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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die böhmische Frage

im Zusammenhang damit die Erinnerung an so viele matzlose Ausschreitungen,
die vor keiner beleidigenden Herausforderung, ja vor Mord und Brand nicht
zurückschreckten.

Es wäre aber das Verkehrteste, Forderungen und Herausforderungen
gegenüber sich auf das Altenteil zurückzuziehen und allein von der Pflicht der
Dankbarkeit zu deklamieren. Gewiß haben die Tschechen von den Deutschen,
wie ja im Vorhergehenden ausgeführt wurde, viel gelernt, aber sie haben auch
in dem letzten Jahrhundert Leistungen gezeitigt, auf die sie mit Recht stolz sein
können. Dafür sei, als auf das Faßbarste auf ihre Leistungen in der Literatur
hingewiesen.

Wir übergehen die Zeiten des Mittelalters und das von den Tschechen
besonders gepriesene rudolfinische Zeitalter. -- es ist zwar bei weitem über¬
trieben, wenn man in deutschen polemischen Schriften liest, daß die ersten
achtzehn Jahrhunderte für die tschechische Literatur tot sind, aber die Bahnen, in
denen sie sich in den Zeiten der böhmischen Selbständigkeit bewegte, vor allem
kirchliche und humanistische Bahnen, sind immerhin wenig charakteristisch und
individuell. Das auch politisch wichtige ist eben, daß die tschechische Literatur
eine Schöpfung, und zwar eine bewußte Schöpfung der letzten hundert Jahre ist.

Wenn bei uns die Romantik eine Nationalisierung unserer Literatur hervor¬
rief, hat bei den Tschechen die Versenkung in die Geschichte eine neue Literatur
überhaupt erst wieder erweckt. Das Tschechische wurde damals von Gebildeten
kaum gesprochen, es war fast zur Sprache der Gasse in der allgemeinen Achtung
herabgesunken. Gepflegt wurde es nur bei den Stillen im Lande, die es als
die Sprache der alten hussitischen Andachtsbücher verehrten und die nun berufen
waren, bei der Neugeburt des Tschechentums eine führende Rolle zu spielen.
Einige wenige Männer waren es zuerst, die unter der freudigen Anteilnahme
der Deutschen im Lande und draußen, nicht zuletzt Goethes, die Vergangenheit
studierten, die Sprache reinigten, eine Grammatik zusammenstellten und damit
erst die Vorbedingungen schufen für eine anerkannte, höheren Bedürfnissen
genügende Umgangs- und Schriftsprache. Glänzende und staunenswert viel¬
seitige Talente hat die tschechische Literatur hervorgebracht. Im Epos und in
der Lyrik zeigen sie einen Formenreichtum, der bei dem Fehlen der Tradition
besonders erstaunlich wirkt und sich wohl mit der Entwicklung des deutschen
Schrifttums im achtzehnten Jahrhundert vergleichen läßt. Zu den Klassikern
der Weltliteratur ist Jaroslaw Vrchlicky zu rechnen. Er sei auch deswegen
genannt, weil den Deutschen seine Lyrik in einer überaus formvollendeten Über¬
setzung zugänglich ist. Übersetzer ist der deutschböhmische Dichter Friedrich Adler.
Es erübrigt sich fast zu bemerken, daß alle Dichter mit glühender Liebe an
ihrem Volkstum hingen. Damit ist aber durchaus nicht von vornherein der
Drang zur Selbständigkeit im Sinne der Loslösung von dem österreichischen
Staatengebilde gleichbedeutend. Selbst die Idee des Panslawismus ist ursprünglich
unpolitisch. Sie ist von einem Tschechen, von dem Dichter Johann Kollar,


Die böhmische Frage

im Zusammenhang damit die Erinnerung an so viele matzlose Ausschreitungen,
die vor keiner beleidigenden Herausforderung, ja vor Mord und Brand nicht
zurückschreckten.

Es wäre aber das Verkehrteste, Forderungen und Herausforderungen
gegenüber sich auf das Altenteil zurückzuziehen und allein von der Pflicht der
Dankbarkeit zu deklamieren. Gewiß haben die Tschechen von den Deutschen,
wie ja im Vorhergehenden ausgeführt wurde, viel gelernt, aber sie haben auch
in dem letzten Jahrhundert Leistungen gezeitigt, auf die sie mit Recht stolz sein
können. Dafür sei, als auf das Faßbarste auf ihre Leistungen in der Literatur
hingewiesen.

Wir übergehen die Zeiten des Mittelalters und das von den Tschechen
besonders gepriesene rudolfinische Zeitalter. — es ist zwar bei weitem über¬
trieben, wenn man in deutschen polemischen Schriften liest, daß die ersten
achtzehn Jahrhunderte für die tschechische Literatur tot sind, aber die Bahnen, in
denen sie sich in den Zeiten der böhmischen Selbständigkeit bewegte, vor allem
kirchliche und humanistische Bahnen, sind immerhin wenig charakteristisch und
individuell. Das auch politisch wichtige ist eben, daß die tschechische Literatur
eine Schöpfung, und zwar eine bewußte Schöpfung der letzten hundert Jahre ist.

Wenn bei uns die Romantik eine Nationalisierung unserer Literatur hervor¬
rief, hat bei den Tschechen die Versenkung in die Geschichte eine neue Literatur
überhaupt erst wieder erweckt. Das Tschechische wurde damals von Gebildeten
kaum gesprochen, es war fast zur Sprache der Gasse in der allgemeinen Achtung
herabgesunken. Gepflegt wurde es nur bei den Stillen im Lande, die es als
die Sprache der alten hussitischen Andachtsbücher verehrten und die nun berufen
waren, bei der Neugeburt des Tschechentums eine führende Rolle zu spielen.
Einige wenige Männer waren es zuerst, die unter der freudigen Anteilnahme
der Deutschen im Lande und draußen, nicht zuletzt Goethes, die Vergangenheit
studierten, die Sprache reinigten, eine Grammatik zusammenstellten und damit
erst die Vorbedingungen schufen für eine anerkannte, höheren Bedürfnissen
genügende Umgangs- und Schriftsprache. Glänzende und staunenswert viel¬
seitige Talente hat die tschechische Literatur hervorgebracht. Im Epos und in
der Lyrik zeigen sie einen Formenreichtum, der bei dem Fehlen der Tradition
besonders erstaunlich wirkt und sich wohl mit der Entwicklung des deutschen
Schrifttums im achtzehnten Jahrhundert vergleichen läßt. Zu den Klassikern
der Weltliteratur ist Jaroslaw Vrchlicky zu rechnen. Er sei auch deswegen
genannt, weil den Deutschen seine Lyrik in einer überaus formvollendeten Über¬
setzung zugänglich ist. Übersetzer ist der deutschböhmische Dichter Friedrich Adler.
Es erübrigt sich fast zu bemerken, daß alle Dichter mit glühender Liebe an
ihrem Volkstum hingen. Damit ist aber durchaus nicht von vornherein der
Drang zur Selbständigkeit im Sinne der Loslösung von dem österreichischen
Staatengebilde gleichbedeutend. Selbst die Idee des Panslawismus ist ursprünglich
unpolitisch. Sie ist von einem Tschechen, von dem Dichter Johann Kollar,


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[0315] Die böhmische Frage im Zusammenhang damit die Erinnerung an so viele matzlose Ausschreitungen, die vor keiner beleidigenden Herausforderung, ja vor Mord und Brand nicht zurückschreckten. Es wäre aber das Verkehrteste, Forderungen und Herausforderungen gegenüber sich auf das Altenteil zurückzuziehen und allein von der Pflicht der Dankbarkeit zu deklamieren. Gewiß haben die Tschechen von den Deutschen, wie ja im Vorhergehenden ausgeführt wurde, viel gelernt, aber sie haben auch in dem letzten Jahrhundert Leistungen gezeitigt, auf die sie mit Recht stolz sein können. Dafür sei, als auf das Faßbarste auf ihre Leistungen in der Literatur hingewiesen. Wir übergehen die Zeiten des Mittelalters und das von den Tschechen besonders gepriesene rudolfinische Zeitalter. — es ist zwar bei weitem über¬ trieben, wenn man in deutschen polemischen Schriften liest, daß die ersten achtzehn Jahrhunderte für die tschechische Literatur tot sind, aber die Bahnen, in denen sie sich in den Zeiten der böhmischen Selbständigkeit bewegte, vor allem kirchliche und humanistische Bahnen, sind immerhin wenig charakteristisch und individuell. Das auch politisch wichtige ist eben, daß die tschechische Literatur eine Schöpfung, und zwar eine bewußte Schöpfung der letzten hundert Jahre ist. Wenn bei uns die Romantik eine Nationalisierung unserer Literatur hervor¬ rief, hat bei den Tschechen die Versenkung in die Geschichte eine neue Literatur überhaupt erst wieder erweckt. Das Tschechische wurde damals von Gebildeten kaum gesprochen, es war fast zur Sprache der Gasse in der allgemeinen Achtung herabgesunken. Gepflegt wurde es nur bei den Stillen im Lande, die es als die Sprache der alten hussitischen Andachtsbücher verehrten und die nun berufen waren, bei der Neugeburt des Tschechentums eine führende Rolle zu spielen. Einige wenige Männer waren es zuerst, die unter der freudigen Anteilnahme der Deutschen im Lande und draußen, nicht zuletzt Goethes, die Vergangenheit studierten, die Sprache reinigten, eine Grammatik zusammenstellten und damit erst die Vorbedingungen schufen für eine anerkannte, höheren Bedürfnissen genügende Umgangs- und Schriftsprache. Glänzende und staunenswert viel¬ seitige Talente hat die tschechische Literatur hervorgebracht. Im Epos und in der Lyrik zeigen sie einen Formenreichtum, der bei dem Fehlen der Tradition besonders erstaunlich wirkt und sich wohl mit der Entwicklung des deutschen Schrifttums im achtzehnten Jahrhundert vergleichen läßt. Zu den Klassikern der Weltliteratur ist Jaroslaw Vrchlicky zu rechnen. Er sei auch deswegen genannt, weil den Deutschen seine Lyrik in einer überaus formvollendeten Über¬ setzung zugänglich ist. Übersetzer ist der deutschböhmische Dichter Friedrich Adler. Es erübrigt sich fast zu bemerken, daß alle Dichter mit glühender Liebe an ihrem Volkstum hingen. Damit ist aber durchaus nicht von vornherein der Drang zur Selbständigkeit im Sinne der Loslösung von dem österreichischen Staatengebilde gleichbedeutend. Selbst die Idee des Panslawismus ist ursprünglich unpolitisch. Sie ist von einem Tschechen, von dem Dichter Johann Kollar,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/315>, abgerufen am 28.07.2024.