Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland Vollendung verbunden werden. Doch mag man nicht übersehen, daß die auf Wenn nach dem Wellkriege die einzelnen Staaten und Kulturkreise sich Gibt es überhaupt eine einheitliche schweizerische Kultur? Kann man die ") Roman Boos, Der europäische Krieg und unser schweizer Krieg S. 40.
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland Vollendung verbunden werden. Doch mag man nicht übersehen, daß die auf Wenn nach dem Wellkriege die einzelnen Staaten und Kulturkreise sich Gibt es überhaupt eine einheitliche schweizerische Kultur? Kann man die ") Roman Boos, Der europäische Krieg und unser schweizer Krieg S. 40.
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0053" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329719"/> <fw type="header" place="top"> Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland</fw><lb/> <p xml:id="ID_113" prev="#ID_112"> Vollendung verbunden werden. Doch mag man nicht übersehen, daß die auf<lb/> Calvins Reformation sich stützenden Kantone Genf, Waadt. Wallis, Neuenburg<lb/> einen recht anderen Charakter zeigen als das durch Austreibung der Hugenotten<lb/> ärmer gewordene Frankreich. Es wird sich fragen, ob die Kulturgemeinschaft zwischen<lb/> germanischem und romanischem Wesen in der Schweiz eine Weltbedeutung gewinnen<lb/> kann. Jeder Staat, der innerhalb der Völkergemeinschaft Existenzberechtigung haben<lb/> will, muß sich irgend eine Weltbedeutung zuschreiben. Aus diesem Gefühl<lb/> heraus hat die Schweiz den Gedanken der Versöhnung der Kulturen, des fried¬<lb/> lichen Ausgleichs der streitenden Parteien, schließlich das Ideal des Weltfriedens<lb/> auf ihre Fahnen geschrieben, ja eigentlich schreiben müssen, um ihre Bedeutung<lb/> als notwendiges Glied der Völkergemeinschaft zu beweisen.</p><lb/> <p xml:id="ID_114"> Wenn nach dem Wellkriege die einzelnen Staaten und Kulturkreise sich<lb/> mehr gegeneinander abschließen, an ihren Grenzen bleibende Schützengräben<lb/> aufwerfen und auch geistig lieber Schützengräben aufwerfen als Brücken bauen,<lb/> so wird die Schweiz diese Bestrebungen nicht mitmachen. Sie wird ihre Hotels<lb/> jedem öffnen, internationale Kongresse werden vielleicht eher in ihr als anderswo<lb/> möglich sein. Aber man wird ihren Einfluß nicht überschätzen dürfen. Sie<lb/> vermag die Kulturen nicht zu versöhnen. Nur wenn direkte Fäden hinüber<lb/> und herüber gesponnen werden, wird etwa auf Schweizer Boden ein bequemer<lb/> Treffpunkt sein, wie denn der Weltfriede möglicherweise in Bern geschlossen<lb/> werden könnte.</p><lb/> <p xml:id="ID_115" next="#ID_116"> Gibt es überhaupt eine einheitliche schweizerische Kultur? Kann man die<lb/> Schweizer eine ^„Nation" nennen? Diese Fragen sind in den letzten Jahren<lb/> besonders viel in der Schweiz erwogen worden, am häufigsten in der Schweizer<lb/> Zeitschrift „Wissen und Leben", Zürich, Verlag von Rascher. Man wird ant¬<lb/> worten müssen, daß „Ansätze zu einer gemein-schweizerischen Kultur" vorhanden<lb/> sind.*) Aber eine geschlossene Einheitskultur ist in einem drei- oder viersprachigen<lb/> Lande nicht möglich. Die Geschichte hat die 22 Kantone zusammengeführt.<lb/> Sie halten trotz der Verschiedenheit der Sprachen und der Konfessionen zu¬<lb/> sammen. Aber das Zusammenhaltende ist der politische Wille. ^ Erst aus ihm<lb/> ergibt sich die Kulturaufgabe, die vorhandenen sprachlichen und nationalen<lb/> Verschiedenheiten zur gegenseitigen Bereicherung zu gebrauchen, sie nicht zu<lb/> Gegensätzen auswachsen zu lassen. Aber gerade die besten Deutschschweizer<lb/> betonen heute so energisch wie je, daß ihre eigne Kultur ohne Verbindung mit<lb/> den Nachbarländern verdorren müßte. Sie weisen mit Stolz darauf hin, daß<lb/> sie gute, echte Germanen seien, ja daß ihre demokratischen Einrichtungen durch¬<lb/> aus auf echtgermanischem Boden gewachsen seien. Es sind auch vorwiegend<lb/> Deutschschweizer, welche uns versichern, eine wie große Bereicherung ihres<lb/> Wesens sie durch Verarbeitung deutscher und französischer Kultureinflüsse er¬<lb/> fahren haben. So erzählt z. B. der Basler Literaturhistoriker Professor Albert</p><lb/> <note xml:id="FID_11" place="foot"> ") Roman Boos, Der europäische Krieg und unser schweizer Krieg S. 40.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0053]
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland
Vollendung verbunden werden. Doch mag man nicht übersehen, daß die auf
Calvins Reformation sich stützenden Kantone Genf, Waadt. Wallis, Neuenburg
einen recht anderen Charakter zeigen als das durch Austreibung der Hugenotten
ärmer gewordene Frankreich. Es wird sich fragen, ob die Kulturgemeinschaft zwischen
germanischem und romanischem Wesen in der Schweiz eine Weltbedeutung gewinnen
kann. Jeder Staat, der innerhalb der Völkergemeinschaft Existenzberechtigung haben
will, muß sich irgend eine Weltbedeutung zuschreiben. Aus diesem Gefühl
heraus hat die Schweiz den Gedanken der Versöhnung der Kulturen, des fried¬
lichen Ausgleichs der streitenden Parteien, schließlich das Ideal des Weltfriedens
auf ihre Fahnen geschrieben, ja eigentlich schreiben müssen, um ihre Bedeutung
als notwendiges Glied der Völkergemeinschaft zu beweisen.
Wenn nach dem Wellkriege die einzelnen Staaten und Kulturkreise sich
mehr gegeneinander abschließen, an ihren Grenzen bleibende Schützengräben
aufwerfen und auch geistig lieber Schützengräben aufwerfen als Brücken bauen,
so wird die Schweiz diese Bestrebungen nicht mitmachen. Sie wird ihre Hotels
jedem öffnen, internationale Kongresse werden vielleicht eher in ihr als anderswo
möglich sein. Aber man wird ihren Einfluß nicht überschätzen dürfen. Sie
vermag die Kulturen nicht zu versöhnen. Nur wenn direkte Fäden hinüber
und herüber gesponnen werden, wird etwa auf Schweizer Boden ein bequemer
Treffpunkt sein, wie denn der Weltfriede möglicherweise in Bern geschlossen
werden könnte.
Gibt es überhaupt eine einheitliche schweizerische Kultur? Kann man die
Schweizer eine ^„Nation" nennen? Diese Fragen sind in den letzten Jahren
besonders viel in der Schweiz erwogen worden, am häufigsten in der Schweizer
Zeitschrift „Wissen und Leben", Zürich, Verlag von Rascher. Man wird ant¬
worten müssen, daß „Ansätze zu einer gemein-schweizerischen Kultur" vorhanden
sind.*) Aber eine geschlossene Einheitskultur ist in einem drei- oder viersprachigen
Lande nicht möglich. Die Geschichte hat die 22 Kantone zusammengeführt.
Sie halten trotz der Verschiedenheit der Sprachen und der Konfessionen zu¬
sammen. Aber das Zusammenhaltende ist der politische Wille. ^ Erst aus ihm
ergibt sich die Kulturaufgabe, die vorhandenen sprachlichen und nationalen
Verschiedenheiten zur gegenseitigen Bereicherung zu gebrauchen, sie nicht zu
Gegensätzen auswachsen zu lassen. Aber gerade die besten Deutschschweizer
betonen heute so energisch wie je, daß ihre eigne Kultur ohne Verbindung mit
den Nachbarländern verdorren müßte. Sie weisen mit Stolz darauf hin, daß
sie gute, echte Germanen seien, ja daß ihre demokratischen Einrichtungen durch¬
aus auf echtgermanischem Boden gewachsen seien. Es sind auch vorwiegend
Deutschschweizer, welche uns versichern, eine wie große Bereicherung ihres
Wesens sie durch Verarbeitung deutscher und französischer Kultureinflüsse er¬
fahren haben. So erzählt z. B. der Basler Literaturhistoriker Professor Albert
") Roman Boos, Der europäische Krieg und unser schweizer Krieg S. 40.
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