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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr.

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Lie Reichsgrmidung

Dann wird man dem oft beackerten Stoff ganz ungeahnte neue Seiten und
Erkenntnisse abgewinnen, zu denen Brandenburg bei aller seiner hervorragenden
Sachkenntnis und Gediegenheit des Urteils doch noch nicht gelangt ist.

Die Geschichtsschreibung muß sich von der Vorstellung frei machen, als ob
die kleindeutsche Nationalentwicklung die einzige gewesen wäre, die das deutsche
Volk überhaupt hätte einschlagen können, ohne geradezu unterzugehen. Im
19. Jahrhundert gab es noch manche andere Möglichkeit, in die wir uns heute
schwer hineindenken können, die aber zu ihrer Zeit mindestens gleichberechtigt
erschien. Das ganze uns heute so selbstverständliche lebendige Nationalgefühl
war vor hundert Jahren noch keineswegs Gemeingut des deutschen Volkes,
und selbst in den führenden gebildeten Schichten, wo es zweifellos vorhanden
war, trug es außerordentlich blasse Züge. Wir dürfen unsere neudeutschen
Wertbegriffe nicht bei unseren Urgroßvätern voraussetzen. Brandenburg betont
denn auch mit Recht mehrfach, daß es außerordentlich problematisch ist, ob
breite Volkskreise dem nationalen und dem liberalen Gedanken oder wenig¬
stens einem von beiden wirklich gewonnen waren. Es ist recht wahrscheinlich,
daß selbst 1848 das breite Volk hauptsächlich Erleichterung wirtschaftlichen und
persönlichen Drucks erhofft hat, und daß ihm Verfassung und Einheit ver¬
hältnismäßig recht gleichgültig waren. Ja sogar unmittelbar vor 1870 war
die Stimmung weiter Volkskreise erstaunlich wenig national und liberal trotz
des Nationalvereins. Nur wenn eine unmittelbare Kriegsgefahr heraufzog,
wie im Juli 1870 und schon vorher vielleicht 1840, da entbrannte der
elementare Volkszorn. Es war mehr das beleidigte deutsche Rechtsgefühl
gegen die Anmaßungen des Nachbars als eigentliches Nationalbewußtsein.
Wer den August 1914 miterlebt hat, wird ja wissen, was ich meine. Auch
diesen gegenwärtigen Krieg führt das eigentliche Volk mit anderen nationalen Wert¬
begriffen als die Männer, die in den Zeitungen schreiben. Wer selber mit
draußen in den Schützengräben unter dem Volke gelebt hat, der wird, wenn
er einiges ethische Feingefühl hat, davon einen tiefen Eindruck behalten.

Nur wer sich eine richtige Vorstellung vom deutschen Nationalgefühl und
seinem Umfange vor hundert Jahren macht, wird begreifen können, wie als
Ergebnis der Freiheitskriege der Deutsche Bund zustande kommen konnte. Eine
bloße Versicherung sür den augenblicklichen Besitzstand gegen äußere und innere
Gefahren, wie der Bund war, genügte eben damals allen maßgebenden Faktoren.
Das sagt auch Brandenburg. Daß der Bund entwicklungsunfähig und als
solcher militärisch ohnmächtic war, das war sein schlimmster Fehler. Denn dem
Einheitsgedanken gehörte nun einmal eine größere Zukunft, als seine damalige
Gegenwart ahnen ließ.

An Möglichkeiten fortschreitender Einigung zählt Brandenburg folgende auf:
Triaspläne, österreichische Hegemonie, preußische Hegemonie. Die Triaspläne
tut er kurz ab. Von der österreichischen Hegemonie sagt er. sie wäre nicht
möglich gewesen, ohne Preußen zu zertrümmern, da eine Ausschaltung Preußens


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Dann wird man dem oft beackerten Stoff ganz ungeahnte neue Seiten und
Erkenntnisse abgewinnen, zu denen Brandenburg bei aller seiner hervorragenden
Sachkenntnis und Gediegenheit des Urteils doch noch nicht gelangt ist.

Die Geschichtsschreibung muß sich von der Vorstellung frei machen, als ob
die kleindeutsche Nationalentwicklung die einzige gewesen wäre, die das deutsche
Volk überhaupt hätte einschlagen können, ohne geradezu unterzugehen. Im
19. Jahrhundert gab es noch manche andere Möglichkeit, in die wir uns heute
schwer hineindenken können, die aber zu ihrer Zeit mindestens gleichberechtigt
erschien. Das ganze uns heute so selbstverständliche lebendige Nationalgefühl
war vor hundert Jahren noch keineswegs Gemeingut des deutschen Volkes,
und selbst in den führenden gebildeten Schichten, wo es zweifellos vorhanden
war, trug es außerordentlich blasse Züge. Wir dürfen unsere neudeutschen
Wertbegriffe nicht bei unseren Urgroßvätern voraussetzen. Brandenburg betont
denn auch mit Recht mehrfach, daß es außerordentlich problematisch ist, ob
breite Volkskreise dem nationalen und dem liberalen Gedanken oder wenig¬
stens einem von beiden wirklich gewonnen waren. Es ist recht wahrscheinlich,
daß selbst 1848 das breite Volk hauptsächlich Erleichterung wirtschaftlichen und
persönlichen Drucks erhofft hat, und daß ihm Verfassung und Einheit ver¬
hältnismäßig recht gleichgültig waren. Ja sogar unmittelbar vor 1870 war
die Stimmung weiter Volkskreise erstaunlich wenig national und liberal trotz
des Nationalvereins. Nur wenn eine unmittelbare Kriegsgefahr heraufzog,
wie im Juli 1870 und schon vorher vielleicht 1840, da entbrannte der
elementare Volkszorn. Es war mehr das beleidigte deutsche Rechtsgefühl
gegen die Anmaßungen des Nachbars als eigentliches Nationalbewußtsein.
Wer den August 1914 miterlebt hat, wird ja wissen, was ich meine. Auch
diesen gegenwärtigen Krieg führt das eigentliche Volk mit anderen nationalen Wert¬
begriffen als die Männer, die in den Zeitungen schreiben. Wer selber mit
draußen in den Schützengräben unter dem Volke gelebt hat, der wird, wenn
er einiges ethische Feingefühl hat, davon einen tiefen Eindruck behalten.

Nur wer sich eine richtige Vorstellung vom deutschen Nationalgefühl und
seinem Umfange vor hundert Jahren macht, wird begreifen können, wie als
Ergebnis der Freiheitskriege der Deutsche Bund zustande kommen konnte. Eine
bloße Versicherung sür den augenblicklichen Besitzstand gegen äußere und innere
Gefahren, wie der Bund war, genügte eben damals allen maßgebenden Faktoren.
Das sagt auch Brandenburg. Daß der Bund entwicklungsunfähig und als
solcher militärisch ohnmächtic war, das war sein schlimmster Fehler. Denn dem
Einheitsgedanken gehörte nun einmal eine größere Zukunft, als seine damalige
Gegenwart ahnen ließ.

An Möglichkeiten fortschreitender Einigung zählt Brandenburg folgende auf:
Triaspläne, österreichische Hegemonie, preußische Hegemonie. Die Triaspläne
tut er kurz ab. Von der österreichischen Hegemonie sagt er. sie wäre nicht
möglich gewesen, ohne Preußen zu zertrümmern, da eine Ausschaltung Preußens


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330101/113>, abgerufen am 29.07.2024.