Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.vom Mordrecht der Obrigkeit der Betrachtende habe Gewissen, trifft sie alle, denn sie alle, geistliche wie welt¬ Macchiavell, Sekretär der Republik Florenz und ihr Bevollmächtigter am Ihm und seiner Zeit erschien es unbegreiflich, daß nicht der frei ist, der vom Mordrecht der Obrigkeit der Betrachtende habe Gewissen, trifft sie alle, denn sie alle, geistliche wie welt¬ Macchiavell, Sekretär der Republik Florenz und ihr Bevollmächtigter am Ihm und seiner Zeit erschien es unbegreiflich, daß nicht der frei ist, der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0417" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330085"/> <fw type="header" place="top"> vom Mordrecht der Obrigkeit</fw><lb/> <p xml:id="ID_1424" prev="#ID_1423"> der Betrachtende habe Gewissen, trifft sie alle, denn sie alle, geistliche wie welt¬<lb/> liche Vergewaltiger dessen, was Ordnung, Sitte und Gesetz vorgeschrieben, hielten<lb/> es für ihr gutes Recht, als Herrschende zu handeln, wie es ihnen beliebte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1425"> Macchiavell, Sekretär der Republik Florenz und ihr Bevollmächtigter am<lb/> Hofe des Cesare Borgia, hat die Ansichten seiner Zeit, deren echtes Kind er<lb/> war, in seinen Büchern niedergelegt, Ansichten freilich, die dem Leser ein Grauen<lb/> über den Rücken jagen. Da sagt er unter anderem: wenn der Mensch den<lb/> Pfad der Tugend verlassen hat, so muß er, wenn er nicht untergehen will, sich<lb/> endgültig für den anderen Weg entscheiden und ihn bis ans Ende verfolgen.<lb/> Die Menschen rächen nur kleine und mittelmäßige Verbrechen, die großen nehmen<lb/> ihnen die Möglichkeit zur Rache. Daher darf ein Fürst an seinen Untertanen<lb/> nur große Verbrechen begehen. Es gibt zwei Wege, ein Ziel zu erreichen: den<lb/> der Gesetzlichkeit und den der Gewalt, der eine ist menschlich, der andere ist<lb/> tierisch. Ein Mensch, der herrschen will, muß sich in beiden Wegen auskennen,<lb/> muß es verstehen, bald Mensch, bald Tier zu sein. Die Menschen können die<lb/> völlige Freiheit nicht ertragen und fürchten sie mehr als den Tod. Sie wählen<lb/> meist den gefährlichen Mittelweg zwischen Gut und Böse und stürzen unter der<lb/> Last ihrer Gewissensbisse zusammen, sobald sie ein großes Verbrechen begehen.<lb/> Nur wer sich vom Schicksal erwählt fühlt, zu herrschen, kann das Gesetz ohne<lb/> Furcht verachten und doch mitten im Bösen unschuldig sein wie ein Tier —<lb/> oder ein Gott usw.</p><lb/> <p xml:id="ID_1426" next="#ID_1427"> Ihm und seiner Zeit erschien es unbegreiflich, daß nicht der frei ist, der<lb/> alles wagt, weil er nichts weiß und nichts liebt als sich selbst, sondern daß,<lb/> wie Leonardo da Vinci, sein Zeitgenosse, es ausdrückte: „die wahre Freiheit<lb/> geboren wird aus der großen Liebe, und wiederum die große Liebe aus der<lb/> großen Erkenntnis". Cesare Borgia, der „Virtuose des Verbrechens", Ludwig<lb/> der Elfte von Frankreich und Francesco Sforza, das find so die Tvrannen-<lb/> figuren, an denen Macchiavelli die Studien zu einem „Prinzipe" und seinen<lb/> „Discorst" machte, und die durch die Praxis das Bestehen einer Theorie der<lb/> Mordbefugnis zu beweisen scheinen. Für ihr politisches Tun galt kein Moral¬<lb/> gesetz und wunderbarerweise stimmte ihnen die öffentliche Meinung hierin bei.<lb/> Lüge und Verleumdung waren beliebte und bewunderte Mittel, die neben List,<lb/> Betrug und Gewalt sogar in kirchenpolitischen Denkschriften jener Zeit empfohlen<lb/> werden, sobald das lästige Gesetz mit dem Wohl von Kirche oder Staat in<lb/> Widerspruch steht. Auch unter den Humanisten findet sich einer, Pontalto, der<lb/> das Gesetz der utilitas dem der Kore8tas vorgezogen sehen will, doch zieht er<lb/> aus dieser Trennung von Moral und Politik noch nicht die letzte Folgerung<lb/> des erlaubten Mordes. Das blieb Macchiavelli vorbehalten: „Wo man über¬<lb/> haupt über das Wohl des Vaterlandes beratschlagt, da hat man nicht auf<lb/> Recht oder Unrecht, auf Mitleid oder Grausamkeit, auf Lob oder Schande zu<lb/> sehen. Alles muß beiseite gesetzt und nur der Schluß ergriffen werden, der<lb/> den Staat errettet und die Freiheit erhält. Selbst das Seelenheil muß dem</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0417]
vom Mordrecht der Obrigkeit
der Betrachtende habe Gewissen, trifft sie alle, denn sie alle, geistliche wie welt¬
liche Vergewaltiger dessen, was Ordnung, Sitte und Gesetz vorgeschrieben, hielten
es für ihr gutes Recht, als Herrschende zu handeln, wie es ihnen beliebte.
Macchiavell, Sekretär der Republik Florenz und ihr Bevollmächtigter am
Hofe des Cesare Borgia, hat die Ansichten seiner Zeit, deren echtes Kind er
war, in seinen Büchern niedergelegt, Ansichten freilich, die dem Leser ein Grauen
über den Rücken jagen. Da sagt er unter anderem: wenn der Mensch den
Pfad der Tugend verlassen hat, so muß er, wenn er nicht untergehen will, sich
endgültig für den anderen Weg entscheiden und ihn bis ans Ende verfolgen.
Die Menschen rächen nur kleine und mittelmäßige Verbrechen, die großen nehmen
ihnen die Möglichkeit zur Rache. Daher darf ein Fürst an seinen Untertanen
nur große Verbrechen begehen. Es gibt zwei Wege, ein Ziel zu erreichen: den
der Gesetzlichkeit und den der Gewalt, der eine ist menschlich, der andere ist
tierisch. Ein Mensch, der herrschen will, muß sich in beiden Wegen auskennen,
muß es verstehen, bald Mensch, bald Tier zu sein. Die Menschen können die
völlige Freiheit nicht ertragen und fürchten sie mehr als den Tod. Sie wählen
meist den gefährlichen Mittelweg zwischen Gut und Böse und stürzen unter der
Last ihrer Gewissensbisse zusammen, sobald sie ein großes Verbrechen begehen.
Nur wer sich vom Schicksal erwählt fühlt, zu herrschen, kann das Gesetz ohne
Furcht verachten und doch mitten im Bösen unschuldig sein wie ein Tier —
oder ein Gott usw.
Ihm und seiner Zeit erschien es unbegreiflich, daß nicht der frei ist, der
alles wagt, weil er nichts weiß und nichts liebt als sich selbst, sondern daß,
wie Leonardo da Vinci, sein Zeitgenosse, es ausdrückte: „die wahre Freiheit
geboren wird aus der großen Liebe, und wiederum die große Liebe aus der
großen Erkenntnis". Cesare Borgia, der „Virtuose des Verbrechens", Ludwig
der Elfte von Frankreich und Francesco Sforza, das find so die Tvrannen-
figuren, an denen Macchiavelli die Studien zu einem „Prinzipe" und seinen
„Discorst" machte, und die durch die Praxis das Bestehen einer Theorie der
Mordbefugnis zu beweisen scheinen. Für ihr politisches Tun galt kein Moral¬
gesetz und wunderbarerweise stimmte ihnen die öffentliche Meinung hierin bei.
Lüge und Verleumdung waren beliebte und bewunderte Mittel, die neben List,
Betrug und Gewalt sogar in kirchenpolitischen Denkschriften jener Zeit empfohlen
werden, sobald das lästige Gesetz mit dem Wohl von Kirche oder Staat in
Widerspruch steht. Auch unter den Humanisten findet sich einer, Pontalto, der
das Gesetz der utilitas dem der Kore8tas vorgezogen sehen will, doch zieht er
aus dieser Trennung von Moral und Politik noch nicht die letzte Folgerung
des erlaubten Mordes. Das blieb Macchiavelli vorbehalten: „Wo man über¬
haupt über das Wohl des Vaterlandes beratschlagt, da hat man nicht auf
Recht oder Unrecht, auf Mitleid oder Grausamkeit, auf Lob oder Schande zu
sehen. Alles muß beiseite gesetzt und nur der Schluß ergriffen werden, der
den Staat errettet und die Freiheit erhält. Selbst das Seelenheil muß dem
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