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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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der ihnen von vornherein einen guten Verdienst sichert, der aber mit der Zeit
immer enger wird und schließlich jede weitere Entwicklung hindert. Das geringe
Wissen, das sie in der Fortbildungsschule erwerben, ist -- weil ihm die Ver¬
knüpfung mit einem festen Berufe fehlt -- bald vergessen. Die Möglichkeit, in
eine dauernde und gehobene Arbeitsstellung zu gelangen, die dem gelernten
Arbeiter offensteht, ist ihnen in der Regel verschlossen. Es ist schon ein Gewinn
für sie, wenn sie im Alter, das oft infolge Unterernährung und vielleicht
auch unregelmäßigen Lebenswandels in den dreißiger Jahren eintritt, als
Wächter, Hausdiener, Pförtner oder Kleinkrämer ein kümmerliches Dasein führen
können. Manche erliegen diesem Schicksal oder geraten auf Abwege; für die
Allgemeinheit aber ist es eine traurige Erscheinung, daß so viele Volksgenossen,
die bei einer geregelten Berufslecire wertvolle Glieder der Gesellschaft sein
könnten, stets auf der untersten Stufe des Wirtschaftslebens bleiben müssen.

In den beteiligten Kreisen sieht man dagegen schon mit Besorgnis auf
den immer fühlbarer werdenden Mangel an Handwerkslehrlingen. Bei Schuh¬
machern, Tischlern, Tapezierer, Friseuren und anderen Berufen beklagt man
dies besonders, und erst der letzte Bericht der Berliner Handwerkskammer hebt
die Gefahren für das Handwerk wieder hervor, die sich aus dem Fehlen des
geeigneten Nachwuchses ergeben. Dagegen darf man nicht die Augen ver¬
schließen, sondern sollte bestrebt sein, jeden schulentlassenen in einen festen
Beruf überzuführen, damit er sich in dem festen Gefüge unseres Wirtschafts¬
lebens eine ersprießliche Stellung erringen kann. Da die meisten der ungelernten
Arbeiter aus Kreisen stammen, die gleichfalls einer beruflichen Erziehung
ermangeln, und die Eltern selten den Schaden übersehen, der dem Jungen und
dem deutschen Volke durch' die Verachtung der Berufslehre zugefügt wird, so wird
man an eine gesetzliche Regelung des ersten Arbeitsverhältnisses denken müssen.

Man wird freilich nicht übersehen dürfen, daß Handel und Industrie für
gewisse Verrichtungen nach Arbeitskräften verlangen, die keine Berufsbildung
haben. In erster Reihe find hier die mittleren Kaufgeschäfte zu nennen, die
sich mit Vorliebe der Jugendlichen als Austräger oder Helfer bedienen. Zwar
sind die Geschäftsinhaber gesetzlich gezwungen, sie eine Fortbildungsschule
besuchen zu lassen; indessen dürfte dieser widerwillig hingenommene Unterricht,
dem jede Beziehung zu der Tätigkeit des Jugendlichen fehlt, kaum viel Erfolg
haben. Das Bedürfnis für eine berufslose Arbeiterschicht wird indessen nicht
abzuleugnen sein, wohl aber die Notwendigkeit, sie durch Jugendliche zu füllen.
Da solche Verrichtungen in der Regel wenig Intelligenz und Geschicklichkeit
erfordern, so können sie -- soweit nicht die großstädtischen Verkehrsanstalten sie
an sich ziehen -- ganz gut von Rentenempfängern, pensionierten Klein¬
beamten und anderen Elementen übernommen werden, die dadurch ihre magere
Rente erhöhen. Man kann auch wie bei vielen landwirtschaftlichen Arbeiten an
fremdsprachliche Kräfte denken; jedenfalls liegt ein dringendes Bedürfnis nach
Beibehaltung einer unmittelbar berufslosen Arbeiterschicht auf dieser Seite nicht vor.


von der Schulpflicht zur Berufspflicht

der ihnen von vornherein einen guten Verdienst sichert, der aber mit der Zeit
immer enger wird und schließlich jede weitere Entwicklung hindert. Das geringe
Wissen, das sie in der Fortbildungsschule erwerben, ist — weil ihm die Ver¬
knüpfung mit einem festen Berufe fehlt — bald vergessen. Die Möglichkeit, in
eine dauernde und gehobene Arbeitsstellung zu gelangen, die dem gelernten
Arbeiter offensteht, ist ihnen in der Regel verschlossen. Es ist schon ein Gewinn
für sie, wenn sie im Alter, das oft infolge Unterernährung und vielleicht
auch unregelmäßigen Lebenswandels in den dreißiger Jahren eintritt, als
Wächter, Hausdiener, Pförtner oder Kleinkrämer ein kümmerliches Dasein führen
können. Manche erliegen diesem Schicksal oder geraten auf Abwege; für die
Allgemeinheit aber ist es eine traurige Erscheinung, daß so viele Volksgenossen,
die bei einer geregelten Berufslecire wertvolle Glieder der Gesellschaft sein
könnten, stets auf der untersten Stufe des Wirtschaftslebens bleiben müssen.

In den beteiligten Kreisen sieht man dagegen schon mit Besorgnis auf
den immer fühlbarer werdenden Mangel an Handwerkslehrlingen. Bei Schuh¬
machern, Tischlern, Tapezierer, Friseuren und anderen Berufen beklagt man
dies besonders, und erst der letzte Bericht der Berliner Handwerkskammer hebt
die Gefahren für das Handwerk wieder hervor, die sich aus dem Fehlen des
geeigneten Nachwuchses ergeben. Dagegen darf man nicht die Augen ver¬
schließen, sondern sollte bestrebt sein, jeden schulentlassenen in einen festen
Beruf überzuführen, damit er sich in dem festen Gefüge unseres Wirtschafts¬
lebens eine ersprießliche Stellung erringen kann. Da die meisten der ungelernten
Arbeiter aus Kreisen stammen, die gleichfalls einer beruflichen Erziehung
ermangeln, und die Eltern selten den Schaden übersehen, der dem Jungen und
dem deutschen Volke durch' die Verachtung der Berufslehre zugefügt wird, so wird
man an eine gesetzliche Regelung des ersten Arbeitsverhältnisses denken müssen.

Man wird freilich nicht übersehen dürfen, daß Handel und Industrie für
gewisse Verrichtungen nach Arbeitskräften verlangen, die keine Berufsbildung
haben. In erster Reihe find hier die mittleren Kaufgeschäfte zu nennen, die
sich mit Vorliebe der Jugendlichen als Austräger oder Helfer bedienen. Zwar
sind die Geschäftsinhaber gesetzlich gezwungen, sie eine Fortbildungsschule
besuchen zu lassen; indessen dürfte dieser widerwillig hingenommene Unterricht,
dem jede Beziehung zu der Tätigkeit des Jugendlichen fehlt, kaum viel Erfolg
haben. Das Bedürfnis für eine berufslose Arbeiterschicht wird indessen nicht
abzuleugnen sein, wohl aber die Notwendigkeit, sie durch Jugendliche zu füllen.
Da solche Verrichtungen in der Regel wenig Intelligenz und Geschicklichkeit
erfordern, so können sie — soweit nicht die großstädtischen Verkehrsanstalten sie
an sich ziehen — ganz gut von Rentenempfängern, pensionierten Klein¬
beamten und anderen Elementen übernommen werden, die dadurch ihre magere
Rente erhöhen. Man kann auch wie bei vielen landwirtschaftlichen Arbeiten an
fremdsprachliche Kräfte denken; jedenfalls liegt ein dringendes Bedürfnis nach
Beibehaltung einer unmittelbar berufslosen Arbeiterschicht auf dieser Seite nicht vor.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/348>, abgerufen am 28.07.2024.