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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Die Auslese der Begabten

Volksschichten in den mittleren Stellungen unseres sich immer mehr aus¬
dehnenden und verwickelten modernen Wirtschaftslebens wurde immer fühlbarer,
und man entschloß sich im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts, zwischen
die Volksschule und die höheren Lehranstalten eine neue Schulgattung ein¬
zufügen, die in Preußen den Namen Mittelschule erhielt. Die Mittelschulen
sollten an Stelle der alten Realschulen treten. Sie würden ihre Aufgabe auch'
erfüllt haben, wenn nicht von vornherein die Versagung angemessener Be¬
rechtigungen auch ihnen wieder die Entwicklungsmöglichkeit unterbunden hätte.
Trotz der bösen Erfahrungen hatte man das alte Vorurteil nicht zu beseitigen
vermocht. Man hielt an der Regel fest, daß der Einjährigenschein an den
Besuch der Mittelklassen einer höheren Schule gebunden war. Dadurch wurde
die gesellschaftliche Bewertung der Mittelschulbildung in den Augen des Publi¬
kums amtlich hinter die tatsächlich nicht wertvollere, weil nach keiner Hinsicht
abgeschlossene, Bildung eines Untersekundaners herabgedrückt. Die Folgen
blieben für beide Schulgattungen nicht aus. Die Mittelschule entartete, be¬
sonders in den großen Städten, auf ihrer Unterstufe zur Vorschule für die
höheren Lehranstalten. Ihre Mittelstufe wurde die Ablagerungsstätte der aus
den Unterklassen der höheren Schulen abgestoßenen Unfähigen, die den Rest
ihrer schulpflichtigen Zeit nicht unter Volksschülern absitzen mochten. In ihrer
Oberstufe endlich sammelte man da, wo diese überhaupt noch eingerichtet wurde,
die kümmerlichen Reste der Kinder, die noch Zeit hatten, ein Schuljahr über die
Schulpflicht hinaus zu opfern und dieses Opfer auch ohne das Äquivalent einer
angemessenen Berechtigung zu bringen bereit waren.

Am schwersten hatten aber die höheren Schulen zu leiden. Auf sie entlud
sich mit dem zunehmenden Wohlstande ein Strom von Schülern, die zum größten
Teile ihrer geistigen Verfassung nach nicht auf höhere Schulen gehörten. Den
meisten liegt auch nichts an der Erreichung des Schulzieles. Ihnen kommt es
nur auf den rein äußerlichen Erwerb des Einjährigenscheins an, für dessen
Gewinnung sie in Ermangelung intellektuellen Einsatzes auch das Opfer einiger
Lebensjahre bringen. Nach den Erfahrungen der letzten 25 Jahre werden
denn auch mehr als der dritte Teil aller Schüler, die in höhere Schulen ein¬
treten, bis zum Ende ihres schulpflichtigen Lebensalters als Unfähige schon
aus den Unter- und Mittelklassen ohne Resultat wieder abgestoßen, kaum die
Hälfte verläßt diese Schulen mit dem Einjährigenscheine und vom Reste macht
nur ein Bruchteil die Reifeprüfung. Die Mehrzahl aller dieser Schüler vergeudet
also ihre Jugendzeit, weil sie gezwungen ist, Schulen zu besuchen, die für sie
ungeeignet sind. Diese Jugend tritt mit mangelhafter Schulbildung ins Be¬
rufsleben und muß sich mit der Hoffnung abfinden, daß die Schule des Lebens
ergänzt, was ihnen eine verfehlte Schulbildung nicht mitgeben konnte. Die
höhere Schule aber wird durch den Ballast der für sie ungeeigneten Schüler in
ihrer Leistungsfähigkeit aufs höchste beeinträchtigt, und ihre guten Schüler tragen
den Schaden am schwersten.


Die Auslese der Begabten

Volksschichten in den mittleren Stellungen unseres sich immer mehr aus¬
dehnenden und verwickelten modernen Wirtschaftslebens wurde immer fühlbarer,
und man entschloß sich im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts, zwischen
die Volksschule und die höheren Lehranstalten eine neue Schulgattung ein¬
zufügen, die in Preußen den Namen Mittelschule erhielt. Die Mittelschulen
sollten an Stelle der alten Realschulen treten. Sie würden ihre Aufgabe auch'
erfüllt haben, wenn nicht von vornherein die Versagung angemessener Be¬
rechtigungen auch ihnen wieder die Entwicklungsmöglichkeit unterbunden hätte.
Trotz der bösen Erfahrungen hatte man das alte Vorurteil nicht zu beseitigen
vermocht. Man hielt an der Regel fest, daß der Einjährigenschein an den
Besuch der Mittelklassen einer höheren Schule gebunden war. Dadurch wurde
die gesellschaftliche Bewertung der Mittelschulbildung in den Augen des Publi¬
kums amtlich hinter die tatsächlich nicht wertvollere, weil nach keiner Hinsicht
abgeschlossene, Bildung eines Untersekundaners herabgedrückt. Die Folgen
blieben für beide Schulgattungen nicht aus. Die Mittelschule entartete, be¬
sonders in den großen Städten, auf ihrer Unterstufe zur Vorschule für die
höheren Lehranstalten. Ihre Mittelstufe wurde die Ablagerungsstätte der aus
den Unterklassen der höheren Schulen abgestoßenen Unfähigen, die den Rest
ihrer schulpflichtigen Zeit nicht unter Volksschülern absitzen mochten. In ihrer
Oberstufe endlich sammelte man da, wo diese überhaupt noch eingerichtet wurde,
die kümmerlichen Reste der Kinder, die noch Zeit hatten, ein Schuljahr über die
Schulpflicht hinaus zu opfern und dieses Opfer auch ohne das Äquivalent einer
angemessenen Berechtigung zu bringen bereit waren.

Am schwersten hatten aber die höheren Schulen zu leiden. Auf sie entlud
sich mit dem zunehmenden Wohlstande ein Strom von Schülern, die zum größten
Teile ihrer geistigen Verfassung nach nicht auf höhere Schulen gehörten. Den
meisten liegt auch nichts an der Erreichung des Schulzieles. Ihnen kommt es
nur auf den rein äußerlichen Erwerb des Einjährigenscheins an, für dessen
Gewinnung sie in Ermangelung intellektuellen Einsatzes auch das Opfer einiger
Lebensjahre bringen. Nach den Erfahrungen der letzten 25 Jahre werden
denn auch mehr als der dritte Teil aller Schüler, die in höhere Schulen ein¬
treten, bis zum Ende ihres schulpflichtigen Lebensalters als Unfähige schon
aus den Unter- und Mittelklassen ohne Resultat wieder abgestoßen, kaum die
Hälfte verläßt diese Schulen mit dem Einjährigenscheine und vom Reste macht
nur ein Bruchteil die Reifeprüfung. Die Mehrzahl aller dieser Schüler vergeudet
also ihre Jugendzeit, weil sie gezwungen ist, Schulen zu besuchen, die für sie
ungeeignet sind. Diese Jugend tritt mit mangelhafter Schulbildung ins Be¬
rufsleben und muß sich mit der Hoffnung abfinden, daß die Schule des Lebens
ergänzt, was ihnen eine verfehlte Schulbildung nicht mitgeben konnte. Die
höhere Schule aber wird durch den Ballast der für sie ungeeigneten Schüler in
ihrer Leistungsfähigkeit aufs höchste beeinträchtigt, und ihre guten Schüler tragen
den Schaden am schwersten.


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[0179] Die Auslese der Begabten Volksschichten in den mittleren Stellungen unseres sich immer mehr aus¬ dehnenden und verwickelten modernen Wirtschaftslebens wurde immer fühlbarer, und man entschloß sich im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts, zwischen die Volksschule und die höheren Lehranstalten eine neue Schulgattung ein¬ zufügen, die in Preußen den Namen Mittelschule erhielt. Die Mittelschulen sollten an Stelle der alten Realschulen treten. Sie würden ihre Aufgabe auch' erfüllt haben, wenn nicht von vornherein die Versagung angemessener Be¬ rechtigungen auch ihnen wieder die Entwicklungsmöglichkeit unterbunden hätte. Trotz der bösen Erfahrungen hatte man das alte Vorurteil nicht zu beseitigen vermocht. Man hielt an der Regel fest, daß der Einjährigenschein an den Besuch der Mittelklassen einer höheren Schule gebunden war. Dadurch wurde die gesellschaftliche Bewertung der Mittelschulbildung in den Augen des Publi¬ kums amtlich hinter die tatsächlich nicht wertvollere, weil nach keiner Hinsicht abgeschlossene, Bildung eines Untersekundaners herabgedrückt. Die Folgen blieben für beide Schulgattungen nicht aus. Die Mittelschule entartete, be¬ sonders in den großen Städten, auf ihrer Unterstufe zur Vorschule für die höheren Lehranstalten. Ihre Mittelstufe wurde die Ablagerungsstätte der aus den Unterklassen der höheren Schulen abgestoßenen Unfähigen, die den Rest ihrer schulpflichtigen Zeit nicht unter Volksschülern absitzen mochten. In ihrer Oberstufe endlich sammelte man da, wo diese überhaupt noch eingerichtet wurde, die kümmerlichen Reste der Kinder, die noch Zeit hatten, ein Schuljahr über die Schulpflicht hinaus zu opfern und dieses Opfer auch ohne das Äquivalent einer angemessenen Berechtigung zu bringen bereit waren. Am schwersten hatten aber die höheren Schulen zu leiden. Auf sie entlud sich mit dem zunehmenden Wohlstande ein Strom von Schülern, die zum größten Teile ihrer geistigen Verfassung nach nicht auf höhere Schulen gehörten. Den meisten liegt auch nichts an der Erreichung des Schulzieles. Ihnen kommt es nur auf den rein äußerlichen Erwerb des Einjährigenscheins an, für dessen Gewinnung sie in Ermangelung intellektuellen Einsatzes auch das Opfer einiger Lebensjahre bringen. Nach den Erfahrungen der letzten 25 Jahre werden denn auch mehr als der dritte Teil aller Schüler, die in höhere Schulen ein¬ treten, bis zum Ende ihres schulpflichtigen Lebensalters als Unfähige schon aus den Unter- und Mittelklassen ohne Resultat wieder abgestoßen, kaum die Hälfte verläßt diese Schulen mit dem Einjährigenscheine und vom Reste macht nur ein Bruchteil die Reifeprüfung. Die Mehrzahl aller dieser Schüler vergeudet also ihre Jugendzeit, weil sie gezwungen ist, Schulen zu besuchen, die für sie ungeeignet sind. Diese Jugend tritt mit mangelhafter Schulbildung ins Be¬ rufsleben und muß sich mit der Hoffnung abfinden, daß die Schule des Lebens ergänzt, was ihnen eine verfehlte Schulbildung nicht mitgeben konnte. Die höhere Schule aber wird durch den Ballast der für sie ungeeigneten Schüler in ihrer Leistungsfähigkeit aufs höchste beeinträchtigt, und ihre guten Schüler tragen den Schaden am schwersten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/179>, abgerufen am 28.07.2024.