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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Der Weltkrieg und die Streitbewegung in Europa

im Neuroder Steinkohlenrevier, im Waldenburger Kohlenrevier u. v. a. in.
Überhaupt hat man es bei der Mehrheit der Streikfälle mit sogenannten
wilden Streiks, d. h. Streikbewegungen, die ohne Erlaubnis der in Frage
kommenden Gewerksschaftsorganisationen in Szene gesetzt wurden, zu tun.
Erfreulich ist, daß die überaus große Mehrheit der streitigen Fragen auf
dem Gebiet des Arbeitsverhältnisses durch friedliche Vereinbarungen erledigt
werden konnten.

Gerade wie in Deutschland, so wurde auch in Frankreich gleich bei Kriegs¬
beginn die Parole des allgemeinen Burgfriedens herausgegeben. Selbst die
schärfsten Syndikalisten, wie Vaillant, Guesde, Sembat usw., die noch wenige
Wochen vor Ausbruch des Krieges stürmisch verlangten, die Internationale der
organisierten Arbeiterschaft müsse jeden Krieg mit Insurrektion und Massen¬
streik beantworten, riefen in großen Volksversammlungen die Arbeiter zum
Kampf für die Verteidigung des Vaterlandes auf. Diese Vorgänge spiegeln
sich natürlich in der Arbeiterbewegung Frankreichs wieder. Aber auch der all¬
gemeine Stillstand von Handel und Industrie und die Mobilmachung, die die
Organisationen der Arbeiter sozusagen blutleer gemacht hat, haben die Streit¬
bewegung in Frankreich nicht unbeträchtlich beeinflußt. Nach Mitteilungen des
"LuIIötm ac I'OMce an ^ravml" vom August 1915 fanden in den ersten
neun Kricgsmonaten (1. August 1914 bis zum 30. April 1915) in Frankreich
nur 32 Streiks und 4 Aussperrungen statt. Die meisten Bewegungen ver¬
zeichnet die Textilindustrie, nämlich 12, dann solgen die Lederindustrie mit 7,
das Transportgewerbe mit 6 und die Nahrungs- und Genußmittelindustrien
mit 5 Bewegungen. In der Holz-Bauindustrie und im Handelsgewerbe
fanden keine Bewegungen statt. Über die Zahl der beteiligten Arbeiter liegen
nur über die 18 Konflikte vom Januar bis zum April 1915 Angaben vor;
sie betrug 342. Das Resultat dieser Arbeiterbewegungen war folgendes:
10 waren erfolgreich, 9 teilweise erfolgreich und 16 erfolglos für die Arbeiter.
In der Mehrheit der Streikfülle handelt es sich um Bewegungen im Umfange
von einen bis zu sechs Tagen.

Ganz anders als in den beiden vorgeschilderten Ländern haben sich
die Verhältnisse der Arbeiterbewegung in England gestaltet. Der auch hier
bei Kriegsausbruch proklamierte Burgfrieden ist gar bald den heftigsten
Arbeitskämpfen gewichen. Selbst das Munitionsgesetz vom 2. Juli 1915 hat
hier keine Hemmung in der Streitbewegung herbeiführen können. Nach Mit¬
teilungen der amtlichen "Labour Gazette" vom Februar 1916 fanden im
Jahre 1914 999 und im Jahre 1915 674 Arbeitsstreitigkeiten statt. In
Wirklichkeit ist aber die Zahl der Arbeitskämpfe in England noch viel be¬
trächtlicher. Während in der deutschen Statistik alle Bewegungen, und somit
auch die kleinsten, ergriffen worden sind, erfaßt die englische Streikstatistik nur
die Bewegungen von größerer Bedeutung. Die Arbeitskämpfe des letzten
Jahres (1915) zeigt folgende Aufstellung:


Der Weltkrieg und die Streitbewegung in Europa

im Neuroder Steinkohlenrevier, im Waldenburger Kohlenrevier u. v. a. in.
Überhaupt hat man es bei der Mehrheit der Streikfälle mit sogenannten
wilden Streiks, d. h. Streikbewegungen, die ohne Erlaubnis der in Frage
kommenden Gewerksschaftsorganisationen in Szene gesetzt wurden, zu tun.
Erfreulich ist, daß die überaus große Mehrheit der streitigen Fragen auf
dem Gebiet des Arbeitsverhältnisses durch friedliche Vereinbarungen erledigt
werden konnten.

Gerade wie in Deutschland, so wurde auch in Frankreich gleich bei Kriegs¬
beginn die Parole des allgemeinen Burgfriedens herausgegeben. Selbst die
schärfsten Syndikalisten, wie Vaillant, Guesde, Sembat usw., die noch wenige
Wochen vor Ausbruch des Krieges stürmisch verlangten, die Internationale der
organisierten Arbeiterschaft müsse jeden Krieg mit Insurrektion und Massen¬
streik beantworten, riefen in großen Volksversammlungen die Arbeiter zum
Kampf für die Verteidigung des Vaterlandes auf. Diese Vorgänge spiegeln
sich natürlich in der Arbeiterbewegung Frankreichs wieder. Aber auch der all¬
gemeine Stillstand von Handel und Industrie und die Mobilmachung, die die
Organisationen der Arbeiter sozusagen blutleer gemacht hat, haben die Streit¬
bewegung in Frankreich nicht unbeträchtlich beeinflußt. Nach Mitteilungen des
„LuIIötm ac I'OMce an ^ravml" vom August 1915 fanden in den ersten
neun Kricgsmonaten (1. August 1914 bis zum 30. April 1915) in Frankreich
nur 32 Streiks und 4 Aussperrungen statt. Die meisten Bewegungen ver¬
zeichnet die Textilindustrie, nämlich 12, dann solgen die Lederindustrie mit 7,
das Transportgewerbe mit 6 und die Nahrungs- und Genußmittelindustrien
mit 5 Bewegungen. In der Holz-Bauindustrie und im Handelsgewerbe
fanden keine Bewegungen statt. Über die Zahl der beteiligten Arbeiter liegen
nur über die 18 Konflikte vom Januar bis zum April 1915 Angaben vor;
sie betrug 342. Das Resultat dieser Arbeiterbewegungen war folgendes:
10 waren erfolgreich, 9 teilweise erfolgreich und 16 erfolglos für die Arbeiter.
In der Mehrheit der Streikfülle handelt es sich um Bewegungen im Umfange
von einen bis zu sechs Tagen.

Ganz anders als in den beiden vorgeschilderten Ländern haben sich
die Verhältnisse der Arbeiterbewegung in England gestaltet. Der auch hier
bei Kriegsausbruch proklamierte Burgfrieden ist gar bald den heftigsten
Arbeitskämpfen gewichen. Selbst das Munitionsgesetz vom 2. Juli 1915 hat
hier keine Hemmung in der Streitbewegung herbeiführen können. Nach Mit¬
teilungen der amtlichen „Labour Gazette" vom Februar 1916 fanden im
Jahre 1914 999 und im Jahre 1915 674 Arbeitsstreitigkeiten statt. In
Wirklichkeit ist aber die Zahl der Arbeitskämpfe in England noch viel be¬
trächtlicher. Während in der deutschen Statistik alle Bewegungen, und somit
auch die kleinsten, ergriffen worden sind, erfaßt die englische Streikstatistik nur
die Bewegungen von größerer Bedeutung. Die Arbeitskämpfe des letzten
Jahres (1915) zeigt folgende Aufstellung:


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[0291] Der Weltkrieg und die Streitbewegung in Europa im Neuroder Steinkohlenrevier, im Waldenburger Kohlenrevier u. v. a. in. Überhaupt hat man es bei der Mehrheit der Streikfälle mit sogenannten wilden Streiks, d. h. Streikbewegungen, die ohne Erlaubnis der in Frage kommenden Gewerksschaftsorganisationen in Szene gesetzt wurden, zu tun. Erfreulich ist, daß die überaus große Mehrheit der streitigen Fragen auf dem Gebiet des Arbeitsverhältnisses durch friedliche Vereinbarungen erledigt werden konnten. Gerade wie in Deutschland, so wurde auch in Frankreich gleich bei Kriegs¬ beginn die Parole des allgemeinen Burgfriedens herausgegeben. Selbst die schärfsten Syndikalisten, wie Vaillant, Guesde, Sembat usw., die noch wenige Wochen vor Ausbruch des Krieges stürmisch verlangten, die Internationale der organisierten Arbeiterschaft müsse jeden Krieg mit Insurrektion und Massen¬ streik beantworten, riefen in großen Volksversammlungen die Arbeiter zum Kampf für die Verteidigung des Vaterlandes auf. Diese Vorgänge spiegeln sich natürlich in der Arbeiterbewegung Frankreichs wieder. Aber auch der all¬ gemeine Stillstand von Handel und Industrie und die Mobilmachung, die die Organisationen der Arbeiter sozusagen blutleer gemacht hat, haben die Streit¬ bewegung in Frankreich nicht unbeträchtlich beeinflußt. Nach Mitteilungen des „LuIIötm ac I'OMce an ^ravml" vom August 1915 fanden in den ersten neun Kricgsmonaten (1. August 1914 bis zum 30. April 1915) in Frankreich nur 32 Streiks und 4 Aussperrungen statt. Die meisten Bewegungen ver¬ zeichnet die Textilindustrie, nämlich 12, dann solgen die Lederindustrie mit 7, das Transportgewerbe mit 6 und die Nahrungs- und Genußmittelindustrien mit 5 Bewegungen. In der Holz-Bauindustrie und im Handelsgewerbe fanden keine Bewegungen statt. Über die Zahl der beteiligten Arbeiter liegen nur über die 18 Konflikte vom Januar bis zum April 1915 Angaben vor; sie betrug 342. Das Resultat dieser Arbeiterbewegungen war folgendes: 10 waren erfolgreich, 9 teilweise erfolgreich und 16 erfolglos für die Arbeiter. In der Mehrheit der Streikfülle handelt es sich um Bewegungen im Umfange von einen bis zu sechs Tagen. Ganz anders als in den beiden vorgeschilderten Ländern haben sich die Verhältnisse der Arbeiterbewegung in England gestaltet. Der auch hier bei Kriegsausbruch proklamierte Burgfrieden ist gar bald den heftigsten Arbeitskämpfen gewichen. Selbst das Munitionsgesetz vom 2. Juli 1915 hat hier keine Hemmung in der Streitbewegung herbeiführen können. Nach Mit¬ teilungen der amtlichen „Labour Gazette" vom Februar 1916 fanden im Jahre 1914 999 und im Jahre 1915 674 Arbeitsstreitigkeiten statt. In Wirklichkeit ist aber die Zahl der Arbeitskämpfe in England noch viel be¬ trächtlicher. Während in der deutschen Statistik alle Bewegungen, und somit auch die kleinsten, ergriffen worden sind, erfaßt die englische Streikstatistik nur die Bewegungen von größerer Bedeutung. Die Arbeitskämpfe des letzten Jahres (1915) zeigt folgende Aufstellung:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/291>, abgerufen am 27.07.2024.