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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Auslese der Begabten

besonders große Zahl von Freistellen ermöglicht den Besuch auch den Kindern
der Armen. Die Mittelschule ist, wie der Minister ausführt, auch ganz besonders
geeignet, als Vermittler dazu zu dienen, um hochbegabte Schüler später noch
in eine höhere Schule zu bringen; ja, sie ist geradezu dasür geschaffen, den nll-
mähligen Aufstieg eines Schülers von der Volksschule in die höhere Schule zu
ermöglichen. Dort könnte zum zweiten Male geprüft werden, nachdem der
Schüler aus der Volksschule in die Mittelschule übergegangen ist, ob seine Be¬
gabung auch dazu noch ausreicht, den Anforderungen der höheren Schule genügen
zu können. Wenn das Urteil negativ ausfällt, ist doch noch kein größerer
Schaden angerichtet; der junge Mann kann vielmehr auf der Mittelschule eine
abgeschlossene Bildung erlangen und damit ins Leben treten. Für die prak¬
tischen Berufe ist ja gerade die Mittelschule ihrem Wesen nach bestimmt. Der
letztere Gesichtspunkt kann nicht leicht überschätzt werden. Wenn sich in der
höheren Schule herausstellt, daß man sich in der Begabung des Kindes geirrt
hat, wenn der Knabe deshalb die Unter- oder Mittelklassen erfolglos verlassen
muß, hat er den besten Teil seiner Jugendzeit nahezu vergeudet. Er hat fast
nichts gelernt, was ihm unmittelbar nützt, und ist dabei in eine Umgebung
gekommen, die ihn oft genug unlustig oder untauglich macht für die Ergreifung
eines praktischen Berufes. Die Mittelschule dagegen entläßt ihn mit einer zwar
enger umgrenzten, aber abgeschlossenen Bildung. Sie hat ihm gerade für die
praktischen Lebensberufe vortrefflich geeignete Kenntnisse und Fertigkeiten ver-
mittelt.

Nur eins fehlt der Mittelschule noch heure, das sind die "Berechtigungen".
Man muß endlich grundsätzlich brechen mit dem Vorurteil, daß nur der Besuch
einer Untersekunda den Einjährigenschein im Gefolge haben darf. Die Abschlu߬
prüfung der Mittelschule muß für die Zulassung zu praktischen Berufen der
Untersekunda der höheren Lehranstalten durchaus gleichgewertet werden, ohne
daß man ihre Anforderungen erhöht. Seit einigen Jahren ist auf vielfaches
Drängen hin den Mittelschülern gestattet, die Einjährigenprüfung unmittelbar
nach dem Verlassen der Schule vor der öffentlichen Prüfungskommission zu
machen. Zu dieser Prüfung eignet sich aber der normale Lehrplan der Mittelschule
nicht; denn sie setzt zwei Fremdsprachen voraus. Die Mittelschüler müssen
deshalb fast unter völliger Aufgabe des vortrefflichen Mittelschullehrplanes
vorbereitet werden, und leiden dadurch schweren Schaden, der sich später bei
Ausübung des Berufes zeigt. Und das alles um eines Vorurteiles willen.
Es darf nicht eine zweite Fremdsprache verlangt werden, durch welche die Zeit
verbraucht wird, die für wichtigere Fächer nötig ist. Für die Bedürfnisse des
bürgerlichen Lebens und für die große Menge der mittleren Beamten" und
Angestelltenberufe in Staat, Industrie und Handel reicht die Mittelschulbildung
mit einer Fremdsprache aus; ja, sie ist der Bildung, wie sie die höheren Schulen
bis Untersekunda vermitteln, für diese Zwecke entschieden vorzuziehen. Die
Vorbildung für die Berufe in unserem verzweigten Wirtschaftsleben muß not-


Die Auslese der Begabten

besonders große Zahl von Freistellen ermöglicht den Besuch auch den Kindern
der Armen. Die Mittelschule ist, wie der Minister ausführt, auch ganz besonders
geeignet, als Vermittler dazu zu dienen, um hochbegabte Schüler später noch
in eine höhere Schule zu bringen; ja, sie ist geradezu dasür geschaffen, den nll-
mähligen Aufstieg eines Schülers von der Volksschule in die höhere Schule zu
ermöglichen. Dort könnte zum zweiten Male geprüft werden, nachdem der
Schüler aus der Volksschule in die Mittelschule übergegangen ist, ob seine Be¬
gabung auch dazu noch ausreicht, den Anforderungen der höheren Schule genügen
zu können. Wenn das Urteil negativ ausfällt, ist doch noch kein größerer
Schaden angerichtet; der junge Mann kann vielmehr auf der Mittelschule eine
abgeschlossene Bildung erlangen und damit ins Leben treten. Für die prak¬
tischen Berufe ist ja gerade die Mittelschule ihrem Wesen nach bestimmt. Der
letztere Gesichtspunkt kann nicht leicht überschätzt werden. Wenn sich in der
höheren Schule herausstellt, daß man sich in der Begabung des Kindes geirrt
hat, wenn der Knabe deshalb die Unter- oder Mittelklassen erfolglos verlassen
muß, hat er den besten Teil seiner Jugendzeit nahezu vergeudet. Er hat fast
nichts gelernt, was ihm unmittelbar nützt, und ist dabei in eine Umgebung
gekommen, die ihn oft genug unlustig oder untauglich macht für die Ergreifung
eines praktischen Berufes. Die Mittelschule dagegen entläßt ihn mit einer zwar
enger umgrenzten, aber abgeschlossenen Bildung. Sie hat ihm gerade für die
praktischen Lebensberufe vortrefflich geeignete Kenntnisse und Fertigkeiten ver-
mittelt.

Nur eins fehlt der Mittelschule noch heure, das sind die „Berechtigungen".
Man muß endlich grundsätzlich brechen mit dem Vorurteil, daß nur der Besuch
einer Untersekunda den Einjährigenschein im Gefolge haben darf. Die Abschlu߬
prüfung der Mittelschule muß für die Zulassung zu praktischen Berufen der
Untersekunda der höheren Lehranstalten durchaus gleichgewertet werden, ohne
daß man ihre Anforderungen erhöht. Seit einigen Jahren ist auf vielfaches
Drängen hin den Mittelschülern gestattet, die Einjährigenprüfung unmittelbar
nach dem Verlassen der Schule vor der öffentlichen Prüfungskommission zu
machen. Zu dieser Prüfung eignet sich aber der normale Lehrplan der Mittelschule
nicht; denn sie setzt zwei Fremdsprachen voraus. Die Mittelschüler müssen
deshalb fast unter völliger Aufgabe des vortrefflichen Mittelschullehrplanes
vorbereitet werden, und leiden dadurch schweren Schaden, der sich später bei
Ausübung des Berufes zeigt. Und das alles um eines Vorurteiles willen.
Es darf nicht eine zweite Fremdsprache verlangt werden, durch welche die Zeit
verbraucht wird, die für wichtigere Fächer nötig ist. Für die Bedürfnisse des
bürgerlichen Lebens und für die große Menge der mittleren Beamten» und
Angestelltenberufe in Staat, Industrie und Handel reicht die Mittelschulbildung
mit einer Fremdsprache aus; ja, sie ist der Bildung, wie sie die höheren Schulen
bis Untersekunda vermitteln, für diese Zwecke entschieden vorzuziehen. Die
Vorbildung für die Berufe in unserem verzweigten Wirtschaftsleben muß not-


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[0182] Die Auslese der Begabten besonders große Zahl von Freistellen ermöglicht den Besuch auch den Kindern der Armen. Die Mittelschule ist, wie der Minister ausführt, auch ganz besonders geeignet, als Vermittler dazu zu dienen, um hochbegabte Schüler später noch in eine höhere Schule zu bringen; ja, sie ist geradezu dasür geschaffen, den nll- mähligen Aufstieg eines Schülers von der Volksschule in die höhere Schule zu ermöglichen. Dort könnte zum zweiten Male geprüft werden, nachdem der Schüler aus der Volksschule in die Mittelschule übergegangen ist, ob seine Be¬ gabung auch dazu noch ausreicht, den Anforderungen der höheren Schule genügen zu können. Wenn das Urteil negativ ausfällt, ist doch noch kein größerer Schaden angerichtet; der junge Mann kann vielmehr auf der Mittelschule eine abgeschlossene Bildung erlangen und damit ins Leben treten. Für die prak¬ tischen Berufe ist ja gerade die Mittelschule ihrem Wesen nach bestimmt. Der letztere Gesichtspunkt kann nicht leicht überschätzt werden. Wenn sich in der höheren Schule herausstellt, daß man sich in der Begabung des Kindes geirrt hat, wenn der Knabe deshalb die Unter- oder Mittelklassen erfolglos verlassen muß, hat er den besten Teil seiner Jugendzeit nahezu vergeudet. Er hat fast nichts gelernt, was ihm unmittelbar nützt, und ist dabei in eine Umgebung gekommen, die ihn oft genug unlustig oder untauglich macht für die Ergreifung eines praktischen Berufes. Die Mittelschule dagegen entläßt ihn mit einer zwar enger umgrenzten, aber abgeschlossenen Bildung. Sie hat ihm gerade für die praktischen Lebensberufe vortrefflich geeignete Kenntnisse und Fertigkeiten ver- mittelt. Nur eins fehlt der Mittelschule noch heure, das sind die „Berechtigungen". Man muß endlich grundsätzlich brechen mit dem Vorurteil, daß nur der Besuch einer Untersekunda den Einjährigenschein im Gefolge haben darf. Die Abschlu߬ prüfung der Mittelschule muß für die Zulassung zu praktischen Berufen der Untersekunda der höheren Lehranstalten durchaus gleichgewertet werden, ohne daß man ihre Anforderungen erhöht. Seit einigen Jahren ist auf vielfaches Drängen hin den Mittelschülern gestattet, die Einjährigenprüfung unmittelbar nach dem Verlassen der Schule vor der öffentlichen Prüfungskommission zu machen. Zu dieser Prüfung eignet sich aber der normale Lehrplan der Mittelschule nicht; denn sie setzt zwei Fremdsprachen voraus. Die Mittelschüler müssen deshalb fast unter völliger Aufgabe des vortrefflichen Mittelschullehrplanes vorbereitet werden, und leiden dadurch schweren Schaden, der sich später bei Ausübung des Berufes zeigt. Und das alles um eines Vorurteiles willen. Es darf nicht eine zweite Fremdsprache verlangt werden, durch welche die Zeit verbraucht wird, die für wichtigere Fächer nötig ist. Für die Bedürfnisse des bürgerlichen Lebens und für die große Menge der mittleren Beamten» und Angestelltenberufe in Staat, Industrie und Handel reicht die Mittelschulbildung mit einer Fremdsprache aus; ja, sie ist der Bildung, wie sie die höheren Schulen bis Untersekunda vermitteln, für diese Zwecke entschieden vorzuziehen. Die Vorbildung für die Berufe in unserem verzweigten Wirtschaftsleben muß not-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/182>, abgerufen am 01.09.2024.