Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Eduard von Hartmanns Vorschläge zur Wahlreform

Abänderung bei, die nicht nur ein Zählen, sondern auch ein Wägen der Stimmen
ermöglichen. Eduard von Hartmann hat dabei die Erfahrung gemacht, "daß
auch in gemäßigt liberalen Kreisen viele denkende Männer dem Grundgedanken
seiner Kritik und Reformgedanken ihre Zustimmung privatim nicht versagen, daß
es ihnen aber gegenüber dem Popanz der öffentlichen Meinung durchaus an
Mut gebricht, um das für richtig Erkannte auch öffentlich zu vertreten." "Das
Kokettieren mit dem demokratisch-nivellierenden Zeitgeist der Wählermassen"
scheint ihm schuld daran zu sein, daß ehrliche Arbeit zur Verbesserung der
gerügten Verhältnisse nicht geleistet worden ist. Die Kritik Hartmanns bezieht
sich auf das deutsche Reichstagswahlrecht. Es bleibt für uns heute natürlich
fraglos, daß eine Änderung unseres Reichstagswahlrechts weder möglich noch
erforderlich ist, und es würde zu weit führen, darauf im einzelnen einzugehen,
besonders nach den Erfahrungen, die wir zu Kriegsbeginn mit der äußersten
Linken gemacht haben. Beziehen wir dagegen die Anregungen und Vorschläge
Eduard von Hartmanns auf das preußische Wahlrecht, so scheint er in der Tat
den Weg gefunden zu haben, der eigenartig und befriedigend ist für alle
einander bisher entgegenwirkenden Strömungen im preußischen Parteileben.
Die üblen Erfahrungen, die man mit dem preußischen Wahlgesetz gemacht hatte,
haben nach Hartmann die geheime direkte Wahl für den Reichstag verursacht.
Wenn das preußische Wahlgesetz die unteren Volksschichten benachteiligt, so
schädigt der Reichstagswahlmodus das Recht der mittleren und oberen Schichten.
Die irrtümliche Hoffnung der Regierung war natürlich gewesen, daß der ver¬
einigte Einfluß der Gutsbesitzer, der Geistlichen, der ländlichen Verwaltungs¬
organe und des städtischen Kapitalismus eine starke mittellose Volksgruppe in
Bann halten, und daß man mit diesem Tropfen demokratischen Öls die Sozial¬
demokratie gegen den fortschrittlichen Liberalismus gewinnen werde. Es steht
nun für Eduard von Hartmann fest, daß die wahre Höhe jeder Organisation
in einem festen Verhältnis steht zur Differenzierung der Glieder und der Un¬
gleichheit ihrer Leistungen, daß also die Gerechtigkeit eine Proportionalität von
politischen Rechten und Leistungen fordert. Deswegen ist ihm das gleiche
Wahlrecht unter allen praktisch möglichen theoretisch das unvernünftigste. Er
führt das weiter aus. indem er das gleiche Wahlrecht als den Sieg der
Unbildung über die. Bildung kennzeichnet und alle Mächte der historischen Er¬
kenntnis sich zu Verbündeten herbeiruft. Seine Vorschläge, die wir mit allem
Nachdruck in die gegenwärtige Debatte über die Verbesserung des preußischen
Wahlrechts werfen, sind folgende: Es ist ein allgemeines, direktes, geheimes
und ungleiches Wahlrecht zu schaffen. Ausgenommen sollen die rechtlich oder
wirtschaftlichen Unmündigen und die nicht im Besitze der bürgerlichen Ehren¬
rechte befindlichen, außerdem noch die Analphabeten und der deutschen Sprache
Unkundigen sein. Die Wahlmündigkeit soll mit der Rechtsmündigkeit zusammen¬
fallen, also auf das einundzwanzigste Lebensjahr festgesetzt bleiben. Da nun
der ältere Mann nicht nur eine reichere Erfahrung und ein reiferes Urteil als


Eduard von Hartmanns Vorschläge zur Wahlreform

Abänderung bei, die nicht nur ein Zählen, sondern auch ein Wägen der Stimmen
ermöglichen. Eduard von Hartmann hat dabei die Erfahrung gemacht, „daß
auch in gemäßigt liberalen Kreisen viele denkende Männer dem Grundgedanken
seiner Kritik und Reformgedanken ihre Zustimmung privatim nicht versagen, daß
es ihnen aber gegenüber dem Popanz der öffentlichen Meinung durchaus an
Mut gebricht, um das für richtig Erkannte auch öffentlich zu vertreten." „Das
Kokettieren mit dem demokratisch-nivellierenden Zeitgeist der Wählermassen"
scheint ihm schuld daran zu sein, daß ehrliche Arbeit zur Verbesserung der
gerügten Verhältnisse nicht geleistet worden ist. Die Kritik Hartmanns bezieht
sich auf das deutsche Reichstagswahlrecht. Es bleibt für uns heute natürlich
fraglos, daß eine Änderung unseres Reichstagswahlrechts weder möglich noch
erforderlich ist, und es würde zu weit führen, darauf im einzelnen einzugehen,
besonders nach den Erfahrungen, die wir zu Kriegsbeginn mit der äußersten
Linken gemacht haben. Beziehen wir dagegen die Anregungen und Vorschläge
Eduard von Hartmanns auf das preußische Wahlrecht, so scheint er in der Tat
den Weg gefunden zu haben, der eigenartig und befriedigend ist für alle
einander bisher entgegenwirkenden Strömungen im preußischen Parteileben.
Die üblen Erfahrungen, die man mit dem preußischen Wahlgesetz gemacht hatte,
haben nach Hartmann die geheime direkte Wahl für den Reichstag verursacht.
Wenn das preußische Wahlgesetz die unteren Volksschichten benachteiligt, so
schädigt der Reichstagswahlmodus das Recht der mittleren und oberen Schichten.
Die irrtümliche Hoffnung der Regierung war natürlich gewesen, daß der ver¬
einigte Einfluß der Gutsbesitzer, der Geistlichen, der ländlichen Verwaltungs¬
organe und des städtischen Kapitalismus eine starke mittellose Volksgruppe in
Bann halten, und daß man mit diesem Tropfen demokratischen Öls die Sozial¬
demokratie gegen den fortschrittlichen Liberalismus gewinnen werde. Es steht
nun für Eduard von Hartmann fest, daß die wahre Höhe jeder Organisation
in einem festen Verhältnis steht zur Differenzierung der Glieder und der Un¬
gleichheit ihrer Leistungen, daß also die Gerechtigkeit eine Proportionalität von
politischen Rechten und Leistungen fordert. Deswegen ist ihm das gleiche
Wahlrecht unter allen praktisch möglichen theoretisch das unvernünftigste. Er
führt das weiter aus. indem er das gleiche Wahlrecht als den Sieg der
Unbildung über die. Bildung kennzeichnet und alle Mächte der historischen Er¬
kenntnis sich zu Verbündeten herbeiruft. Seine Vorschläge, die wir mit allem
Nachdruck in die gegenwärtige Debatte über die Verbesserung des preußischen
Wahlrechts werfen, sind folgende: Es ist ein allgemeines, direktes, geheimes
und ungleiches Wahlrecht zu schaffen. Ausgenommen sollen die rechtlich oder
wirtschaftlichen Unmündigen und die nicht im Besitze der bürgerlichen Ehren¬
rechte befindlichen, außerdem noch die Analphabeten und der deutschen Sprache
Unkundigen sein. Die Wahlmündigkeit soll mit der Rechtsmündigkeit zusammen¬
fallen, also auf das einundzwanzigste Lebensjahr festgesetzt bleiben. Da nun
der ältere Mann nicht nur eine reichere Erfahrung und ein reiferes Urteil als


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0343" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330443"/>
          <fw type="header" place="top"> Eduard von Hartmanns Vorschläge zur Wahlreform</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1486" prev="#ID_1485" next="#ID_1487"> Abänderung bei, die nicht nur ein Zählen, sondern auch ein Wägen der Stimmen<lb/>
ermöglichen. Eduard von Hartmann hat dabei die Erfahrung gemacht, &#x201E;daß<lb/>
auch in gemäßigt liberalen Kreisen viele denkende Männer dem Grundgedanken<lb/>
seiner Kritik und Reformgedanken ihre Zustimmung privatim nicht versagen, daß<lb/>
es ihnen aber gegenüber dem Popanz der öffentlichen Meinung durchaus an<lb/>
Mut gebricht, um das für richtig Erkannte auch öffentlich zu vertreten." &#x201E;Das<lb/>
Kokettieren mit dem demokratisch-nivellierenden Zeitgeist der Wählermassen"<lb/>
scheint ihm schuld daran zu sein, daß ehrliche Arbeit zur Verbesserung der<lb/>
gerügten Verhältnisse nicht geleistet worden ist. Die Kritik Hartmanns bezieht<lb/>
sich auf das deutsche Reichstagswahlrecht. Es bleibt für uns heute natürlich<lb/>
fraglos, daß eine Änderung unseres Reichstagswahlrechts weder möglich noch<lb/>
erforderlich ist, und es würde zu weit führen, darauf im einzelnen einzugehen,<lb/>
besonders nach den Erfahrungen, die wir zu Kriegsbeginn mit der äußersten<lb/>
Linken gemacht haben. Beziehen wir dagegen die Anregungen und Vorschläge<lb/>
Eduard von Hartmanns auf das preußische Wahlrecht, so scheint er in der Tat<lb/>
den Weg gefunden zu haben, der eigenartig und befriedigend ist für alle<lb/>
einander bisher entgegenwirkenden Strömungen im preußischen Parteileben.<lb/>
Die üblen Erfahrungen, die man mit dem preußischen Wahlgesetz gemacht hatte,<lb/>
haben nach Hartmann die geheime direkte Wahl für den Reichstag verursacht.<lb/>
Wenn das preußische Wahlgesetz die unteren Volksschichten benachteiligt, so<lb/>
schädigt der Reichstagswahlmodus das Recht der mittleren und oberen Schichten.<lb/>
Die irrtümliche Hoffnung der Regierung war natürlich gewesen, daß der ver¬<lb/>
einigte Einfluß der Gutsbesitzer, der Geistlichen, der ländlichen Verwaltungs¬<lb/>
organe und des städtischen Kapitalismus eine starke mittellose Volksgruppe in<lb/>
Bann halten, und daß man mit diesem Tropfen demokratischen Öls die Sozial¬<lb/>
demokratie gegen den fortschrittlichen Liberalismus gewinnen werde. Es steht<lb/>
nun für Eduard von Hartmann fest, daß die wahre Höhe jeder Organisation<lb/>
in einem festen Verhältnis steht zur Differenzierung der Glieder und der Un¬<lb/>
gleichheit ihrer Leistungen, daß also die Gerechtigkeit eine Proportionalität von<lb/>
politischen Rechten und Leistungen fordert. Deswegen ist ihm das gleiche<lb/>
Wahlrecht unter allen praktisch möglichen theoretisch das unvernünftigste. Er<lb/>
führt das weiter aus. indem er das gleiche Wahlrecht als den Sieg der<lb/>
Unbildung über die. Bildung kennzeichnet und alle Mächte der historischen Er¬<lb/>
kenntnis sich zu Verbündeten herbeiruft. Seine Vorschläge, die wir mit allem<lb/>
Nachdruck in die gegenwärtige Debatte über die Verbesserung des preußischen<lb/>
Wahlrechts werfen, sind folgende: Es ist ein allgemeines, direktes, geheimes<lb/>
und ungleiches Wahlrecht zu schaffen. Ausgenommen sollen die rechtlich oder<lb/>
wirtschaftlichen Unmündigen und die nicht im Besitze der bürgerlichen Ehren¬<lb/>
rechte befindlichen, außerdem noch die Analphabeten und der deutschen Sprache<lb/>
Unkundigen sein. Die Wahlmündigkeit soll mit der Rechtsmündigkeit zusammen¬<lb/>
fallen, also auf das einundzwanzigste Lebensjahr festgesetzt bleiben. Da nun<lb/>
der ältere Mann nicht nur eine reichere Erfahrung und ein reiferes Urteil als</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0343] Eduard von Hartmanns Vorschläge zur Wahlreform Abänderung bei, die nicht nur ein Zählen, sondern auch ein Wägen der Stimmen ermöglichen. Eduard von Hartmann hat dabei die Erfahrung gemacht, „daß auch in gemäßigt liberalen Kreisen viele denkende Männer dem Grundgedanken seiner Kritik und Reformgedanken ihre Zustimmung privatim nicht versagen, daß es ihnen aber gegenüber dem Popanz der öffentlichen Meinung durchaus an Mut gebricht, um das für richtig Erkannte auch öffentlich zu vertreten." „Das Kokettieren mit dem demokratisch-nivellierenden Zeitgeist der Wählermassen" scheint ihm schuld daran zu sein, daß ehrliche Arbeit zur Verbesserung der gerügten Verhältnisse nicht geleistet worden ist. Die Kritik Hartmanns bezieht sich auf das deutsche Reichstagswahlrecht. Es bleibt für uns heute natürlich fraglos, daß eine Änderung unseres Reichstagswahlrechts weder möglich noch erforderlich ist, und es würde zu weit führen, darauf im einzelnen einzugehen, besonders nach den Erfahrungen, die wir zu Kriegsbeginn mit der äußersten Linken gemacht haben. Beziehen wir dagegen die Anregungen und Vorschläge Eduard von Hartmanns auf das preußische Wahlrecht, so scheint er in der Tat den Weg gefunden zu haben, der eigenartig und befriedigend ist für alle einander bisher entgegenwirkenden Strömungen im preußischen Parteileben. Die üblen Erfahrungen, die man mit dem preußischen Wahlgesetz gemacht hatte, haben nach Hartmann die geheime direkte Wahl für den Reichstag verursacht. Wenn das preußische Wahlgesetz die unteren Volksschichten benachteiligt, so schädigt der Reichstagswahlmodus das Recht der mittleren und oberen Schichten. Die irrtümliche Hoffnung der Regierung war natürlich gewesen, daß der ver¬ einigte Einfluß der Gutsbesitzer, der Geistlichen, der ländlichen Verwaltungs¬ organe und des städtischen Kapitalismus eine starke mittellose Volksgruppe in Bann halten, und daß man mit diesem Tropfen demokratischen Öls die Sozial¬ demokratie gegen den fortschrittlichen Liberalismus gewinnen werde. Es steht nun für Eduard von Hartmann fest, daß die wahre Höhe jeder Organisation in einem festen Verhältnis steht zur Differenzierung der Glieder und der Un¬ gleichheit ihrer Leistungen, daß also die Gerechtigkeit eine Proportionalität von politischen Rechten und Leistungen fordert. Deswegen ist ihm das gleiche Wahlrecht unter allen praktisch möglichen theoretisch das unvernünftigste. Er führt das weiter aus. indem er das gleiche Wahlrecht als den Sieg der Unbildung über die. Bildung kennzeichnet und alle Mächte der historischen Er¬ kenntnis sich zu Verbündeten herbeiruft. Seine Vorschläge, die wir mit allem Nachdruck in die gegenwärtige Debatte über die Verbesserung des preußischen Wahlrechts werfen, sind folgende: Es ist ein allgemeines, direktes, geheimes und ungleiches Wahlrecht zu schaffen. Ausgenommen sollen die rechtlich oder wirtschaftlichen Unmündigen und die nicht im Besitze der bürgerlichen Ehren¬ rechte befindlichen, außerdem noch die Analphabeten und der deutschen Sprache Unkundigen sein. Die Wahlmündigkeit soll mit der Rechtsmündigkeit zusammen¬ fallen, also auf das einundzwanzigste Lebensjahr festgesetzt bleiben. Da nun der ältere Mann nicht nur eine reichere Erfahrung und ein reiferes Urteil als

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/343
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/343>, abgerufen am 27.07.2024.