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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Volksmärchen der Bulgaren

wissen wir alle, daß wir es mit einem nahen Verwandten des griechischen
Polyphem zu tun haben, zumal auch das bulgarische Gespenst einäugig ist.
Und an christliche Legenden, wie die vom "Bruder Rausch", erinnert die
Geschichte von einem Teufel, der als Diakonus seinen Bischof zum Heiraten
beschwatzen will. Ein Bäuerlein belauscht des nachts die Teufel, die sich ihre
Schandtaten erzählen und warnt am andern Tage den Bischof vor seinem
getreuesten Diakonus, der doch nicht während der Messe in der Kirche bleiben
kann. Alle diese literarischen Beziehungen, auf die hier nur ganz kurz hin¬
gewiesen werden kann, werden dem Leser des Leskienschen Bandes durch ganz
kurze Anmerkungen vor Augen geführt, in denen einer der tüchtigsten Märchen¬
kenner, August von Löwis of Menar, die bedeutendsten einschlägigen Werke von
Köhler, Volte, Polivka, Aarne und anderen heranzieht. Damit sind dem Forscher
die Wege gewiesen und der weiteren Lesewelt wenigstens gezeigt, ob es sich
um eine allgemein verbreitete oder um eine auf Bulgarien ganz oder doch nahezu
beschränkte Geschichte handelt.

Das bulgarisch-völkische aber lehren uns die sachlichen Anmerkungen ver¬
stehen, die Leskien selbst hinzugefügt hat; sie wollen uns vor allem mit den
dämonischen Wesen vertraut machen, die helfend und dräuend in den Märchen
erscheinen. Gerade die Märchen von Lamien, von hundsköpfigen Drachen mit
Krallen an den Füßen und von andern Ungetümen, weisen oft Züge auf, die
sich in der Erzählungsliteratur der Nachbarvölker nicht belegen lassen. Nur sehr
entfernte Ähnlichkeit mit unserm "treuen Johannes" hat etwa jener Neger, der
einen jungen Zarensohn vor schweren Gefahren beschützt (Ur. 2); der Neger ist
eigentlich ein Toter, dem der Prinz ein ehrliches Begräbnis verschafft hat, der
dann in der Fremde für ihn eine Lamia erschlägt, seinem Schützling zur Ehe
mit einer Zarentochter verhilft und dann in das Schlafgemach eindringt, um
den Bräutigam vor dem dunkeln Schicksal seiner Vorgänger zu bewahren. Er
sieht, wie sich des Nachts dem Munde der schlafenden Braut eine Schlange ent¬
windet, schlägt dem Ungetüm den Kopf ab und veranlaßt nachher den Prinzen,
seine Frau mit dem Tode zu bedrohen. In ihrer Angst gibt sie den Rest der
Schlange von sich, das junge Paar ist gerettet und zieht davon mit dem Golde,
das der Neger einst von der Lamia erbeutet hatte. Wie die Lamia. so erinnert
an griechische Sagengebilde der Vampir, der die Mädchen in seine unterirdische
Höhle schleppt, aus der gar manche Ausgänge an die Oberfläche führen; zwei
Schwestern hat dieser bulgarische Blaubart schon ums Leben gebracht, da gelingt
es der dritten, ihm zu entkommen und nach weiteren Schwierigkeiten doch ihr
Glück an der Seite eines Prinzen zu finden. Ganz besonders bezeichnend aber
für die Phantasie des bulgarischen Volkes sind die Samodiven oder Samovilen,
die auch den Serben als Vitem bekannt sind. Den griechischen Nymphen gleich
bewohnen sie Wälder und Seen, erweisen sich nach ethischer Art bald hilfreich,
bald neckisch, bald furchtbar als Träger von Seuchen, wie denn die slavischen
Völker so gern von gespenstischen Seuchendämonen in menschlicher Gestalt


Volksmärchen der Bulgaren

wissen wir alle, daß wir es mit einem nahen Verwandten des griechischen
Polyphem zu tun haben, zumal auch das bulgarische Gespenst einäugig ist.
Und an christliche Legenden, wie die vom „Bruder Rausch", erinnert die
Geschichte von einem Teufel, der als Diakonus seinen Bischof zum Heiraten
beschwatzen will. Ein Bäuerlein belauscht des nachts die Teufel, die sich ihre
Schandtaten erzählen und warnt am andern Tage den Bischof vor seinem
getreuesten Diakonus, der doch nicht während der Messe in der Kirche bleiben
kann. Alle diese literarischen Beziehungen, auf die hier nur ganz kurz hin¬
gewiesen werden kann, werden dem Leser des Leskienschen Bandes durch ganz
kurze Anmerkungen vor Augen geführt, in denen einer der tüchtigsten Märchen¬
kenner, August von Löwis of Menar, die bedeutendsten einschlägigen Werke von
Köhler, Volte, Polivka, Aarne und anderen heranzieht. Damit sind dem Forscher
die Wege gewiesen und der weiteren Lesewelt wenigstens gezeigt, ob es sich
um eine allgemein verbreitete oder um eine auf Bulgarien ganz oder doch nahezu
beschränkte Geschichte handelt.

Das bulgarisch-völkische aber lehren uns die sachlichen Anmerkungen ver¬
stehen, die Leskien selbst hinzugefügt hat; sie wollen uns vor allem mit den
dämonischen Wesen vertraut machen, die helfend und dräuend in den Märchen
erscheinen. Gerade die Märchen von Lamien, von hundsköpfigen Drachen mit
Krallen an den Füßen und von andern Ungetümen, weisen oft Züge auf, die
sich in der Erzählungsliteratur der Nachbarvölker nicht belegen lassen. Nur sehr
entfernte Ähnlichkeit mit unserm „treuen Johannes" hat etwa jener Neger, der
einen jungen Zarensohn vor schweren Gefahren beschützt (Ur. 2); der Neger ist
eigentlich ein Toter, dem der Prinz ein ehrliches Begräbnis verschafft hat, der
dann in der Fremde für ihn eine Lamia erschlägt, seinem Schützling zur Ehe
mit einer Zarentochter verhilft und dann in das Schlafgemach eindringt, um
den Bräutigam vor dem dunkeln Schicksal seiner Vorgänger zu bewahren. Er
sieht, wie sich des Nachts dem Munde der schlafenden Braut eine Schlange ent¬
windet, schlägt dem Ungetüm den Kopf ab und veranlaßt nachher den Prinzen,
seine Frau mit dem Tode zu bedrohen. In ihrer Angst gibt sie den Rest der
Schlange von sich, das junge Paar ist gerettet und zieht davon mit dem Golde,
das der Neger einst von der Lamia erbeutet hatte. Wie die Lamia. so erinnert
an griechische Sagengebilde der Vampir, der die Mädchen in seine unterirdische
Höhle schleppt, aus der gar manche Ausgänge an die Oberfläche führen; zwei
Schwestern hat dieser bulgarische Blaubart schon ums Leben gebracht, da gelingt
es der dritten, ihm zu entkommen und nach weiteren Schwierigkeiten doch ihr
Glück an der Seite eines Prinzen zu finden. Ganz besonders bezeichnend aber
für die Phantasie des bulgarischen Volkes sind die Samodiven oder Samovilen,
die auch den Serben als Vitem bekannt sind. Den griechischen Nymphen gleich
bewohnen sie Wälder und Seen, erweisen sich nach ethischer Art bald hilfreich,
bald neckisch, bald furchtbar als Träger von Seuchen, wie denn die slavischen
Völker so gern von gespenstischen Seuchendämonen in menschlicher Gestalt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/42>, abgerufen am 15.01.2025.