpunkten seines<lb/>
Reiches, zwischen Kairo und Kap, zwischen Indien und Ägypten. Auf beiden<lb/>
Wegen ist ihm Deutschland oder dessen politische Zukunftshoffnungen hinderlich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1742"> Diese großen geopolitischen Gegensätze sind zweifellos richtig und treffend<lb/>
dargestellt. Das Berlin&#x2014;Bagdadprogramm, das eine Erstarkung der Türkei<lb/>
und ein Bündnis Deutschlands mit der Türkei zur unbedingten Voraussetzung<lb/>
hat, ist die Mittelaxe, gegen die sowohl die russischen wie die englischen Pläne<lb/>
eines Tages stoßen mußten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1743" next="#ID_1744"> Die Nationalitätenfragen, die im Völkerleben, wenn auch nicht die<lb/>
wichtigste, so doch eine der bedeutendsten Rollen spielen, zeigen uns, nach Kjellen,<lb/>
zwei große und unüberwindliche Probleme: das serbische und das ukrainische.<lb/>
Das serbische war unheilbar, nachdem der serbische Ministerpräsident Nowa-<lb/>
kowitsch 1910 die Losung gegeben hatte: Vom Tinot bis zur Norm und vom<lb/>
Vardar bis Krain. 12 Millionen Serben, &#x201E;wovon sieben aus dem Körper<lb/>
Österreich-Ungarns herausgeschnitten werden mußten", hatten sich in Bewegung<lb/>
gesetzt, &#x201E;wie ein modernes Unterseeboot gegenüber einem veralteten Schlachtschiffe".<lb/>
Die Frage der Ukraine betrachtet Kjellen zunächst von Rußland her. Die<lb/>
Ku88la irreclenta, die in den Beziehungen zwischen den staatsverräterischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0418] politische Probleme des Weltkrieges Kjellen macht den großen Versuch, die Probleme des Weltkrieges nach vier Gesichtspunkten zu erforschen. Er nennt den ersten den geopolitischen. Dieser berücksichtigt die großen geographischen Grundbedingungen des Völkerzusammen¬ seins. Der zweite ist der ethnopolitische Gesichtspunkt. Hier wird die große Abrechnung gehalten zwischen dem Nationalitätenprinzip und der ihm gegen¬ überstehenden Staatsidee. Das Rassenproblem schiebt sich als das größere und wichtigere über das Nationalitätenproblem; es nimmt in der Darstellung Kjellens, ich möchte beinahe sagen, den Mittelpunkt ein. Wie Schlußakkorde reihen sich an das geopolitische und ethnopolitische Problem, die Untersuchungen über die soziopolitischen Probleme und die Verfassungsgegensätze in den krieg¬ führenden Staaten. Wir sehen die Protagonisten des Weltkrieges Deutschland, England, Ru߬ land (von Frankreich ist einmal ganz nebenbei, von Italien sast nicht, von Japan überhaupt nicht die Rede) wie lebende Wesen vor unseren Augen, sehen ihre körperlichen Bedürfnisse und Leiden, erkennen ihre physiologische Eigenart und dringen bis zu dem letzten Problem ihrer seelischen Äußerungen vor. Das Körperliche, das Geopolitische der Staaten führt schließlich zu drei Hauptfragen: Ausdehnung, Bewegung, innerer Zusammenhalt. Weil jeder der Protagonisten in einem dieser Punkte einen bedenklichen Mangel hatte, ist nach Kjellen der Weltkrieg entstanden: Deutschland sehlt es an Ausdehnung. Rußland fehlt es an Bewegungsfreiheit, an dem Ausweg nach dem Meere. Es drängt nach Öffnung gerade in dem Punkte, den Deutschland stark erhalten muß. Der nicht zu überwindende Streitpunkt zwischen den Parteien ist Konstantinopel. England endlich sehlt es an Verbindung zwischen Hauptpunkten seines Reiches, zwischen Kairo und Kap, zwischen Indien und Ägypten. Auf beiden Wegen ist ihm Deutschland oder dessen politische Zukunftshoffnungen hinderlich. Diese großen geopolitischen Gegensätze sind zweifellos richtig und treffend dargestellt. Das Berlin—Bagdadprogramm, das eine Erstarkung der Türkei und ein Bündnis Deutschlands mit der Türkei zur unbedingten Voraussetzung hat, ist die Mittelaxe, gegen die sowohl die russischen wie die englischen Pläne eines Tages stoßen mußten. Die Nationalitätenfragen, die im Völkerleben, wenn auch nicht die wichtigste, so doch eine der bedeutendsten Rollen spielen, zeigen uns, nach Kjellen, zwei große und unüberwindliche Probleme: das serbische und das ukrainische. Das serbische war unheilbar, nachdem der serbische Ministerpräsident Nowa- kowitsch 1910 die Losung gegeben hatte: Vom Tinot bis zur Norm und vom Vardar bis Krain. 12 Millionen Serben, „wovon sieben aus dem Körper Österreich-Ungarns herausgeschnitten werden mußten", hatten sich in Bewegung gesetzt, „wie ein modernes Unterseeboot gegenüber einem veralteten Schlachtschiffe". Die Frage der Ukraine betrachtet Kjellen zunächst von Rußland her. Die Ku88la irreclenta, die in den Beziehungen zwischen den staatsverräterischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/418
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/418>, abgerufen am 22.12.2024.